Freitag, 15. Mai 2020

Suhrkamps Romane des Jahrhunderts (18): Peter Weiss - Die Ästhetik des Widerstands.




Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands. st 2777

Es gehört zu den Rätseln der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur mit gewissen tragischen Zügen, dass Peter Weiss (1916-1982), der mit Theaterstücken wie „Die Ermittlung“ und „Marat“ die Bühne äußerst erfolgreich revolutioniert hat, dessen Prosaband „Abschied von den Eltern“ zur Schullektüre wurde und der sich gesellschaftlich stark engagierte, im Bewusstsein der Öffentlichkeit anders als seine Zeitgenossen Martin Walser, Günter Grass oder Siegfried Lenz, über einen kleinen Kreis hinaus nicht vorhanden ist. Dies gilt – leider – nicht minder für sein großes Romanprojekt, das in drei Teilbänden 1975, 1979 und kurz vor seinem Tod 1981 erschien: Die Ästhetik des Widerstands. Wer sich von dem zwar etwas spröden, doch zugleich ebenso treffenden wie faszinierenden Titel oder gar dem Umfang von fast exakt 1200 Seiten abschrecken lässt, begeht einen enormen Fehler – die Leser*innen der Ästhetik des Widerstands mögen nur ein kleiner Kreis sein, für sie aber wurde der Roman das, was heute mit dem inflationären Begriff „Kultbuch“ belegt wird. Wenn die Schüler sie fragen würden, ob ein Buch einen Menschen wirklich zum Handeln bringen könne, würde sie all die Bücher aufzählen, die es fertiggebracht hatten, in einem Menschen den Drang nach Handlung zu wecken (1156), eine Hoffnung, die Weiss sicher auch mit seinem Buch verband.
Wie in seinen Theaterstücken auch, leicht macht Weiss den Leser*innen den Zugang nicht. Zwar bedient er sich einer realistischen Erzähltechnik, doch ist der Text absatzlos fortlaufend, nur hin und wieder tritt ein erkennbarer Abschnitt ein, die Dialoge sind äußerlich nicht unterscheidbar von den Beschreibungen. Auch inhaltlich scheint Weiss sofort hohe Hürden aufzubauen, indem er mit einer Diskussion über Kunst und sogenannter Ekphrasis beginnt, detailreicher Beschreibung eines Kunstwerks – natürlich ist dies programmatisch, der Titel muss, in diesem Falle auf dem vorderen Teil betont, immer als Leitmotiv im Gedächtnis bleiben. Trockene Gelehrtenprosa ist Weiss’ Sache gleichwohl nicht, er setzt sofort sein Hauptanliegen in Sprache um, indem er die Auseinandersetzung und Betrachtung um den Pergamon-Fries in Berlin drei junge Arbeiter führen lässt – drei kommunistisch geprägte Männer um die Zwanzig (11), die 1936 aus dem antiken Kunstwerk Rückschlüsse ziehen wollen auf ihre Aufgabe: den Widerstand gegen Nationalsozialismus. Wer dies für eine absurde Verbindung hält, dem wird Weiss vorführen, wie falsch er mit solchem Schnellschluss liegt, wie kurz gedacht solch ein Abtun ist – und er wird es mehrfach, an zahlreichen Kunstwerken, die eben für ihn eine Ästhetik des Widerstandes verkörpern, manchmal mal als der dahinterstehende Künstler, von neuem belegen. Es gehört zu seiner grundlegenden Motivation, die Kunst und Literatur als vermeintlich Elitäres, nur dem Gebildeten, dem Akademiker Zugänglichen aus dieser oft bewusst errichteten Nische herauszuführen, sie der Allgemeinheit zurückzugeben und gegen Vorurteile auch von Seiten der arbeitenden Schichten zu verteidigen – deshalb hat es, wie erwähnt, etwas geradezu Tragisches, dass Weiss selbst, wie man eingestehen muss, es nicht geschafft hat, selbst eine breitere Wirkung zu entfalten.
Einmal hatten wir uns wütend davon losgesagt, dass die Lektüre eines Buchs, der Besuch einer Kunstgalerie, eines Konzertsaals, eines Theaters für uns mit zusätzlichem Schweiß und Kopfzerbrechen verbunden wäre. Inzwischen gehörten die Versuche, der Sprachlosigkeit zu entkommen, zu den Funktionen unsres Daseins, was wir dabei fanden, waren erste Artikulierungen, es waren Grundmuster, von denen aus das Verstummen überwunden und die Schritte in einen kulturellen Bereich vermessen werden konnten (67), durch die Schwere der Arbeit und des Alltags wollen sie sich nicht mehr durch die Eliten – und deren überlegene Möglichkeiten – vom eigenständigen Denken abhalten lassen, sie argumentieren gegen das Klischee vom sinnlosen Beschäftigen mit der Kunst, Kultur wird ihnen zur schwer erkämpften Erkenntnismöglichkeit gegen das Elitäre – um es zu entlarven. Und dies gerade in Zeiten der Bedrohung: Selbst wenn unsere Gespräche dann alltäglich schienen oder sich zu sammeln begannen, immer waren sie beschwert durch die Nähe einer tödlichen Gefahr (33). Gesucht