Margriet
de Moor: Von Vögeln und Menschen.
Es
ist eine typische Mischung für einen Roman der großen niederländischen
Schriftstellerin Margriet de Moor (geboren 1941): Ein aufsehenerregendes
Ereignis, eine starke Frauenfigur, eine auf die Personen bezogene einfühlsame
Erzählweise. Marie Lina beginnt in der Innenstadt urplötzlich eine Schlägerei
mit einer älteren Dame. Dem Ganzen ging offensichtlich keine Auseinandersetzung
voraus, die alte Frau kommt dabei ums Leben, Marie Lina begibt sich
unbeeindruckt nach Hause. Am nächsten Morgen wird sie, wie erwartet, von der
Polizei geholt. Die Tat ist eindeutig, es folgt eine Haftstrafe. Obwohl der
Gewaltausbruch scheinbar aus dem Nichts kam, ist mancher nicht sonderlich
überrascht. Schon Marie Linas Mutter hatte im Gefängnis gesessen, sie galt als
Mörderin eines alten Mannes, den sie betreut hatte. Soweit der erwähnte
spektakuläre Plot, diesmal mit gleich zwei starken Frauenfiguren, darum webt de
Moor eine Familiengeschichte, die langsam die Hintergründe dieser beiden recht
schwer erklärlichen Verbrechen aufhellt, aber auch die teils zerstörerischen
Folgen für alle Beteiligten und ihre Umgebung. Denn so offensichtlich wie
geschildert sind die Geschehnisse keineswegs, nur eine der beiden Frauen ist
eine echte Mörderin – und hatte sie womöglich gute Gründe dafür. Die im Titel
erwähnten Vögel gehen auf den Beruf von Marie Linas Mann zurück, er ist
Vogelverscheucher am Flughafen, eine Tätigkeit, über die man hier im Roman –
anders als wohl sonst – einiges erfährt. Trotzdem bleibt das Buch hinter de
Moors üblichem Schaffen zurück. Es fehlen ihm die Ambivalenzen, obwohl die
Frauen, insbesondere Marie Lina, teils fragwürdig handeln, wird unsere
Sympathie zu sehr auf sie gelenkt, als dass wir uns unwohl fühlen würden bei
der Identifikation, wie es ja mindestens bei einer Mörderin sein sollte. Auch
fehlt die de Moor’sche melancholische Grundstimmung wie in ihren besten Werken.
Es ist alles ein bisschen zu glatt, eben gerade trotz der Brüche zu bruchlos
erzählt. Das ist, aufgrund der hohen Ansprüche, die man beim Lesen eines Textes
von Margriet de Moor längst hat, sehr schade.
Rainer
Erler: Fleisch.
Auch
seinen wohl erfolgreichsten Film verarbeitete Rainer Erler (geboren 1933) zu
einem Roman unter gleichem Titel: „Fleisch“. Monica, deutsche
Austauschstudentin in den USA, findet dort die Liebe ihres Lebens, Mike,
heiratet und macht sich mit ihm auf zu einer traditionellen amerikanischen
Hochzeitsreise zu zweit einmal quer durchs Land. Als sie im Süden angekommen
und damit schon nahe am Schlusspunkt ihres Roadtrips sind, suchen sie sich ein
kleines abgelegenes Motel bei El Paso zum Übernachten aus. Doch die Nacht
verläuft alles andere als romantisch. Ausgerechnet ein Krankenwagen fährt in
das Motel, die Sanitäter stürmen mit gezogener Waffe in den Raum und entführen
Mike. Monica entkommt nach einer Flucht in die Wüste, doch als sie am nächsten
Tag zurückkehrt, will die Wirtin von all dem nichts mitbekommen haben – selbst
Gäste habe sie gestern keine gehabt, Monica sei ihr völlig unbekannt.
