György
Dalos: Die Beschneidung.
Robi
Singer lebt im Budapest der 1950er Jahre – zwischen Kriegsende und Aufstand. Er
gehört einer Gemeinschaft an, die es eigentlich nicht mehr geben sollte, wenn
es nach dem Willen der deutschen Besatzer und den mit ihnen verbündeten
ungarischen Pfeilkreuzlern gegangen wäre: der einst in der Stadt bedeutenden
jüdischen Gemeinde. Der Holocaust hat diese drastisch reduziert, auch Robi lebt
unter der Woche im Waisenhaus, nur am Wochenende kehrt er zu seiner Mutter und
Großmutter zurück, die in einer kleinen Zweizimmerwohnung hausen. Viele
Verwandte sind ermordet worden, nun heißt es mehr schlecht als recht
zurechtzukommen. Robi hat also neben den üblichen Problemen des Heranwachsenden
– als wären die nicht schon schlimm genug – noch allerlei andere, grundlegende
Fragen zu beantworten. Was ist er überhaupt? Jude? Ungar? Kommunist? Die einen
sagen so, die anderen so. Und nicht nur dies erweist sich als kompliziert. Da
er aufgrund des Kriegsgeschehens einst nicht beschnitten werden konnte, so
steht ihm dies nun reichlich verspätet noch bevor. Eine Vorstellung, die ihm
nicht gerade behagt. Zudem ist er in die heimliche Liebschaft seiner Mutter
miteingeweiht. Anders als die Großmutter. Die hätte zwar an sich rein gar
nichts gegen einen neuen Mann im Haus, aber wohl doch gegen einen wesentlich
älteren, leider bereits verheirateten. Der stirbt dann auch noch überraschend,
die ohnehin stark psychisch belastete Mutter darf aber ihre Trauer nicht
öffentlich zeigen. Eine Art Coming-of-Age-Geschichte unter ganz besonderen Umständen,
von György Dalos (geboren 1943) auf sanft komische Art erzählt, durchaus mit
bösem Witz, aber auch großer Liebe zu seinen Figuren.
Raymond
Carver: Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden.
Es
wäre interessant zu erfahren, was eine allgemeine Umfrage über Raymond Carver
ergäbe? Abgesehen von der vermutlich – leider – großen Menge, die nie von ihm
gehört haben dürften, käme wohl eine ganze Anzahl an Missverständnissen heraus.
Man wird ihn wohl für einem Krimiautor halten, mit dem „Malteserfalken“ in
Verbindung bringen und ihn höchstwahrscheinlich in der Zwischenkriegszeit
ansiedeln. Nun gut, die ersten beiden Punkte gehen auf die Verwechslung mit
Raymond Chandler zurück, die falsche Einordnung dürfte auch etwas mit seinem
frühen Tod zu tun haben, schließlich könnte Carver durchaus noch in hohem Alter
unter uns weilen, 1938 geboren, starb er jedoch bereits 1988. Hinterlassen hat
er zahlreiche Kurzgeschichten, ein Genre, in dem er es zu großer Meisterschaft
gebracht hatte. Dabei macht er es den Leser:innen nicht leicht. Zwar erzählt er
für gewöhnlich klassisch, doch seine Charaktere sind sperrig, nicht unbedingt
sympathisch. Ihr Verhalten ist oft schwer deutbar, es wird viel aneinander
vorbei geredet, die Frage des Titels – und einer der Geschichten – stellt sich
gewissermaßen immer wieder. Insgesamt sind Carvers Stories vorwiegend düster,
interessiert am schwer durschaubaren menschlichen Verhalten, das nur selten
menschlich ist. Besonders eindrucksvoll, um nur ein Beispiel herauszuheben, in
„So viel Wasser, direkt vor der Tür“, in der ein Mann von einem Angelausflug
zurückkommt, bei dem sie eine Leiche im See fanden. Statt sofort die Polizei zu
benachrichtigen, setzten die Kumpanen aber ganz wie gewohnt ihren Angeltrip
fort.
Birgit
Vanderbeke: Gut genug.
