Hans Traxler: Das Wunder von Anning.
Hans Traxler (geboren 1929) legendäres Mitglied der noch legendäreren Neuen Frankfurter Schule, berichtet uns hier zwar nicht die Wahrheit über Hänsel und Gretel, aber einen Fall von unwahrscheinlicher und wundersamer Geburt an einem 24. Dezember, der an ein ähnliches Ereignis vor gut 2000 Jahren erinnert. Allerdings findet dieses in der Gegenwart statt, beim ältlichen Ehepaar Maria und Josef Moser, wohnhaft in der entlegenen bayerischen Provinz. Kurti, der unverhofft und von einem Engel angekündigte Sohn, ist nicht nur ziemlich unerlöserhaft, sondern eigentlich nur seltsam. Aber er hat eine weitläufige und vor allem äußerst vermögende Verwandtschaft, die sich von ihm aufgrund seines Geburtsdatums und der schließlich etwas eigenartigen Umstände seiner Ankunft auf dieser Welt sehr viel erwartet und ihn deshalb regelmäßig mit überreichlich Geschenken versorgt. Die sind nicht nur jeweils nach dem aktuellen Trend des Jahres – Holzspielzeuge, Didaktisches, Elektronisches –, sondern leider, so zumindest die Sicht der gar nicht so glücklichen Eltern, so überreichlich und dienen zudem auch der Übertrumpfung des jeweils anderen, dass sich das Haus und die Werkstatt so füllen, dass Touristenströme nach Anning kommen, um das kaum noch bewohnbare Spielzeughaus zu sehen. Denn an ein Weiterverkaufen oder Wegwerfen ist nicht zu denken – es wird böse von der Verwandtschaft, die es ja nur gut meint, bestraft. Kurti wächst in dieser Spielzeughölle auf, ohne zu sprechen, was auf die Dauer die Onkels und Tanten enttäuscht, womit erst sie und dann ihre Präsente ausbleiben. Weg ist allerdings bald auch Maria, die bei einer gewonnenen Ballonfahrt gen Himmel entschwebt. Nachdem auch sein Vater von ihm gegangen ist, lebt Kurti allein und ungestört im leeren Haus weiter – er hat niemand Geringeren als den Heiligen Nikolaus gebeten, die Geschenke auszuräumen. Die kurze und vom Meister selbst illustrierte Satire ist natürlich ein hübscher Spaß, schade nur, dass Traxler die Parallelen nach den Ereignissen jeweils explizit noch einmal ausspricht, sozusagen nach der amerikanischen Methode, die den Leser:innen wenig zutraut und das Subtile selbst wieder konterkariert. Trotzdem sehr unterhaltsam.
Margarete Böhme: Tagebuch einer Verlorenen.