Stattdessen kommt der Krankenwagen zurück. Allein, in Unterwäsche, rennt Monica
ein weiteres Mal davon, bis sie auf dem Highway ein Trucker aufgabelt. Der ist
auf dem Weg vom Süden in den Norden, unter Termindruck, gut drei Tage Fahrt
ohne Unterbrechung, der Anhänger voll mit viel Fleisch, zu viel, der Truck ist wissentlich
gegen die Vorschriften überladen. Mit der Polizei möchte er folglich nichts zu
tun haben – er hat für Kontrollen weder Zeit noch die korrekten Papiere. Und
die Geschichte des verstörten Mädchens klingt schließlich auch nicht unbedingt
plausibel, zudem ist unklar, wie ihr oder ihrem Mann überhaupt geholfen werden
kann. Trotzdem lässt sich Bill schließlich auf die Suche mit ein – denn
tatsächlich taucht der ominöse Krankenwagen bald wieder auf. Und immer mehr
Abgründe tun sich auf, die belegen, dass Monica recht hatte und nun in Gefahr
ist – von Mike ganz zu schweigen. Das Bild des ein Mädchen verfolgenden Sanitätsautos
– naturgemäß auch auf dem Titelcover abgebildet – beweist das suggestive
Vermögen des Regisseurs Erler, schließlich ist es ein visueller
Vertrauensbruch, ausgerechnet vor einem Rettungswagen fliehen zu müssen.
Auch sonst gewohnt spannend, literarisch nicht zu hoch zu bewerten, aber als
Thriller ein Reißer, der sich eines kritischen Themas annimmt, mit der für Erler
typischen Komplottstruktur, die wir schon aus „Die letzten Ferien“ kennen.
Peter
Härtling: Eine Frau.
Vielen
ist Peter Härtling (1933 bis 2017) als Verfasser gleich mehrerer
Jugendbuchklassiker bekannt, doch schrieb er zugleich zahlreiche Romane und
Biographien für das erwachsene Publikum, von denen vor allem letztere durchaus
ebenfalls sehr erfolgreich waren. „Eine Frau“ ist gewissermaßen eine Mischung
aus beiden, wobei der Titel, reichlich forsch, in seiner Exemplarität natürlich
hohe Ansprüche vorgibt. Beispielhaft wird dementsprechend das Leben der
Katharina Wüllner vorgeführt, Tochter gutbürgerlicher Dresdner Fabrikanten,
knapp nach der Jahrhundertwende geboren, es herrscht eine liberale, im Rahmen
freigeistige Atmosphäre, es gibt Künstler in der Familie, einen jüdischen
Zweig, eine Sehnsucht zum Aussteigen, die aber nur von einer der Schwestern
wirklich gewagt wird – in den 1920er Jahren und mit bösen Folgen. Katharina hat
diesen Drang auch verinnerlicht, bewegt sich jedoch stets meist noch innerhalb
der Grenzen des Zulässigen, gelegentliche quasi-anarchistische Ausflüge, die
sie sich zu verschiedenen Zeiten, von der Kindheit bis ins Alter, durchaus
erlaubt, sind immer nur kurzzeitig. Und so durchlebt sie Kriege, eine wenig
ersprießliche Ehe, die großen Welt- und privaten Familienkrisen, Verfolgungen
unter den Nazis, den Absturz von der Fabrikantengattin zum proletarischen
Flüchtling und zieht am Ende ihres Lebens eine nüchterne, sogar böse Bilanz
gegenüber ihrer Familie. Der – natürlich wie immer mit Vorsicht zu genießende –
Klappentext zitiert ein Kritikerurteil, das das Buch als „ernst zu nehmenden
Unterhaltungsroman“ charakterisiert. Das kann man so sehen, sofern man es nicht
als vergiftetes Lob versteht, da die Bezeichnung „Unterhaltungsroman“ im
deutschsprachigen Raum nicht unbedingt als Qualitätsmerkmal gilt, aber so
unzutreffend hier nicht ist. Denn „Eine Frau“ schafft leider eben keine
exemplarische Figur, wie der Titel suggeriert, höchstens in ihrer
Einseitigkeit. Katharina Wüllner ist zwar immer ein bisschen neben der
‚offiziellen Linie‘, aber nie allzu sehr, sie ist – in der Konstruktion
Härtlings – damit aber auch stets in allen Zeitläuften auf der richtigen Seite.
Das ist zwar in der jeweiligen Situation eventuell unbequem, aber für die
heutigen Leser:innen, an die der Roman sich ja richtet, ist das unproblematisch
– und hier liegt das Problem. Katharina Wüllner verhält sich nie – wohlgemerkt,
aus heutiger Sicht – kontrovers, allenfalls bedingt bei ihrer Abschiedsrede von
der Familie. Sie bleibt stets sympathisch und gibt den Leser:innen keine
widerständigen Momente. Sie handelt, wenn man so möchte, erwartbar – und dies,
auf eingefahrene Muster, auf Lesererwartungen im Voraus zu reagieren, zeichnet
den Unterhaltungsroman aus, ernst zu nehmend oder nicht.
Wolfgang
Fienhold, Harald Brehm (Hg.): Die letzten 48 Stunden.
Es
war an sich eine reizvolle Idee: Die Herausgeber wandten sich an zahlreiche
Kolleg:innen, um sie zu bitten, eine Geschichte über die letzten 48 Stunden der
Menschheit zu verfassen, Form egal, Inhalt natürlich auch. Unschwer erkennt man
darin bereits die Entstehungszeit, eine typische Idee der als apokalyptisch
verschrienen und damit dem Klischee entsprechenden 1980er Jahre. In diesem Fall
der ersten Hälfte des Jahrzehnts, was bald zum Problem wird. Während der
Einstieg dank Georges Hausemer noch überrascht und die Erwartungen hochhält,
stellt sich bald ein Gefühl ein, das nur noch mit wenig Verblüffendem rechnet.
Für gut 80% der Autor:innen ist das Weltende gemäß dem Zeitgeist nur als
Atombombenabwurf und/oder -krieg denkbar. Das ist aufgrund der realen Bedrohung
und angesichts des historischen Hintergrunds verständlich, aber auf die Dauer
doch reichlich ermüdend. Die Reaktionen der jeweiligen Protagonist:innen der
Geschichten sind dementsprechend ähnlich vorhersehbar: Panik oder Gelassenheit,
Verzweiflung, Hass, Nutzen der letzten Chancen oder Resignation, sarkastischer
Humor oder Gewaltausbrüche, Sturz in Liebesabenteuer oder Rache an alten
Feinden. Hauptsächlich in Kurzgeschichten, mit einigen wenigen Ausnahmen in
Form von Lyrik oder Einaktern, schildern die Verfasser:innen ihre Vorstellungen
des Weltuntergangs und beweisen zwar alle, dass sie gut schreiben können, doch
nur wenige können von der momentanen Lage abstrahieren, selten hat sich Marxens
Diktum vom Sein, dass das Bewusstsein bestimmt, so deutlich niedergeschlagen.
Man darf vermuten, dass das Buch fünf Jahre später – nach dem Atomunfall von
Tschernobyl – oder den Debatten um das Waldsterben viele Geschichten zu diesen
Themen aufgewiesen hätte, genaugenommen könnte man den Wettbewerb alle paar
Jahre neu ausschreiben. Insgesamt wirkt der spannende Ansatz etwas verschenkt,
auf das Ende hin (!) quält man sich ein bisschen durch, froh, dass der Umfang
der einzelnen Texte überschaubar ist.
Erik
Fosnes Hansen: Momente der Geborgenheit.
Der
Titel klingt wie eine Mischung aus Kitsch-Ratgeber und
Rosamunde-Pilcher-Schmonzette, so dass man sich ohne Kenntnis des Autors Hansen
(geboren 1965) und dessen großartigem Titanic-Roman „Choral am Ende der Reise“
wohl im Normalfall schnellstmöglich am Regal dem nächsten Buch zuwenden würde.
Das wäre ein Fehler. Unter anderem, weil man hier gleich drei Romane in einem
bekommt. Der schrullige Altpatriarch ist tot. Wilhelm Bolt lebt zurückgezogen
nur mit einem Diener und einem Affen auf einem Gut, hält weiterhin die Fäden
seiner Geschäfte in der Hand und sich die Familie vom Leib, betreibt akribische
Studien und ist ein leicht bösartiger Kauz mit einer undurchschaubaren
Vergangenheit. Bis eines Tages durch Zufall seine Großnichte Lea bei ihm
auftaucht, eine aufmüpfige Ausreißerin, die er, anfangs, natürlich sofort
wieder loshaben will. Soweit die – scheinbare – und nicht gerade neue
Grundkonstellation, die beiden Außenseiter finden zusammen, die Beziehung ist
nicht unproblematisch, aber bald bilden die beiden ein auf gegenseitiger
Sympathie fußendes Bündnis. Doch dann stirbt Bolt, die Verwandtschaft rückt an,
es ist ein großes Erbe zu erwarten. Und tatsächlich, im Testament verteilt der
Senior großzügig die Aktienpakete an die wenig geschätzte Meute. Lea geht mit
einer einzigen Aktie fast leer aus. So scheint es. Doch sie bekommt den Gutshof
zum Nießbrauch, die Aufsicht über die Stiftung des Vermögens und vor allem ist
ihr Anteilsschein die einzige Vorzugsaktie, d.h. ohne ihre Zustimmung läuft
nichts. Die Familie rast, aber was macht Lea mit ihrer Verantwortung? Soll sie
sich wirklich, wozu sie schon Bolt überreden wollte und nun der Notar drängt, in
die Machenschaften des Geschäftslebens vertiefen? Als sie sich eines Tages
aufrafft, einen Blick in die Kontorbücher ihres Großonkels zu werfen, die er
jeden Tag pedantisch geführt hat, stellt sie fest, dass sie nicht
Zahlentabellen, sondern eine Sammlung von Meldungen über seltsame Zufälle aller
Art enthalten. Bolt arbeitete an einer monumentalen Studie über die Wirkungen
des Zufälligen. Bruch. Wir sind plötzlich auf einer einsamen Leuchtturminsel,
wo vor kurzem ein Schiff gestrandet ist. Offenkundig hat der Fehler des sonst
so zuverlässigen Assistenten dazu geführt, dass dies nicht rechtzeitig entdeckt
wurde – mit der Folge mehrerer Toter, die nun am Strand aufgelesen, gereinigt
und aufbewahrt werden müssen. Josefa, die junge Tochter, einziges Kind des Leuchtturmwärters,
wird an jenem Tag das erste Mal zum Waschen der Leichen mitherangezogen. Doch
sie entwickelt eine seltsame Krankheit mit Anfällen, womöglich Epilepsie, und
alles Leben auf der kleinen Insel verändert sich. Bruch: Wir sind plötzlich in
der italienischen Renaissance, am Hofe eines reichen Granden, der an einer
scheußlichen Krankheit leidet. Als lustigem Einfall kommt der Hofgesellschaft
bei einem dekadenten Bankett, eine schäbige Kirche zu besuchen, wo seit kurzem
ein angeblich wundertätiges, aber recht schlechtgemaltes Marienbild für
Aufregung sorgt. Das Bild ist wirklich scheußlich und die Freigeister der
Gesellschaft, darunter ein Kardinal, natürlich über den Köhlerglauben der
einfachen Bevölkerung erhaben. Doch tatsächlich verschwindet die Krankheit des
Gastgebers nach dem Besuch. Er lässt das Bild entfernen und will nun alles über
dessen Herkunft herausbekommen – was nicht leicht ist, da er nicht einmal den
Maler kennt. Drei Geschichten, die nicht nur so gut wie gar nicht
zusammenzuhängen scheinen – nur in der Leuchtturmepisode gibt es einmal eine
kurze, gut versteckte Anspielung auf das Gut des Bolt – und die, was viele
Leser:innen sicher frustrieren wird, nicht nur unverhofft auftauchen, sondern
jeweils auch völlig unerwartet ohne Auflösungen ebenso abrupt enden. Hansen
erweist sich einmal mehr als begnadeter Erzähler, was sich am besten wiederum
in der Leuchtturmgeschichte erweist, doch er verlangt seinem Publikum einiges
ab. Das an Paul Auster geschulte Präsentieren augenscheinlich zusammenhangloser
unvollendeter Textbrocken, dazu gelegentliche Einschübe des magischen
Realismus, wenn wir über das Denken des Affen erfahren, den Blickwinkel des
toten Bolt einnehmen oder kurzzeitig mit dem Teufel unterwegs sind. Letzteres
ist fast überflüssig, dazu ist die Renaissance-Episode in manchem etwas zu lang
und zu klischeehaft geraten, aber insgesamt ist der Roman ein Lesererlebnis der
besonderen Art, sofern man sich durch die Unabgeschlossenheit nicht abschrecken
lässt. Allerdings verspricht der Text an einer Stelle, dies sei nur der erste
Teil eines Werkes gewesen – aber darf man dem trauen?
Alexander
Häusser: Karnstedt verschwindet.
Noch
ein Erbe im Norden. Unerwartet hat Simon erfahren, dass sein früherer bester Freund
aus Schulzeiten, zu dem er allerdings seit gut zwanzig Jahren keinen Kontakt
mehr hatte, nicht nur verschwunden und für tot erklärt worden ist, sondern ihn
zum Erben eingesetzt hat. Er fährt also nach Dänemark, wo Karnstedt zuletzt auf
einem alten Bauernhof lebte, einem durchaus großzügigen Anwesen, wie Simon
feststellt. Doch was genau hat es mit Karnstedts seltsamem Abgang, der
offensichtlich im Norden des Landes ins Meer gegangen ist, was nur anhand
seines Autos und der zurückgelassenen Kleider am Strand belegt werden kann,
tatsächlich auf sich? Was hatte er für Gründe, ist er überhaupt tatsächlich tot
– und warum setzte er Simon als Erben ein? Die Nachfragen des Anwalts bringen den
unverhofft Bedachten dazu, auch über den Bruch ihrer Freundschaft zu
reflektieren, der Verbindung zweier Außenseiter, die an sich wenig miteinander
gemein hatten. Karnstedt, hochintelligent, aber durch eine Anomalie gezeichnet,
die verursachte, dass er keinerlei Körperbehaarung, also selbst als Kind schon
eine Glatze besaß, was den Mitschüler:innen Anlass genug für ständiges Mobbing
war, zog Simon in seine Fantasien über Entdeckungsreisen, aber auch in seine
Rache-Intrigen mit hinein, die später fatale Folgen haben werden. Simon kann
sich schließlich nicht mehr sicher sein: Handelte Karnstedt wirklich als Freund
oder war er, Simon, nur ein Puzzlestück in dessen raffinierten Plänen? Und da
ist noch ein Aspekt der Freundschaft der beiden, der ihn zutiefst verunsicherte
und mit zum Bruch führte. Nun, in Dänemark, wo er ursprünglich das Anwesen so
schnell wie möglich hatte verkaufen wollen, gerät Simon erneut quasi postum in
die Verstrickungen seines Freundes, aber auch seiner eigenen Vergangenheit mit
ihren düsteren Flecken. Und dann ist da noch die Nachbarin, die angeblich mehr
über Karnstedt wusste, aber regelrecht vor Simon flieht. Aus gutem Grund. Ein
richtig guter, absolut gelungener kurzer Roman Alexander Häussers (geboren 1960),
spannend, aber unaufgeregt, melancholisch, aber nicht larmoyant, mit kontroversen
Charakteren, flüssig geschrieben und leider viel zu wenig bekannt. Das muss
sich ändern.