Irgendwie
war sie dann schwanger. Ausgerechnet in einer Zeit, in der jeder das
Kinderkriegen für absolut unverantwortlich hält. Und die werdende Mutter ist an
sich der gleichen Meinung, es sind schließlich die Achtziger Jahre, persönliche
und allgemeine Apokalypsen werden immer und überall vermutet – und von Zeit zu
Zeit treten sie sogar ein, etwa in Tschernobyl. Die persönliche Katastrophe ist
jetzt allerdings erst einmal das unverhoffte Kind. Was soll man damit anfangen?
Wozu ist es nutze? Und kann man ihm überhaupt gerecht werden, wenn man doch
nichts von ihm weiß? Andererseits scheinen alle anderen ganz viel Bescheid zu
wissen, jedenfalls sind sie ständig mit allerlei Rat und Vorschlägen bei der
Hand. Die helfen aber nur in den seltensten Fällen weiter. Man bleibt auf sich
gestellt, auch als das Kind schließlich da ist. Was will es? Und warum benimmt
es sich so komisch? Statt Schlaf gibt es nun Ärger mit den Nachbarn, wegen der
Schreierei. Der Freundeskreis verändert sich, die kinderlosen Bekannten verschwinden,
die mit Kindern tauchen plötzlich überall auf, was nur zur Folge hat, das man
irgendwann genaugenommen gar keine Freunde mehr hat. Stattdessen findet man
sich auf Spielplätzen wieder. Und muss ständig erklären, dass das Kind nichts ‚hat‘.
Die Eltern dagegen nur noch Stress. Zum Glück für ihn bringt der eigene
Nachwuchs sich alles mehr oder weniger selbst bei. Herrliche Satire der leider
vor kurzem verstorbenen großartigen Birgit Vanderbeke (1956 bis 2021).
Jean
Ray: Das Tor zum Meer.
Genretechnisch
würde dieses Buch eher noch in den Vormonat fallen, ist doch Jean Ray (1887 bis
1964) ein Klassiker der Phantastischen Literatur. Der Belgier, bei uns erst
nach seinem Tod erst langsam wiederentdeckt, ist gewissermaßen im Wortsinne
eine Legende, denn nicht nur versteckte sich der ganz unspektakulär in der
städtischen Verwaltung Arbeitende hinter zahlreichen Pseudonymen, er strickte
um seine Biographie eine solche Menge von Anekdoten, dass er nach außen hin als
weitgereister Abenteurer erschien, dessen Leben selbst kaum weniger an
phantastischen Erlebnissen aufwies, obwohl er seine Heimat kaum je verlassen
hatte. Ray – auch dies ein Pseudonym – war folglich ein gewiefter Mythomane im
besten Sinn, was naturgemäß seinen unzähligen Büchern zugute kaum. Deren Menge
ist wiederum so unüberschaubar, auch dank der vielen Decknamen nicht immer
leicht zuzuordnen, dass bislang kein vollständiges Werkverzeichnis zu
erarbeiten war. Als sein Meisterwerk gilt 'Malpertuis', ein Roman über das
Weiterleben der antiken Götter, das nicht weniger meisterlich vom flämischen
Autorenfilmer Harry Kümel in Szene gesetzt wurde. „Das Tor zum Meer“ versammelt
zwei Unterwassergeschichten Rays, in denen jeweils tief unter der See bizarre
Welten entdeckt werden. „Das Geheimnis der Sargassen“ startet ganz im Stil
eines Kolportagethrillers, als Al Beckett von einer Verbrecherorganisation
entführt wird, die ihn scheinbar mit einem bösartigen Genie verwechselt. Eine
Theorie, an die auch die Polizei glaubt. Als ihm die Flucht gelingt, landet er
auf einem U-Boot, das bald immer tiefer Richtung Meeresgrund sinkt. Dort ist er
nicht allein. Im titelgebenden „Tor zum Meer“ finden Schüler eines englischen
Internats am Strand ein seltsames Manuskript. Als ihr Lehrer es schließlich zu
entziffern vermag und es von einem Geheimnis bei den schottischen Orkney-Inseln
spricht, bricht er mit einem Schüler auf, um der Sache buchstäblich auf den
Grund zu gehen. Beide Geschichten strotzen vor Einfällen, trotzdem sind sie ein
mit der Zeit eher anstrengendes Vergnügen, fast schon zu überfrachtet mit
zusätzlichen Überraschungen, dabei über Strecken reichlich gemächlich erzählt,
mit vielen Beschreibungen, was die Spannung oft gehörig einbremst. Eher
Jules-Vernesche-Abenteuer als gruselnde Schrecken.