Er ist als Tagebuch getarnt, jedoch ein Roman. Nur so war es Margarete Böhme (1869 bis 1939) überhaupt möglich, ihr Buch 1905 im wilhelminischen Deutschland veröffentlichen zu können – zumindest in einem seriösen Verlag. Skandal machte der Text natürlich trotzdem, schildert er doch den Abstieg eines jungen Mädchens aus einer norddeutschen Kleinstadt und gutbürgerlichem Hause ins Prostituiertendasein. Nach dem Tod der Mutter wird Thymian allein vom Vater erzogen, einem Apotheker, der sie vergöttert, aber andererseits mit Schulden, vor allem jedoch ständigen Affären mit seinen weiblichen Angestellten belastet ist. Als sich eines der Dienstmädchen, mit dem sich die Tochter eng befreundet hat, vom Vater geschwängert, ertränkt und Thymian die Hintergründe erfährt, ist sie so verzweifelt, dass sie nicht bemerkt, dass der langjährige Apothekergehilfe ihre Verwirrung ausnutzt, um ihr mehr als nur Trost zu spenden. Als auch sie schwanger wird und die erzwungene Liebschaft auffliegt, wird das Mädchen außer Haus geschafft, das Kind heimlich geboren und anschließend zur Adoption freigegeben. Thymian ist damit trotz aller Vertuschungsversuche nicht nur aus ihren Illusionen, sondern auch der Gesellschaft ausgestoßen. In Erziehungsanstalten und von strengen bigotten Pflegefamilien werden ihr ihre Vergehen stets vor Augen gehalten, bis sich durch die Vermittlung einer Bekannten ein Ausweg zu zeigen scheint. Ihre Schönheit nutzend, soll sich Thymian als Begleiterin gut zahlender Herrschaften verdingen. Sie lernt schnell und wird zu einer gefragten Person, was wiederum zu Streit mit ihrer Lehrmeisterin führt. Schließlich macht sie sich in der Großstadt selbständig. Ihr gelingt der Aufstieg im Milieu, der jedoch mit dem Verlust des Zugangs zu ihrer Tochter und dem kompletten Bruch mit der Familie bezahlt ist. Der Versuch, sich mit Hilfe des Verdienten und von Freunden ein seriöses Leben aufzubauen scheitert dagegen mehrfach an den Vorurteilen der Gesellschaft, aber auch einer gewissen Willensschwäche. Letztlich richtet sich Thymian in der bequemsten Form des Prostituiertendaseins ein: Sie lässt sich von einem alternden vermögenden Adligen aushalten, der ihr ein pseudo-bürgerliches Leben finanziert, dafür aber Zuneigung und Treue verlangt. Ein Arrangement, das verführerisch und schwierig einzuhalten zugleich ist. Schließlich zeigen sich erste Zeichen einer Krankheit bei Thymian. Die Aufregung, die Böhmes Tagebuchroman verursachte, lag weniger in irgendwelchen expliziten Stellen – die gibt es nämlich nicht – sondern in der Schilderung des Prostituiertenmilieus, die als Anklage an eine verknöcherte, heuchlerische Gesellschaft diente, die es unehelichen Frauen unmöglich machte, ihrem unverdienten Schicksal zu entkommen.
Brian Moore: Die Frau des Arztes.
Seit langem sind einmal wieder Ferien geplant, in Südfrankreich, wo einst schon die Hochzeitsreise stattfand. Sheila Redden reist voraus, mit einem kurzen Zwischenstopp in Paris, um eine Freundin aufzusuchen, während ihr Mann, ein erfolgreicher Arzt im Bürgerkriegsnordirland, wegen Terminen erst ein paar Tage später nachkommen soll. Denn so richtig Lust hat er ohnehin nicht, ihm genügt sein Leben in ruhiger Ehe, mit dem Ansehen des geschätzten Mediziners und in vertrauter heimischer Umgebung. Dass er seinen Abflug wegen eines weiteren Notfalls erneut verschieben muss, ist ihm gar nicht so unangenehm. Derweil verbringt seine Frau ihre Zeit in Paris, das sie noch aus ihrer Jugend kennt, und wird dabei dem neuesten Lover ihrer Freundin und dessen Mitbewohner, einem Amerikaner, vorgestellt. Dieser ist sichtlich fasziniert von der Irin, die sich zwar freundlich auf ihn einlässt, aber ihre vorgesehenen Pläne – Weiterflug nach Südfrankreich – nicht aufgibt. Doch kurz nachdem sie dort angekommen und im Hotel eingetroffen ist, wird ihr ein Herr gemeldet, der sie zu sprechen wünscht: Tom, der junge Amerikaner ist ihr spontan nachgereist. Eine erst vorsichtige, dann immer offenere Affäre beginnt, die immer intensiver wird, nachdem der Arzt seine Reise noch einmal verschoben hat und Sheila ihn letztlich überredet, zuhause zu bleiben. Aber hat die Beziehung zu Tom Zukunft? Ist sie nur ein flüchtiges Ausbrechen aus dem drögen Ehedasein im kriegsversehrten Belfast oder doch mehr? Tom bietet Sheila an, ihm in die USA zu folgen, mit der Option jederzeit zurückkehren zu können. Doch die Affäre fliegt vorher auf, der Arzt setzt nun alle Mittel ein, um seine Frau zurückzugewinnen, von der sanften Tour bis hin zum erpresserischen Einsatz des pubertierenden Sohnes, von der Vermittlung durch ihren Bruder bis zur überraschenden Reise ins Hotel zum Gespräch Auge in Auge. Doch es nutzt nichts: Sheila kehrt mit Tom nach Paris zurück und bereitet sich mit ihm auf den Flug nach Amerika vor. Brian Moore (1921 bis 1999) bietet thematisch und von der Konstellation alles andere als Neues, wobei er – leider – zumindest eine Falle nicht vermeidet, die Schilderung des Ehegatten als unflexiblen, cholerischen und letztlich unsympathischen Zeitgenossen. Zwar trägt er auch hin und wieder nettere Züge und sein Ärger über die Situation ist natürlich durchaus nachvollziehbar, aber im Großen und Ganzen ist er ein Charakter, der nur zu verständlich macht, warum seine Frau ihn zu verlassen droht. Gleichwohl ist es so einfach nicht. Dafür ist Moore dann doch ein zu gewiefter Schriftsteller und Menschenkenner. Denn obwohl die Geschichte aus Sicht Sheilas erzählt und unsere Sympathien eindeutig auf sie hingelenkt werden, bleibt ihr Handeln in vielem – wie ihr selbst auch – zweifelhaft. Selbst ihre in Liebesangelegenheiten nicht pingelige Freundin scheint überzeugt, dass es sich um eine momentane Gefühlswallung, jedenfalls nicht dauerhaft Tragendes handelt. Und was ist mit der Theorie des Bruders, ebenfalls Arzt, der vermutet, hinter dem so überraschenden Bruch könnte ein tiefergehendes psychologisches Problem liegen, wie es in der Familie nicht unbekannt ist, ein Art Versuch, der Depression des Alltags zu entkommen, der in der Katastrophe enden könnte, wenn die Liebesgeschichte plötzlich enden sollte. Und ist das eigene Wohl, die lustvolle Affäre eine Rechtfertigung dafür, auch den Sohn von heute auf morgen – ohne ihn wiederzusehen – im Stich zulassen? Der Roman lässt diese Fragen offen – und ist deshalb ein sehr guter Roman.
Josephine Tey: Die verfolgte Unschuld.
Robert Blair, Junggeselle in mittleren Jahren und Anwalt in einer verschlafen Provinzstadt Englands, wird eines Tages in einer Angelegenheit um Hilfe gebeten, die an sich überhaupt nicht in seine Zuständigkeit fällt. Da es sich aber um einen Notfall und die Bitte einer Dame handelt, sagt er zu und wird mit einer bizarren Geschichte konfrontiert. Im Franchise, einem einzelnen Häuschen weitab der Stadt an der Landstraße warten bereits die Anruferin mit ihrer Mutter, der örtliche Inspektor und ein Beamter von Scotland Yard auf ihn. Und ein junges Mädchen, 15 Jahre alt, unauffällig aussehend, die nun berichtet, sie sei hier im Haus mehrere Wochen festgehalten, gedemütigt und geschlagen worden, nachdem die beiden Damen sie hierher entführt hatten und sie nicht gewillt war, ihnen als Dienstmädchen zu dienen. Was unglaubwürdig klingt, kann das vermutliche Opfer durch teils detailreiche Beschreibungen untermauern. Zwar kommt es vorerst nicht zu einer Anklage, da Scotland Yard keine weiteren Beweise finden kann, doch als sich die Presse des Falles annimmt, beginnt eine Treibjagd auf die beiden Hausbewohnerinnen, aber auch die Ermittlungen der Polizei werden intensiviert. Robert Blair, der sich den verdächtigten Frauen verbunden fühlt, stellt eigene Ermittlungen an, die jedoch kaum vorankommen, während sich auf Seiten des Mädchens neue Zeuginnen finden. Die Sache steht schlecht, nachdem auch ein engagierter Privatdetektiv auf der Stelle tritt, umgekehrt aber die Angriffe auf das einsame Haus zunehmen. Als sich erste Lichtblicke im Sinne der Frauen auftun, taucht der Beamte von Scotland Yard wieder auf: Mit einem Haftbefehl. Anfangs liest sich Josephine Tays (alias Elizabeth Mackintosh, 1897 bis 1952) Roman noch sehr angenehm, very british, mit dem etwas unbeholfenen Provinzanwalt Blair als unvermutetem Gentlemandetektiv, doch verliert sich der Reiz bald, was einerseits an der Konstellation liegt, dass bald klar ist, wie die Sympathierollen verteilt sind, die Spannung also nicht mehr darin gründet, ob die beiden Damen lügen – was eine sehr hübsche Pointe gewesen wäre –, sondern nur noch, wie dem vermeintlichen Opfer nachzuweisen ist, dass seine Geschichte erfunden ist. Auch dies wäre natürlich akzeptabel, jedoch malt hierfür Tey das Mädchen zur bösartigen Schlampe, die Franchise-Bewohnerinnen zu übernetten Ladies aus, dass man sich fast wünscht, in der Gerichtsverhandlung, würden doch letztere als Lügnerinnen überführt statt des Kindes. Wirklich unerträglich wird mit der Zeit allerdings die stockkonservative Grundhaltung des Textes, mit seinen Invektiven gegen Engagement für Benachteiligte aller Art und vor allem die Presse, die – für Krimis bis hin zum Fernseh-„Tatort“ typisch – pauschal als Hort sensationsgeiler wetterwendischer Schreiberlinge dargestellt wird, was sowohl für den Boulevard als auch die seriöse Zeitungen gilt. Da erweist sich der Roman dann als tatsächlich provinziell im schlechtesten Sinne.
Ulrike Edschmid: Das Verschwinden des Philip S.
Die Auseinandersetzung mit der RAF und dem Linksterrorismus vor allem der 1970er Jahre in der deutschsprachigen Literatur ist insgesamt nicht sonderlich gelungen, oft herrscht ein seltsamer apologetischer Unterton vor, der unangebracht relativierend wirkt, manches Mal ging man auch den üblichen Manipulationen der RAF auf den Leim – Foltervorwürfe etc. – in jedem Fall fehlt oftmals eine klare Distanzierung aus falsch verstandener Solidarität mit den Bewegungen um 1968, wobei man mit dieser mehr Schaden anrichtet, als würde man deutlich und klar den Irrweg, den diese – ja nur sehr wenigen – in die Gewalt gegangen sind, benennen. Ulrike Edschmid (geboren 1940) gehört zu den ganz wenigen, denen es gelungen ist, sehr klug und ohne eigene Scheuklappen über jene Zeit und den Terrorismus zu schreiben, gerade weil sie mit einigen Akteuren eng verbunden war, ihnen aber nicht folgte. Dies hatte sie schon in „Frau mit Waffe“ bewiesen und sie tut es erneut mit dem Roman über das „Verschwinden des Philip S.“, wobei sich die Genrebezeichnung nur auf das Stilistische bezieht, inhaltlich handelt es sich um einen autobiographischen Bericht. Edschmids Kunst besteht in der Beleuchtung persönlicher Lebensläufe, die sie in einer an sich schwierig zu handhabenden Form der distanzierten Einfühlung wiedergibt: Philip S., Aussteiger aus einer strengen, schwerreichen Schweizer Familie, studiert in Berlin an der Filmhochschule, dreht dort einen schwermütig asketischen Streifen, stark ästhetisierend, der bei den Kommilitonen überwiegend auf Unverständnis stößt. Die Politisierung greift um sich, statt eskapistischer intellektueller Reflektion ist Handeln gefragt, Aufbegehren, sowohl an der Hochschule selbst als auch auf den Straßen. Auch Ulrike engagiert sich, doch Philip, mit dem sie zusammen ist – und gemeinsam eine Art Groß-WG bewohnt – sucht nach neuen Wegen, die radikaler sind, immer mehr entfernt er sich von seiner Freundin und deren Kind. Irgendwann verlieren sich die Kontakte, Philip S. ist verschwunden, in einem langen Prozess des Ab- und Wegtauchens. Mitte der 1970er gerät er wieder in die Schlagzeilen. Ulrike liest von seinem Tod bei einer Polizeiaktion. Kein sentimentaler Kitsch, kein Aufrechnen mit den – nicht verschwiegenen – Fehlern der Anderen, keine entschuldigenden Erklärungsansätze, einfach das trotz allem Unverständnis mitfühlende Portrait eines Menschen, von dem man glaubte, ihn etwas zu kennen. Eine absolute Empfehlung.
Giorgio Manganelli: Amore.
Der Text gliedert sich in einen sehr langen Monolog, dem noch ein Zwiegespräch und mehrere kurze Episoden von Menschen in typischen Berufen – Beamter, Mesner, Soldat, etc. – folgen, Hauptthema ist die titelgebende Liebe. Die zum Buch entfaltet sich leider nicht, da Giorgio Manganelli (1922 bis 1990) sich eines äußerst gekünstelten Stils bedient, der einem das Vergnügen am Text sehr bald austreibt, sofern man nicht versessen ist auf eine neubarocke, extrem prätentiöse und ihre Kunstfertigkeit ausstellende Schreibweise, die in kaum erträglicher Weise Schwulst und Gesuchtheit kombiniert. Nach der Lektüre hat man große Lust, ein Buch namens „Hass“ zu schreiben, sollte es aber ebenso lassen, wie man sich das Lesen hätte sparen können. Eine Qual.
Alain Robbe-Grillet: Projekt für eine Verschwörung in New York.
Wie man literarische Kunstfertigkeit gekonnt einsetzt, beweist dagegen – einmal mehr – der Großmeister des nouveau romans Alain Robbe-Grillet (1922 bis 2008). Dessen Text ist tatsächlich wie gewohnt extrem komplex, aber im klassisch nüchternen, stark auf Beschreibungen setzenden Stil, denen naturgemäß aber nie zu trauen ist. Das Verwirrspiel treibt Robbe-Grillet in diesem Roman ziemlich weit. Inhaltlich lässt sich nicht einmal ein exakter Satz zur Handlung angeben, eine Frau ist in einer Wohnung – aber ist sie freiwillig dort? Ist sie Gefangene? Verstecktes Opfer von Gewalt? Oder ist es der Fluchtort einer skrupellosen Täterin? Ist sie Teil oder Ziel einer Verschwörung, verzogenes Flittchen, Verbrecherin oder Objekt von Spionage? Und alles ist noch viel komplizierter. Lesen wir hier nur Bruchstücke eines Films, eines billigen Kriminalromans, einer Tonbandaufnahme oder eines Verhörs – oder alles zugleich? Unerwartet tauchen immer wieder Szenen auf, die wir schon kannten, die aber völlig anders geschildert oder interpretiert werden. Ebenso brechen Handlunge plötzlich ab, die nicht, später oder ganz anders fortgesetzt werden. Soweit, so typisch. Nicht vor der Komplexität des Textes – das ist es eben, was man bekommt, wenn man zu einem Robbe-Grillet greift – muss gewarnt werden, sondern vor den sich häufenden und oft extrem brutalen Gewaltschilderungen. Die sind zwar sozusagen Zitate der Schundliteratur, aber dadurch nicht gefiltert und deshalb eher nichts für schwache Nerven. Vielleicht nicht unbedingt als Einstieg in den nouveau roman tauglich, für dessen Liebhaber:innen jedoch ein Genuss.
Marcel Pagnol: Le Temps des Amours.
Als sehr beliebte kleine Fortsetzungsserie hatte Marcel Pagnol (1895 bis 1974) seine „Kindheitserinnerungen“ – so der Untertitel – teils veröffentlicht, bevor sie unter genanntem Titel später postum zusammengefasst aus dem Nachlass noch einmal herausgegeben wurden, wobei manches Manuskript noch nicht fertig ausgearbeitet war. Die einzelnen Episoden, überwiegend Schulgeschichten, leiden natürlich an der generellen Krux solcher Erzählungen, nämlich einer gewissen Verklärung. Der oft keineswegs so amüsante Alltag im französischen Süden scheint zwar mehrfach durch, insgesamt aber lebt das Buch vorwiegend von der Lausbubenmentalität der Protagonisten mit ihren Schulstreichen, Versetzungsängsten und ersten Liebesabenteuern. Zu lesen ist das wunderbar, unterhaltsam und mit Humor, der, wie gesagt, unter der Oberfläche die oft schwierigen Familienverhältnisse nicht völlig ignoriert. Interessantestes Stück der Sammlung ist allerdings eine Geschichte, die nur ganz locker und etwas unbeholfen durch eine Rahmengeschichte eingereiht wurde, eine historische Erzählung über einen späten Pestausbruch in Marseille. Die Bewohner eines Stadtviertels, angeführt von einem frühzeitig informierten Arzt, versuchen, sich der Seuche durch völlige Abkapselung zu entziehen. Einfach ist das nicht, Gefahren drohen von Innen – moralischer Verfall, Todesangst, Klaustrophobie – als auch von Außen durch Rückkehrer oder die Behörden. Der Plan droht zu scheitern, als die Stadtoberen beschließen, die einzelnen betroffenen Viertel niederzubrennen. Die – leider unvollendete – Geschichte erinnert an ähnliche Szenarien bei Camus und Edgar Allan Poe.
Jack Vance: Verlorene Monde.
Unter Kennern ist Jack Vance (1916 bis 2013) ein Klassiker des Genres, verdient hätte er Aufmerksamkeit weit über die Science-Fiction hinaus. Der Erzählungsband wäre zum Beispiel ein hervorragender Einstieg, versammelt er doch Geschichten aus dem Entstehungszeitraum kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Angenehm macht die Lektüre allein schon, dass Vance generell eher wenig Wert legt auf die Präsentation überraschender ausgefeilter Zukunftstechniken, zwar werden natürlich die ein oder andere als damals absolut futuristisch angesehenen Gerätschaften genannt, aber diese dienen an sich lediglich als Markierer von „Zukunft“ und sind aus unserer heutigen Sicht zumeist ohnehin liebenswert altbacken – etwa Bildschirmkommunikation. Das stört keineswegs, geht es Vance doch ohnehin um die psychologischen Komponenten, ihn interessieren auf die Charaktere einwirkende ungewöhnliche Umstände. Seien das nun die Jagd nach diversen Weltraumverbrechern, die Ausrichtung einer intergalaktischen Miss-Wahl oder die Überlistung eines weltenerschaffenden, aber offensichtlich geistig nicht mehr zurechnungsfähigen Wesens. Es geht unterhalb der Ebene der spannenden Geschichten also um grundsätzliche Fragen: Immer wieder um Schuld, um Handlungsmöglichkeiten, aber auch um die Wertung von Schönheit, die viel über unsere eingeschränkten Sichtweisen und Vorurteile verrät. Wie erwähnt, eine Aufforderung, den kalifornischen Schriftseller zu entdecken!
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