Elias Canetti: Das Buch gegen den Tod.
Es sollte sein wichtigstes, sein Hauptwerk werden: Das Buch gegen den Tod. Über Jahrzehnte hin hat Elias Canetti (1905 bis 1994) sich eigene Aphorismen, Gedanken, Anekdoten, aber auch Ausschnitte aus anderen Werken aufnotiert, um dieses Buch zu schreiben, das ihm so sehr am Herzen lag, ja, mehrfach äußerte er sich, dass ohne dessen Vollendung sein ganzes Schaffen wertlos, vergebens gewesen war. Nun, er hat es nie veröffentlicht – aber er hat es trotzdem, in gewisser Weise, geschrieben. Denn der vorliegende Band versammelt all diese Notizen aus über fünfzig Jahren. Obwohl somit unsystematisch, sieht man von der banalen Chronologie ab, ergibt sich daraus ein erstaunlich schlüssiges Werk – und eine Fundgrube sowieso. Es überrascht nicht nur das Fehlen einer ermüdenden Redundanz, die man bei einem an sich ja extrem monothematischen Buch erwarten könnte, dessen Grundanliegen immer gleichbleibt: Der erbitterte Kampf gegen den Tod. Natürlich verweigert sich Canetti nicht der biologischen Tatsache menschlicher Sterblichkeit, ihm geht es um das Verweigern jeglicher Todessehnsucht und Glorifizierung, um voreilige Akzeptanz oder Resignation gegenüber dem Tod. Nicht zu Unrecht sieht er diese bei vielen Schriftstellerkolleg:innen oder beispielsweise in der ganzen Tradition der Romantik, und er hält dies für falsch und gefährlich, eine Geringschätzung des Lebens, die böse Folgen zeitigen kann. Mit dieser Einstellung nimmt er, wie ihm natürlich bewusst ist, eine Außenseiterposition ein, die zudem ans Lächerliche grenzen könnte – als Ausdruck querulatorischer Ignoranz einer fundamentalen Tatsache. Dies geschieht nicht, Canetti ist zu intelligent für solche Fallen. Und zwar hat er auch sein Buch nicht in der angedachten Form schreiben können, aber er wurde auch nicht Opfer einer Schwäche, die er hin und wieder selbst befürchtete: Dass er im Alter selbst zu den Todesliebhabern werden könnte. Er blieb bis zuletzt seiner Sicht der Dinge und damit dem Kampf gegen den Tod treu.
Stephen King: Langoliers.
Brian Engle will eigentlich nur noch ins Bett, der Pilot hat aufgrund technischer Probleme einen anstrengenden Flug hinter sich, alles ging gut, aber nun kommt es noch schlimmer. Kaum angekommen, wird er benachrichtigt, dass seine Ex-Frau bei einem Brand ums Leben kam, übermüdet und mit Kopfschmerzen steigt er gleich in die Anschlussmaschine nach Boston, immerhin als Passagier, nicht vorne in der Kabine. Es besteht also doch noch Hoffnung auf etwas erholsamen Schlaf während des Nachtflugs. Doch als er aus diesem erwacht, erscheinen die vorherigen Katastrophen geradezu minimal: Das Flugzeug ist plötzlich so gut wie leer, nur ein knappes Dutzend Passagiere sind noch anwesend – im Gegensatz zur Crew, die komplett fehlt. Brian muss wieder ans Steuer und die seltsamen Anzeichen mehren sich: Nicht nur, dass nur die Mitfliegenden überlebt haben, die eingeschlafen waren, auch unten auf der Erde scheint niemand mehr da zu sein, worauf die fehlende Beleuchtung hindeutet. Die Ausweichlandung in Maine bestätigt den Verdacht, der Flughafen ist verlassen, aber auch sonst ist vieles anders, das Essen ohne Geschmack, die Luft schal, die Töne wie gedämpft. Und am Horizont scheint sich irgendeine Katastrophe abzuspielen, die langsam, aber unweigerlich näher rückt. Klar ist nur, dass man möglichst wieder von hier verschwinden sollte – aber wohin in einer leeren Welt? Mit einem fast treibstofflosen Flugzeug an einem Ort, wo nicht einmal Feuerzeuge funktionieren? King (geboren 1947) liebt es ja, in späteren Ausgaben über die Entstehungsgeschichte seiner Texte zu berichten und nur er kommt wohl auf die Idee, dass ein 310-Seiten-Werk nicht als eigenständiger Roman gelten kann – der fängt bei ihm offenkundig erst ab dem halben Tausend an. Die Grundidee der „Langoliers“ reicht an sich völlig aus, doch King hat einmal mehr zu viele Ideen, die er zusätzlich alle mit in die Handlung hineinpackt, vom anwesenden Psychopathen unter den Überlebenden, einem blinden Mädchen mit übersinnlichen Fähigkeiten, dazu genaugenommen die Langoliers selbst, eine manifest gewordene Kinderphantasie. Er bewegt sich damit immer etwas am Rande des Zuviel, schafft es aber – auch eine Kunst – immer noch so gerade im Bereich des Akzeptablen zu bleiben. Was natürlich an der hochspannenden Handlung liegt. Da er, wie erwähnt, der Meinung ist, Langoliers reiche nicht für ein eigenes Buch, wurde dem Band eine weitere Geschichte, „Das heimliche Fenster, der heimliche Garten“ hinzugefügt, gut 200 Seiten, in der ein Bestsellerautor von einem immer rabiater auftretenden Mann verfolgt wird, der ihn des Plagiats verdächtigt. Was bis kurz vor Schluss mehr als Thriller angelegt scheint, bekommt am Ende eine Wendung, die den Text dann doch dem Bereich der Phantastik zuordnet – ob diese (Nicht-)Auflösung allerdings gelungen ist, sei dahingestellt. In jedem Fall bekommt man das Erwartbare: extrem spannende Unterhaltung à la King.
Wladimir Tendrjakow: Anschlag auf Visionen.
Der junge Prophet Jesus hat in der Bevölkerung großen Erfolg: Er findet erste Anhänger, sein äußerst kluges und sanftmütiges Auftreten lässt auch Gegner verstummen. Als er in das Dorf Bethsaida kommt, trifft er zwar auf eine von einem örtlichen Gelehrten aufgehetzte Menge, doch auch dieses Mal bringt er durch seine ruhige, tiefgründige Art sein Gegenüber in Verlegenheit, der sich daraufhin nur noch mit einer Schimpftirade und dem Aufruf zur Beseitigung des vermeintlichen Lästerers zu helfen weiß. Die Zuhörer greifen zu Steinen und töten Jesus. Diese „erste Legende“ des Romans stellt sich als Beginn einer Versuchsanordnung heraus, die ein sowjetischer Physiker mit einer kleinen Gruppe Eingeweihter in Gang gesetzt hat. Von Zweifeln aufgrund privater Erlebnisse geplagt, der völligen Gleichgültigkeit in allen Dingen seines Sohnes und der Sinnfrage eines einsamen älteren väterlichen Freundes, stellt sich der durchschnittliche Physiker Grebin die Aufgabe, herauszufinden, was eigentlich den Gang der Menschheitsgeschichte beeinflusst. Mit Hilfe des modernsten Computers – wir befinden uns in den 1980er Jahren – erstellen er und seine Helfer ein Modell, in der eine entscheidende Persönlichkeit eliminiert wird: Jesus. Doch nur wenig verläuft wie erwartet: Zwar tritt Paulus wie vermutet als Religionsgründer an die Stelle des verschwundenen Christus, doch zeigen die Nachfolgelegenden, dass der Gang der Menschheitsgeschichte, insbesondere deren hoffnungsvolle Utopien, teils erschreckende Auswirkungen hat. Und sogar Jesus taucht wieder auf. Welche Schlüsse sind also aus dem gelungenen oder gescheiterten Experiment zu ziehen? Tendrjakows (1923 bis 1984) erst postum veröffentlichter Roman präsentiert ein philosophisches Spiel, das einmal mehr seinen etwas fatalistischen Grundtenor aufweist, aber natürlich davon getragen ist, diesen zu überwinden. Insgesamt ist das Buch wie sein deutscher Titel: Interessant, aber etwas sperrig.
Almut Gaugler (Hg.): Glockenschlag um Mitternacht.