Jenny
Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen.
Über
mangelnde Wahrnehmung musste sich Jenny Erpenbeck (geboren 1967) dank ihres
2015 erschienenen Buches „Gehen, ging, gegangen“ bald keine Sorgen mehr machen.
Er galt schnell als Roman der Stunde und erhielt dementsprechende mediale
Aufmerksamkeit sowie in der Folge beachtliche Verkaufszahlen. Hat er das Lob
verdient? Grundsätzlich ja, Erpenbeck hatte einen Roman über die schwierige
Situation von Flüchtlingen in Deutschland geschrieben, der zu einem Zeitpunkt
erschien, als das Thema mehr als kontrovers diskutiert wurde, zum Höhepunkt der
sogenannten Flüchtlingskrise. Anlass war ein Flüchtlingscamp auf einem
öffentlichen Berliner Platz, wo abgelehnte oder Asylbewerber mit unsicherem
Status für bessere Verhältnisse kämpften und auf ihre unsichere Situation
aufmerksam machten. Darüber zu schreiben klingt anstrengend und nach
didaktischer Thesenliteratur, den Eindruck könnte verstärken, dass die Autorin
daraus keinen besonders aufregenden Plot webt, womit sie aber auch der Gefahr
des Voyeurismus entgeht. Ihr Kniff ist ganz clever, sie wählt als Vermittlerfigur
einen gutsituierten, gebildeten und frisch pensionierten Literaturprofessor,
der mit seiner neu gewonnenen Freizeit nichts recht anzufangen weiß. Dass er
sich einmal in der Flüchtlingshilfe engagieren würde, hat ihm sicher nicht
vorgeschwebt, obwohl ihn das Geschehen in Berlin durchaus interessiert. Es ist
aber vorerst eher Neugier, die ihn treibt, sich näher mit den Vorgängen dort zu
befassen. Die ersten Versuche, der Besuch bei einer Flüchtlingsinitiative,
schrecken ihn eher ab. Doch das Ganze lässt ihm keine Ruhe, auch ein schlechtes
Gewissen spielt eine Rolle, und so geht er vor, wie er es von der Wissenschaft
gewohnt ist: als Studie. Er möchte die Geflüchteten zu ihrer Situation und
ihrer Herkunft, ihren Gründen und ihren Hoffnungen befragen. Nüchterne Distanz
lässt sich aber bei seinen Besuchen in der Asylunterkunft nicht
aufrechterhalten, der gutbürgerliche Professor erhält nicht nur immer mehr
Einblicke in das unsichere Dasein in Deutschland, sondern auch über die
Schicksale, die zur Flucht getrieben haben. Und es wird ihm immer mehr
abverlangt, dadurch aber auch sein dahinplätscherndes Pensionärsleben mit neuem
Sinn erfüllt. Es gibt vieles zu kritisieren an dem Roman, sprachlich ist er
keine Offenbarung, der Professor ist in vielem extrem naiv, seine Unkenntnis
der afrikanischen Verhältnisse ist geradezu unterirdisch, sicher muss man nicht
jede Hauptstadt des Kontinents kennen, aber seine Wissenslücken sind so
eklatant, er müsste sich seit Jahren von jeglichem Nachrichtenkonsum ausgeschlossen
haben – was er nicht hat, wie der Text selbst erwähnt. Diese Art Untertreibung
hat das Buch gar nicht nötig, die Funktion des Professors liegt ja nicht in der
Vermittlung geographischer Kenntnisse, sondern in der von Leben, die wir uns
nicht vorstellen können – hier sind wir nämlich alle naiv. Und darin liegt auch
die Kraft des Textes. Man mag darüber streiten, ob die überbordende
Hilfsbereitschaft von Verwandten und Bekannten, als die Unterkunft geräumt
werden muss und viele Asylbewerber in die Illegalität abtauchen müssen,
realistisch ist. Letztlich ist auch die Verzahnung der Biographie des
Professors mit seiner DDR-Vergangenheit eher überflüssig wie auch seine Affären;
was das Buch aber wertvoll und lesenswert macht, ist das sich Einlassen auf die
Lebenswege der Menschen, die hier angekommen sind. Hat das Buch also trotz
aller Mängel seinen Bestsellerstatus verdient? Es hat.
Philippe
Curval: Ist da jemand?
Clément
ist mit seiner Frau Nina in Paris unterwegs, die Stimmung ist gefährlich, man
ergeht sich in vorsichtigem versöhnlichem Überschwang, nachdem man sich wieder
einmal heftig gestritten hatte. Beim Bummeln passiert jedoch vor dem
Schaufenster eines Elektrogeschäftes ein Unfall, ein ausgestellter Fernseher
implodiert, es gibt Verletzte, Clément wird davongeschleudert, rafft sich aber
sogleich auf, um Nina zu helfen. Doch diese ist nirgends auffindbar. Ist sie in
Panik nach Hause gelaufen? Doch die Suche bleibt erfolglos. Weder kommt Nina in
der Nacht zurück, noch ist sie bei ihren Eltern, noch sonstwo anzutreffen. Zur
Polizei geht er nicht, es besteht immer noch der Verdacht, dass Nina ihm doch
noch mehr grollt als gedacht und wie in der Vergangenheit schon ihn mit
mehrtägiger Abwesenheit bestraft. Vollends mysteriös wird die Angelegenheit
jedoch, als ein Arbeitskollege nebenbei berichtet, er habe Nina gesehen, nur
kurz, dann sei sie wie in Luft aufgelöst gewesen. Cléments Suche deutet
tatsächlich darauf hin, dass seine Frau hin und wieder irgendwo auftaucht – und
schließlich begegnet er ihr selbst. Doch sie ist seltsam abwesend, geradezu
verzweifelt und obwohl er sie mit nach Hause nehmen kann, gelingt es ihm nicht,
sie zu halten. Umso überraschender, dass sie urplötzlich wieder da ist,
unverändert, mit der Erklärung, sie habe ihn nur einige Zeit schmoren lassen
wollen, von früheren Kurzzeitauftritten kann keine Rede sein. Ist der starke
Trinker Clément irgendwelchen Phantasien aufgesessen – oder phantasiert er
gerade die Rückkehr seiner Frau? Aber er weiß inzwischen, dass hinter dem
Vorfall mit dem Fernseher und dem Verschwinden Ninas mehr steckt, etwas nicht
nur für ihn Bedrohliches. Diese Nina kann nicht die echte Nina sein. Philippe Curval
(geboren 1929) ist bei uns kaum bekannt, in Frankreich dagegen eine Legende als
Erneuerer der heimischen Science-Fiction. Neben dem berichteten Plot verhandelt
der Roman zahlreiche weitere Themen, darunter prominent den Umbau der Stadt
Paris zur modernen menschenfeindlichen Metropole, illustriert u.a. am Abriss
und Neubau der Halles – passend zum Erscheinen des Buches Ende der
Siebziger – und anderer Bausünden, die Gentrifizierungsdebatten vorausnehmend, dazu
den Anarchismus, der sich zum Beispiel in Ninas Vater manifestiert. Zugleich Thriller,
ist die Lösung zu Ninas rätselhaftem Verschwinden zwar wieder klassische Science-Fiction,
auch nicht gerade glaubwürdig, aber höchst originell und trotzdem gut
nachvollziehbar. Ein außergewöhnliches Buch aus dem Nachbarland.