Marie
& Joseph: Bube, Dame, As, Gewehr.
Mit
dem Wissen, eine sehr lange und anstrengende Bahnfahrt vor sich zu haben,
überlegt man sich genauer, welche Lektüre einen auf dieser begleiten soll. Auch
wenn man nicht unbedingt ein Liebhaber der Gattung ist, bietet sich hierfür statt
Fontane oder Heine eher ein Krimi an, der sollte bestenfalls spannend sein,
unterhaltend und bei erwartbar zunehmender Müdigkeit trotzdem nicht zu
anstrengend. Man greift folglich zu einem aus irgendeinem Bücherschrank
stibitzten Exemplar einer renommierten Reihe eines noch renommierteren
Verlages, in der Hoffnung, diese Anforderungen erfüllt zu sehen. Man merkt nach
wenigen Seiten, man hat einen großen Fehler gemacht. „Bube, Dame, As, Gewehr“,
der halb geklaute und mit dem Original nichts gemeinsam habende Titel – der
sich allerdings inhaltlich begründen lässt – des womöglich zurecht unter
Pseudonymen schreibenden Autorenduos Marie & Joseph, kommt als
zeitgenössisch kritische Sozialstudie daher, handelnd von kriminellen
Jugendlichen auf dem französischen Land, die sich bislang eher in
Kleindiebstählen und ihren aufgeblasenen Erzählungen darüber gefallen. Durch
Zufall erfahren sie von den reichlich schlecht versteckten Goldbarren eines
Dorfnotars, eine verführerisch leichte Beute, wie es scheint. Eine Pariser
Journalistin, die gerade vor Ort ist, um eine Reportage zu schreiben und
hierfür den zuständigen Sozialarbeiter um Hilfe und Informationen bittet,
erfährt von dem geplanten Coup, und drängt letzteren, einzugreifen, um den
Überfall zu verhindern. Der tut dies als Protzgerede der Jungs ab und lehnt
sich zurück. Die Katastrophe geschieht, aber der Sozialarbeiter reagiert auf
die Vorwürfe anders als gedacht. Das klingt sogar noch halbwegs spannend, so
kurz zusammengefasst. Ein ganz klein bisschen wird es das auch. So nach 100 –
von insgesamt 150 – Seiten. Aber auch nur ein kleines bisschen, selbst der
große Twist des Plots überrascht einen als Leser:in kaum. Und bis dahin muss
man sich ja auch erst einmal durchgequält haben. Erstaunlich ist es schon, wie
Autorin und Autor glauben können, dass einem eine Person, die unglaublich von
sich überzeugt ist, sich selbst für enorm cool hält und nur in prätentiös
zynischen Phrasen redet, sympathisch sein könnte. Ausgerechnet den
Sozialarbeiter hat man als Protagonisten ausgewählt, der mit
pseudo-tiefgründigem Schwulst und gestelzten Zitaten uns Leser:innen lenken und
der damit bei den Jugendlichen ankommen soll. Der zwischen Sozialkitsch und
althergebrachten Klischees, bestens verkörpert in der natürlich unglaublich
hübschen, aber zickig-intellektuellen Hauptstadtjournalistin ohne Ahnung von
den Zuständen in der Provinz, aber mit Helferinnensyndrom, metaphysischem
Geschwurbel – „das Rad“ – gibt einerseits Realismus vor, aber auch Jugendliche,
die von „Weihern“ reden und in typischer Manier als kuriose menschliche
Monstrositäten präsentiert werden. Die Lust an der delektierenden Ausmalung
von Gewalt fehlt natürlich auch nicht. Es gibt eine Unmenge hervorragender
französischer Literatur, die es leider nie über den Rhein schafft. Wäre dagegen
dieser Schrott nie übersetzt worden, man hätte nichts vermisst.
Otfried
Preußler: Krabat.
Bislang
musste sich der 14jährige Krabat als Bettler durch die Lande schlagen, als ihm
mehrfach eine heimliche Stimme zuflüstert, er solle die Mühle im Koselbruch bei
Schwarzkollm aufsuchen, eine Aufforderung, die er schließlich befolgt. Dort
erwartet ihn das Versprechen einer Anstellung als Lehrjunge, Teil einer Gruppe
von mit ihm zwölf Müllerburschen, unter dem strengen und undurchschaubaren
Meister. Krabat nimmt an, besser als Betteln sei dies allemal, bald findet er
im Altgesellen Tonda und dem etwas dümmlichen Juro auch Freunde, obwohl enge
Kameradschaft unter den Jungen vom Meister nicht gern gesehen wird. Die Mühle
hat in der Gegend einen schlechten Ruf, zum Umland besteht kaum Kontakt, auch
die üblichen Zunftbräuche ignoriert der Besitzer. Sein Getreide wird ihm von
einem alle Monate einmal nachts auftauchenden Fuhrmann abgenommen. Das ist, wie
Krabat bald feststellt, nicht das einzig Ungewöhnliche, denn der Meister lehrt
nicht nur das Müllerhandwerk, sondern auch die schwarze Magie. Krabat ist fasziniert,
ahnt aber zugleich die Gefahren dieser Kunst, die nicht nur in der völligen
Abhängigkeit vom Meister besteht, sondern auch in dem düsteren Ritual, dass
einer der Jungen jedes Jahr geopfert werden muss. Ein Entkommen aus der Mühle
scheint unmöglich zu sein. Otfried Preußlers (1923 bis 2013)
Jugendbuchklassiker über die Verführbarkeit der Jugend – ein Phänomen, mit dem
er sich aus eigener Erfahrung nur zu gut auskannte – beruft sich auf Motive
alter Volkssagen aus der Lausitz und verarbeitet diese zu einer spannenden
Geschichte um das genannte Motiv der Verführbarkeit – schließlich sind die
Möglichkeiten, die der Meister bietet, tatsächlich äußerst attraktiv – und der
Freundschaft. Denn das eigene Fortkommen wird mit dem hohen Preis des Lebens
anderer bezahlt. Nicht im mindesten angestaubt.
Theodor
Schübel: Bischoff – Eine Karriere.
In
den 1980er Jahren war Theodor Schübel (1925 bis 2012) ein erfolgreicher und
vielgelesener Schriftsteller, der, wenn man solche Kategorisierungen schon
vornehmen will, zur intelligenten gehobenen Unterhaltungsliteratur im besten
Sinne zu zählen war. Obwohl zugleich auch als Drehbuch- und Bühnenautor gut im
Geschäft, dürfte sein Name heute kaum noch jemand geläufig sein. Verdient hat
er dieses Vergessen nicht, wie „Bischoff – Eine Karriere“ einmal mehr belegt. Schübel
widmet sich hier dem Wirtschaftsroman, folglich einem Genre, das eher nicht
als Selbstläufer gelten kann. Nun könnte man auf die Idee kommen, dass gerade
dieser Autor, der gerne seine Heimat als Schauplatz wählte, ohne provinziell zu
sein, auf eine Niedergangsgeschichte der damals ins Schlingern geratenden
Industrien des östlichen Oberfrankens – Porzellan, Textil, Holz – setzt, ein ja
durchaus spannendes Thema. Doch Bischoff, sein Protagonist, wechselt zwar in
diese Region, doch in einen mittelständischen Familienbetrieb für Maschinenbau.