Mal wieder eine Anthologie mit unheimlichen Geschichten, deren Titel nicht sonderlich aufregend ist, die aber insgesamt eine sehr gute Zusammenstellung bietet. Die Auswahl nimmt Erzählungen unterschiedlichster Länge aus zahlreichen Ländern auf, eine gelungene Mischung, auch was die inhaltliche Bandbreite angeht, sowohl vom Klassischen – Poe, Stoker, E.T.A. Hoffmann – bis in die Gegenwart von Stephen King, als auch vom eher satirisch Komödiantischen bis zum unerklärlichen Horror. Neben Bekanntem findet sich auch überraschend Neues. Zu letzterem zählen unter anderem eine Geschichte über ein in den zeitgenössischen USA lebendes Elternpaar von Zauberern, deren Sohn sich nicht der aussterbenden Tradition schwarzer Magie widmen möchte, sondern von einer Karriere als Buchhalter träumt. Verzweifelt bleibt den beiden nach vielen gescheiterten Versuchen, ihren Nachwuchs umzustimmen, nur noch die schreckliche Möglichkeit, einen bösartigen Dämon herbeizurufen, der die Erziehung übernehmen soll. Ein Höhepunkt ist auch Friedrich Gerstäckers „Der Dreizehnte“: Wie man festgestellt hat, befinden sich nämlich zufällig genau so viele Gäste auf einer Silvesterfeier einer ehrbaren Herrengesellschaft, was die Versammelten dazu reizt, dem Aberglauben ein Schnippchen zu schlagen, und durch ein Würfelspiel denjenigen zu bestimmen, der, laut populärer Vorstellung, im folgenden Jahr das Zeitliche zu segnen habe. Das Experiment scheint erst gut zu gehen, gerät dann ins Wanken, als der Gewürfelte tatsächlich schwer erkrankt, jedoch gesundet er wieder – um dann vor Ablauf der Frist doch zu sterben. Da der Zweck nun ins Gegenteil verkehrt wurde und sich die Abergläubischen erst recht bestätigt fühlen können, setzt die erneut vervollständigte Runde, mit leicht mulmigen Gefühlen, ihr Vorhaben fort, wieder wird per Würfel ein Dreizehnter ausgewählt. Auch er stirbt. Was nun? Klein beigeben und abbrechen oder das nächste Würfelspiel riskieren?
Paul Auster: Winter Journal.
Nach Erreichen des 64. Lebensjahres fühlt sich Paul Auster (geboren 1947) erstaunlicherweise ziemlich alt und findet es an der Zeit, Bilanz zu ziehen. Erstaunlich deshalb, da Auster ja nun wahrlich nicht wie ein Frührentner aussieht und für gewöhnlich ein Alter von 64 Jahren längst nicht mehr mit einsetzender Vergreisung in Verbindung gebracht wird. Gleichwohl nimmt er sein Vorhaben sehr ernst, fast schon buchstäblich im Sinne einer Bilanz, denn er schreibt keine klassische Autobiographie im braven chronologischen Erzählstil, sondern listet diverse prägende Ereignisse auf, wobei er offensichtlich einer nietzscheanischen Erinnerungskultur folgt, da er sich überwiegend auf negative Erlebnisse konzentriert: Verletzungen und Krankheiten, Todes- und Unfälle, dazu seine nicht wenigen Umzüge, eher knapp gefasst Aufenthalte in anderen Ländern, seine beiden Ehen – eine schlimm, eine schön – und seine Besuche bei Prostituierten, wobei letzteres zu den eher fragwürdigen Episoden des Buches gehört, nicht wegen der Tatsache an sich, sondern wegen ihres hier fast schon klischeehaft verklärten Zuges: unheimlich hübsche exotische und selbstlose Nutte in Paris. Ansonsten geht Auster jedoch, wie gesagt, meist hart mit sich ins Gericht, erspart sich und uns wenig, wobei man sich natürlich durchaus fragen darf, was zum Beispiel die Aufzählung sämtlicher Verletzungen und Krankheiten den Leser:innen vermitteln soll. Sicher geht es um die Erfahrung von Körperlichkeit, Auster ist ja nicht der alte Mann von nebenan, der uns seine ganzen Gebrechen und Arztbesuche auftischt, auch wenn er bisweilen schon etwas daran erinnert, vor allem, da das Thema stets wiederkehrt. Nur das Auster naturgemäß der bessere Erzähler ist. Es handelt sich wohl auch um das Erstaunen, all diese buchstäblichen und metaphorischen Verwundungen überstanden zu haben. Und das Wissen, dass da noch so einiges mehr folgen wird, wie der vieles – unter anderem auch den Titel – erklärende letzte Satz des Buches fast schon drohend unterstreicht: „You have entered the winter of your life“.