wird das Widerständige auch in scheinbar längst auserklärten, dem Bildungsbürger vertrauten, ihn beruhigenden Klassikern wie dem erwähnten Pergamonfries, dem „Floß der Medusa“ von Géricault oder, einem Leitmotiv des Romans, der Figur des Herakles. Während die Aristokraten ihre Denker zu immer größeren Anstrengungen trieben, um sich die fernen Taten des Herakles zu ihrem Vorteil ausmalen zu lassen, sprachen die Eigentumslosen von ihm als dem ihren (29) – das hohe Reflexionsniveau des Buches, das skeptische Hinterfragen der eigenen Erkenntnisse und Entwicklung, wiederum ein Hauptkennzeichen des Werkes, zeigt sich auch unter anderem daran, dass diese Positionen nicht festgeschrieben werden; steckt unter der Erzählung über Herakles wirklich die Geschichte eines Aufbegehrens oder ist dieser nur ein Inspirator des Kolonialismus (391), ein Ehrgeizling, der den Göttern und Kaufleuten gar zu pass kam, die ihn schließlich aufnahmen beziehungsweise zu ihrem Schutzherrn erkoren? Gestaltet und geschult werden die Fragen aber nicht nur in der Betrachtung vergangener Kunstwerke, sondern – im zweiten Band – auch bei der aktiven Verfertigung, beispielhaft bei der Entstehung eines Stückes von Brecht.
Ein Stück, das nie vollendet werden wird. Weiss lässt keinen Zweifel daran, wie notwendig die Ästhetik des Widerstands ist, dass sie eine Sinngebung für das geistig integere Überleben darstellt – doch ebenso wenig Zweifel lässt er daran, wie ambivalent dieses Vorhaben ist, wie undurchschaubar, teils hoffnungslos und in der Mehrheit der Fälle zum Scheitern verurteilt. Eine genaue Lektüre allein der allerersten Seite des Romans, Beginn der Beschreibung des Pergamonfrieses, offenbart eine Fülle an Wendungen der Verletzbarkeit, des Gebrochenen und Besiegten: zu Fragmenten zersprengt, Torso, geborstnen Hüfte, verschorften Brocken, hier und da ausgelöscht, ein zerschundnes Gesicht, mit klaffenden Rissen, leer starrenden Augen, nah seinem verwitterndem Ende, mürbe Bruchstücke, raue Stümpfe, zu rohem Oval gespaltener Kopf, zerstückelten Hände, im stumpfen Fels ertrinkenden Flügel (alle 9). Dies ist programmatisch. Selbst die drei zugrundeliegenden historischen Ereignisse der jeweiligen Bände spiegeln diese – vermeintliche – Vergeblichkeit wider: die Niederlage gegen den Faschismus im Spanischen Bürgerkrieg, die ständige Bedrohung mit Ausweisung im schwedischen Exil und der Abschluss des Hitler-Stalin-Paktes sowie die Entdeckung der Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“ und die folgende Hinrichtung ihrer Mitglieder – deren Beschreibung uns Weiss in seiner akribischen Manier nicht erspart, ein unglaublich eindringliches Stück Literatur. Zwar Endet der Roman mit der Niederlage der Nazis, wirft aber den Blick voraus auf den Kalten Krieg, billigen Trost spendet er nicht.
Ebenso wenig wie einfache Erklärungen und Denkmuster. Der Einsatz im Spanischen Bürgerkrieg wird nicht geprägt von den äußeren Kämpfen, sondern von den Querelen innerhalb der Internationalen Brigaden. Diese ziehen sich durch den gesamten Text, liegt doch die Schwäche des Widerstandes nicht nur in der geringen Anzahl der Mutigen, sondern auch in deren Uneinigkeit, geprägt durch die Vorgaben aus Moskau, das dem Protagonisten statt Orientierung nur Verwirrung verheißt. Die Stalinschen Säuberungen, die Sabotage der Volksfrontbestrebungen, die Anbiederung an den Hitlerstaat durch den Nichtangriffspakt 1939, die ständige Denunziation verdienter Genossen, deren Verschwinden, Selbstmord oder offenkundige Ermordung, ein Klima der Unfreiheit selbst im kleinen Kreis, Misstrauen musste dem begegnen, dessen Ansichten nicht mit dem bestimmten Muster übereinstimmten (277). So wie Weiss für eine Ästhetik des Widerstandes schreibt, so schreibt er auch gegen die Umdeutung, das Kaschieren und Klittern, was wir festhalten wollten, war bereits von einem dichten Gewebe lügenhafter Geschichtsschreibung umhüllt, die Vorgänge standen im Begriff, zwischen Mythen unterzugehen, und es galt dies für beide Seiten, die unsre und die des Gegners (636). Dem setzt Weiss sein eigenes, subjektives, aber um Objektivität bemühtes dichtes Gewebe entgegen, das uns das Negative nicht erspart, sondern dieses in das Projekt, am Widerstand festzuhalten, mit integriert, denn eines hat immer zu gelten: Allen war die Fähigkeit gegeben nachzudenken (419).


Vorgänger (Teil 17): Max Frisch - Homo Faber.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen