Colum
McCann: Der Himmel unter der Stadt.
Ein
Unfall verändert das Leben des jungen Arbeiters Nathan Walker. Beim Bau des
Tunnels unter dem East River zwischen Brooklyn und Manhattan werden er und
einige seiner Kameraden durch einen Einbruch über den Fluss nach außen
geschleudert. Walker überlebt zwar und geht weiter gerne seiner gefährlichen
Tätigkeit nach, doch indem er sich um die Witwe und die Tochter eines getöteten
irischen Kollegen kümmert und in letztere verliebt, hat der Unfall doch massive
Auswirkungen auf seine Zukunft. Fortan verfolgen wir seinen Werdegang und den
seiner Familie, ausgesetzt dem Rassenhass gegenüber einer Mischehe, den Walker
ist Afro-Amerikaner. Während er die für ihn längst gewohnten Demütigungen scheinbar
stoisch erträgt, haben sie für seine Frau, aber auch seinen Sohn beträchtliche
Auswirkungen, dieser stirbt, von der Polizei erschossen, nachdem er den Mann
getötet hat, der seine Mutter überfahren hatte. Zurück bleiben seine schwangere
Frau, die dem Alkohol und Drogen verfällt, das bald geborene Kind und der
untröstliche Walker. Kontrastiert wird diese Geschichte mit Kapiteln aus der
Gegenwart, berichtend von den zeitgenössischen Tunnelbewohnern. Obdachlose
haben sich im – noch genutzten – Eisenbahntunnel eingerichtet, aus der Sicht
von Treefrog, einem der Nichtsesshaften, der sich ein Nest, wie er es nennt,
dort unten eingerichtet hat, erfahren wir über das Leben dieser Menschen im
Abseits. Spät werden beide Stränge zusammengeführt, den Treefrog ist niemand
anderes als der Enkel Walkers, der hier im Tunnel einst zusehen musste, wie
sein geliebter Großvater, der noch einmal mit ihm den alten Bau sehen wollte,
vor seinen Augen vom Zug überfahren wurde. Er verliert seinen Job als
Bauarbeiter auf Wolkenkratzern und kehrt dauerhaft an den Ort des Unglückes
zurück. Das Buch beginnt recht vielversprechend mit der Geschichte des
Tunnelbaues und der egalitären Gemeinschaft der Arbeiter im Untergrund,
orientiert an den historischen Ereignissen, auch die Weiterverfolgung von
Nathans Leben weckt anfangs noch das Interesse, während die Schilderungen des
Lebens im Tunnel unter Obdachlosen bereits sehr früh abgleiten in möglichst
drastische Klischeevorstellungen, die ein Schreibtischautor wohl so hat vom
Leben auf der Straße. Das Ineinandergehen der beiden Erzähllinien ist zwar
recht gekonnt, aber die zunehmende Sozialpornographie mit allem, was man davon
erwarten kann – Drogen, Sex, Gewalt – lustvoll explizit ausgemalt, stößt einen
zunehmend ab. Auch die Ballung von Unglück wirkt irgendwann plakativ, selbst
Pädophilie muss noch hineingebracht werden, reichlich unmotiviert. Am Ende ist
man froh, wenn man mit dem Ganzen durch ist und legt das Buch Colum McCanns
(geboren 1965) mit dem Gefühl beiseite, dass hier leider durchaus
erzählerisches Potential verschenkt wurde.
Max
Frisch: Graf Öderland.
„Eine
Moritat in zwölf Bildern“ nannte Max Frisch (1911-1991) sein mehrfach
umgestaltetes Theaterstück aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, das somit
mehrere Uraufführungen erlebte und trotzdem jedesmal von neuem mehr oder
weniger durchfiel. Die Diskrepanz zwischen dem großen Romancier Frisch und dem
alles in allem oft sehr plakativen Bühnenautor Frisch (mit Ausnahmen wie der
„Chinesischen Mauer“) ist immer wieder frappierend, nur dass die späteren
Stücke eben große Erfolge wurden. Hier ist es ein Staatsanwalt, der als
einziger Verständnis aufbringt für einen scheinbar motivlos handelnden Mörder,
einen einfachen Angestellten, der offenkundig aus Lust und Laune heraus einen
Hausmeister mit der Axt erschlägt. Das Beil wird zum Symbol, als der Jurist
gemeinsam mit seinem Dienstmädchen dem alten Leben entflieht und sich als
Sagengestalt Graf Öderland zum Anführer einer immer größer werdenden und auch
vor Gewalt – mit der Axt – nicht zurückschreckenden Rebellion aufschwingt.
Diese wird trotz zwischenzeitlicher Misserfolge zu einer Art Stadtguerilla und
kommt damit am Ende zum Erfolg: der Umsturz gelingt, bzw. das Arrangement mit
der alten Regierung. Doch war das ganze Geschehen nur eine Traumphantasie des
überarbeiteten, gefrusteten Staatsanwaltes? Oder will der neue starke Mann an
der Spitze seine Macht nicht wahrhaben? Bühnenwirksamkeit kann man dem Stück
nicht absprechen, die karikierenden Vorbilder typischer Rebellendramen schlagen
hier durch, und trotzdem fällt es schwer, die Begeisterung zu teilen, die
Frisch selbst für sein Drama stets aufrecht hielt, zu sehr wirkt all das Parabelhafte aufgesetzt und unausgegoren.
Petra
Hammesfahr: Ein fast perfekter Plan.
Gewohnt
und zuverlässig unterhaltsam wie spannend präsentiert Petra Hammesfahr (geboren 1951) einmal mehr einen Thriller von nebenan, der weitaus besser ist als sein
biederer Titel. Die Friseurin Kerstin entwickelt mit Hilfe des ihr hörigen
Freundes und dank übermäßigen Konsums von TV-Krimis eine aus ihrer Sicht
geschickt eingefädelte Intrige. Von einer ihrer Stammkundinnen erfährt sie,
dass deren reicher Ehegatte mit Krebs im Endstadium demnächst über den Jordan
gehen wird und da seine Tochter und Alleinerbin, Regine, zunehmend von ihrem
Verlobten gefrustet ist – auch das erfährt Kerstin aus erster Quelle – und sich
ausgerechnet von ihrem Freund, der in einer der Häuser des reichen Papas Hilfsarbeiten
verrichtet, beeindruckt zeigt, spornt sie diesen gegen seinen Willen an, sich
den Annäherungsversuchen der jungen Frau langsam nachgiebig zu zeigen.
Tatsächlich gehen die beiden die Sache nicht unvernünftig an, sie forcieren die
Verbindung nicht, die sich scheinbar wie von selbst anbahnt und gelangen so zu
ihrem Ziel: statt ihres Verlobten heiratet Regine nun Kerstins Freund.
Allerdings gegen den Widerstand von deren Familie, weshalb der Vater erst einmal
weitere Zuwendungen streicht. Dass er der Tochter bereits ein Haus
überschrieben hat, sorgt zudem erst einmal für reichlich Zusatzkosten statt
reichlicher Mieteinnahmen. Und sterben will der Vater auch nicht. Was daran
liegt, dass seine Frau nicht nur gelegentlich zu fantasiereichen Übertreibungen
neigt. Also muss nicht nur die Tochter beseitigt werden… Viele Wendungen, sehr
viele Missverständnisse aufgrund von noch mehr Lügengebäuden, dazu der in
manchen ihrer Romane vorhandene, wenn auch an sich unnötige mystische
Einschlag, all das ergibt wieder einen zwar weder inhaltlich noch sprachlich
perfekten, aber soghaften Hammesfahr-Roman.
Horst
Bastian: Die Brut der schönen Seele.
Ein
Rollstuhlfahrer ist auf kleine Mädchen aus, die einzigen „Frauen“, denen er
sich gewachsen fühlt. Doch als ihm die Polizei auf die Spur kommt, weil die
Kommissarin einem Mädchen seine Märchengeschichten vom guten Onkel glaubt,
tötet er das Kind. Sein Drang ist damit jedoch nicht befriedigt und die Suche
nach dem nächsten Opfer beginnt. Da die Polizei nicht noch einmal zu nachlässig
sein möchte und der traurige Beweis ja nun angetreten wurde, dass es sich
keineswegs um reine Kinderphantasien handelt, zudem auch die gekränkten, weil
unter Generalverdacht geratenen Rollstuhlfahrer mit in die Jagd eingreifen,
zieht sich der Kreis bald enger. Eine Art „Es geschah am helllichten Tag“ in
der DDR-Version, nur viel schlechter. Die abgeschmacktesten Psychologieklischees,
die man sich nicht einmal mehr ausdenken möchte – übermächtige Mutter, der
Vater vom Typ des preußischen Offiziers –, holzschnittartige
Schablonencharaktere, das Ganze noch dazu nicht einmal leidlich spannend, dazu
auch vom sprachlichen Niveau nur schwer erträglich. Mit anderen Worten: Nicht
mal als Krimi sonderlich gut, geschweige denn, dass Horst Bastian (1939-1986) dem
schwierigen Thema gerecht geworden wäre.
J.D.
Salinger: Neun Erzählungen.
Salinger
(1919-2010) wich manchem üblichen Procedere des Literaturbetriebes aus – und so hatte
er wohl offensichtlich auch keine Ambitionen, sich mehr als eine lakonische
Inhaltsliste als Titel für seinen Band auszudenken, der eben genau das hält,
was der Aufdruck verspricht: „Neun Erzählungen.“ Wer Geschichten erwartet, die
an den „Catcher in the Rye“ erinnern, der wird enttäuscht sein, zumindest auf
den ersten Blick haben die einzelnen Episoden wenig mit Salingers Meisterwerk
zu tun, obwohl auch in ihnen oft Jugendliche und junge Menschen im Mittelpunkt
stehen. Allenfalls der Maler de Daumier-Smith hat Züge des Catchers, wenn er
mit großer Geste zum Dozenten einer kanadischen – vermeintlichen – Akademie
wird, die von einem undurchschaubaren japanischen Pärchen geleitet wird. Es ist
die Kriegs- und Nachkriegszeit und die Personen wirken etwas verloren innerhalb
der zahlreichen Umschwünge, die die Zeitläufte, aber auch das private Leben mit
sich bringen. Und doch sind sie mit ihren Problemen so anders nicht, Neid,
Wettbewerb untereinander, Unverständnis der Eltern, Einsamkeit. Unüblicher ist
es dagegen schon, wenn man als Kind mit übernatürlichen Gaben gesegnet ist,
dadurch aber einerseits trotzdem nur als Kind, andererseits wie ein
Forschungsobjekt und von manchen als Prophet behandelt wird und sich mit keiner
dieser Rollen anfreunden kann. Leicht hat es keine der Figuren Salingers,
leicht macht er es auch seinen Leser:innen nicht.
Patricia
Highsmith: Elsie’s Lebenslust.
Titelschelten
bei Übersetzungen sind wohlfeil, wir haben es schon mehrfach erwähnt, aber hin und
wieder stellt sich die Frage eben dann doch aufgrund des eklatanten
Missverhältnisses zwischen dem in diesem Fall englischen Original und der
seltsamen deutschen Wahl. In diesem Fall nicht nur wegen des obskuren
Apostrophs, sondern auch aufgrund der zahlreichen wergfallenden Nuancen von
„Found in the Street“. Denn Elsie taucht zwar sofort zu Beginn, dann aber über
sehr viele Seiten überhaupt nicht mehr auf. Stattdessen konzentriert sich die
Handlung auf die Innensicht des Wachmannes Ralph und des Illustrators Jack. Der
eine ein Kauz, einsam, streng moralisch, nicht bösartig, aber tief im Innern
doch vom Alltagsrassismus geprägt, der andere ein Bohemien mit Familie,
glücklich, erfolgreich, mit weitem Freundes- und Bekanntenkreis. Zwar leben sie
in der Nachbarschaft, aber an sich in verschiedenen Welten, die sich
bestenfalls flüchtig auf der Straße begegnen. Das ändert sich, als Ralph Jacks
Geldbeutel findet und diesen persönlich bei ihm abliefert, aber auch das wäre
nur ein kurzer Kontakt geblieben, wäre da nicht noch Elsie. Kaum 20, serviert
sie in einer Kaffeebar, wo sie Ralph auffiel, der daraufhin einen
Beschützerinstinkt entwickelt, durch den sich das Mädchen allerdings bedrängt
fühlt. Dem Zufallskunden Jack fällt sie ebenfalls auf, er kommt mit ihr ins
Gespräch. Während er und seine Frau sie tatsächlich etwas unter ihre Fittiche
nehmen und ihr den Einstieg als Fotomodell in ihren Freundeskreis
ermöglichen, sieht das für Ralph anders aus: Er interpretiert den Umgang des
naiven Landmädchens mit Jack als eine Art Prostitution. Elsies Wirkung auf ihre
Umgebung führt vermehrt zu Komplikationen, denen sie schließlich selbst zum
Opfer fällt. Patricia Highsmith (1921-1995) liefert einmal mehr ein komplexes
Gesellschaftsbild ab, das der ursprüngliche Titel perfekt wiedergibt: Elsie
wird auf der Straße von Ralph und Jack gefunden, entdeckt von der New Yorker
Society. Aber sie wird auch in ihrem Hauseingang gefunden, tödlich verletzt.
Und war sie für Jack und seine Frau, die sogar eine Affäre mit ihr beginnt, nicht
einfach auch nur ein faszinierendes Fundstück? Ralph ist kein sympathischer
Kerl, ein Rassist mit paranoiden Zügen, aber er ist auch kein verrückter
Stalker, denn letztlich sind seine Befürchtungen nicht einmal vollends verkehrt:
Elsie stirbt durch falschen Umgang. Und Jack, der mit seinen ständigen
Beteuerungen, wie schön und glücklich alles ist, sich über Vieles
hinwegtäuscht, vertuscht dadurch nur seine Lebenslügen, wirkt tief im Innern in
seiner vermeintlichen Toleranz gleichgültig und egozentrisch. Auf die ihr
übliche subtile Weise entlarvt Highsmith ohne Illusionen ihre – und unsere –
Zeitgenoss:innen.
N.H.
Kleinbaum: Dead Poets Society.
Romane
nach Drehbüchern führen selten – aber doch hin und wieder – zu meisterlichen
Werken der Literatur, eher schon schreiben manche Drehbuchautor:innen gute
Romane. N.H. Kleinbaum (geboren 1948) ist keine Drehbuchautorin, sondern eine
Schriftstellerin, die Filmskripte zu Romanen verarbeitet. Das Verb ist bewusst
gewählt, denn mehr als eine Arbeitsleistung kann man ihr kaum attestieren, die
sprachlich unauffällig, inhaltlich aber unterdurchschnittlich ist – was
natürlich mit der Vorlage zusammenhängt. Das Buch ist in jeglicher Hinsicht
eine klassische Schullektüre, was aber weniger am Milieu des Romans, einem Vertreter
aus dem Internatsgenre, liegt, sondern an der einfachen Struktur, den
durchschaubaren Charakteren und der wenig subtilen Botschaft. Fast schon lustig
ist es, dass das Buch somit seine eigenen Intentionen unterläuft, fordert es
doch zum Ausbrechen aus den verschult genormten Denkschemata auf. Angelegt ist
es darauf nicht: Die Vorgänge sind bereits auf den ersten Seiten durch die sich
auf Klischees verlassenden Charakterisierungen und die gewohnten Kontroversen
so vorhersehbar, dass es allenfalls noch überrascht, dass die meisten dieser
Stereotypen dann tatsächlich auch noch konsequent zu Ende geführt werden. Ach
so, es geht nebenbei um einen Englischlehrer, der mit Hilfe von Literatur
seinen Schülern das freie Denken ermöglichen möchte. Das stößt, wer hätte das
gedacht, auf Widerstände bei Eltern und Kollegen. Einfache, flache Botschaften
haben es leicht, aus ihnen können bequem Kultfilme werden…
Martin
Suter: Der Teufel von Mailand.
Physiotherapeutin
Sonia hatte einst einen reichen Kunden geheiratet, der die spätere Trennung
schlecht verkraftet und sie deshalb umzubringen versucht hat. Um den
traumatischen Ereignissen und den Eltern ihres Ex, die sie zu überreden
versuchen, eine Freilassung ihres Sohnes zu ermöglichen, zu entkommen, stürzt
sie sich erst exzessiv ins großstädtische Nachtleben, was allerdings lediglich
zur Folge hat, dass sich nach einem Drogentrip ihre synästhetischen Anlagen
enorm verstärken: nun sieht sie Gerüche, Töne und Buchstaben. Da dies ihre
Ängste zusätzlich verstärkt, entscheidet sie sich für einen radikalen Bruch:
Sie gibt ihr altes Leben komplett auf und nimmt eine Arbeit in einem
neueröffneten Hotel im Engadin auf, in einem abgelegenen Bergdorf. Es herrscht
Mistwetter, die Belegzahlen sind leidlich, aber Sonia kommt mit der eleganten
Chefin und den meisten Kollegen gut aus, außerdem fühlt sie sich hier sicher,
nur eine einzige Freundin weiß überhaupt von ihrem Aufenthalt. Getrübt wird ihr
Aufenthalt nur durch plötzliche Anfälle von Abneigung gegen manche Kunden,
verstärkt durch ihre idiosynkratische Wahrnehmung und durch einige anfangs eher
banale Vorfälle, die sich allerdings häufen. Schließlich erkennt Sonia darin
ein Muster, dass sie durch Zufall in einem Sagenbuch entdeckt hat, das vom
Teufel von Mailand berichtet, der hier einst sieben Prophezeiungen aussprach.
Verantwortlich sind aus ihrer und der Sicht ihrer anfangs nicht überzeugten
Chefin missgünstige Dorfbewohner, die dem Hotel schaden wollen. Doch auch nach
dem Tod des Hauptverdächtigen durch einen Autounfall hören die Warnungen nicht
auf. Und dann kommt auch noch die Mutter ihres Ex zu Besuch ins Hotel. Suter
(geboren 1948) entwickelt nach fulminantem Start einen sich langsam
aufbauenden, trotzdem stets spannenden Thriller, wie immer sehr gekonnt, gut
recherchiert und mit den an den richtigen Stellen gesetzten Überraschungen und
Wendungen. Schade ist nur, dass er dem konventionellen Schema nicht entkommt
oder entkommen möchte und deshalb ein eher banales, fast schnell
dahingehudeltes Auflösungsende abspult, da wäre Besseres möglich gewesen.