Er wurde persönlich vom Inhaber, Heinrich Angermann, angefragt, der ihn mit
guter Bezahlung und besten Karriereaussichten auf den Posten des Assistenten
des Chefs lockt. Überredung ist kaum nötig, denn das genau ist es, was Bischoff
reizt: Hervorragender Verdienst, Aufstiegschancen, aber auch die Aussicht, sich
mit dem als schwierig geltenden Angermann auseinandersetzen zu müssen – und
dabei von ihm zu lernen. Im Prinzip geschieht auch all dies. Bischoff macht sich
bald unentbehrlich, gewinnt im Ansehen seines Chefs, verschafft sich den
Respekt bei der Belegschaft, der Konkurrenz, verdient außerordentlich gut. Dass
er nicht bei allen beliebt ist, nimmt er zugleich als selbstverständlich wahr,
wie auch als Zeichen seines Erfolgs. Die Zusammenarbeit mit Angermann senior
ist wie erwartet nicht reibungslos, aber zunehmend von einer distanzierten
Loyalität und wachsendem Vertrauen geprägt. Bischoff, der sich zurecht bestätigt
sehen kann und dessen Ehrgeiz keineswegs abnimmt, übersieht allerdings die sich
ansammelnden Kollateralschäden auf seinem Weg, für die ihm jegliches Gespür
abgeht: Die Entfremdung von seiner Frau, die er als allzu selbstverständliche
Unterstützerin immer mehr aus dem Blick verliert, bis sie ihn verlässt, die
vereinsamenden Eltern, die er kaum noch besucht, das Vergrätzen von Freunden, so
dass ihm nur noch oberflächliche Bekanntschaften übrigbleiben. Warnanzeichen
dieses völligen Aufgehens in der Firma ignoriert er, selbst wenn sich Dramen
direkt vor seinen Augen abspielen, wie das des vom Vater gegen dessen Neigungen
in die Unternehmensleitung gezwungenen Sohnes Dr. Angermann. Wie wenig
Menschenkenntnis Bischoff besitzt, zeigt sich zudem in seiner Zuneigung zur
Frau des Juniorchefs, weder sieht er ein, warum diese seine Avancen abwehrt,
noch, dass diese von vorneherein aufgrund der völlig anders gearteten
Mentalität Regine Angermanns zum Scheitern verurteilt waren. Es gibt nur einen
Menschen, mit dem Bischof ähnliche Gedanken teilt: Den Patriarchen Angermann,
der – nach dem Tod seines Sohnes – nur in ihm seinen Nachfolger erkennen kann. Was
Schübel gelingt, ist die Schilderung seiner Hauptfiguren in ihrer Ambivalenz. Selbst
als ganz am Ende der inzwischen kranke und zurückgetretene Angermann mit einem
Satz der Art 'nun könne er sich mit seinem Geld trotz allem keine Zeit mehr
kaufen' in die Klischeefalle zu tappen scheint, vermeidet er – Schübel – dies,
indem er den Senior weiterhin eben nicht resigniert oder voller Reue zeigt. Er
ist und bleibt der Meinung, etwas geschaffen und damit ein sinnvolles Leben
geführt zu haben. Bischoff ist der gleichen Meinung. Den Leser:innen bleibt es
überlassen, hierüber zu urteilen, was ihnen der Autor alles andere als einfach
macht. Zwar scheint man hin und wieder dessen Neigung zu erahnen, doch zugleich
scheint auch er in seinen Sympathien zu schwanken. Damit ist er seinen
Leser:innen folglich keineswegs voraus, was das Faszinierende des Romans
ausmacht, dessen Konflikte teils zudem noch immer mehr als aktuell sind.
Vielleicht sollte der Verlag einmal über eine Neuauflage nachdenken.
The
Magazine of Fantasy and Science Fiction: Mythen der nahen Zukunft.
Vor einiger Zeit hatten wir bereits über einen der Sammelbände dieser Reihe
gesprochen, die deutschen Leser:innen eine Auswahl aus dem US-amerikanischen
„Magazine of Fantasy and Science Fiction“ vorstellt und dabei zwei Anmerkungen
gemacht: Einerseits, dass man sich vom englischen Titel nicht in die Irre
leiten lassen sollte, da sehr wenig Science Fiction und so gut wie keine
Fantasy im europäischen Sinne in diesen Best-of-Büchern auftaucht, andererseits
war die damalige Ausgabe eher enttäuschend, bestenfalls von durchschnittlicher
Qualität mit Tendenz nach unten. Ersteres gilt erneut für diesen Band,
abgesehen von der ersten Geschichte gibt es kaum traditionelle Science Fiction
– und genaugenommen ist auch die titelgebende Erzählung dieser nicht
zuzurechnen, stammt sie doch aus der Feder von niemand geringeren als J.G. Ballard.
Dies sagt bereits einiges über den Qualitätsstandard – sprich Punkt zwei – aus,
denn auch wenn Ballard hier eine, wenn man so möchte, seiner Standarddystopien
abliefert, so ist ein Ballard eben doch ein Ballard. Die anderen Geschichten
widmen sich wiederum eher der Phantastik und dem Horror, aber dieses Mal halten
sie durchaus das Niveau und erfreuen mit Abwechslung, guter Unterhaltung und
überraschenden Ideen. Einen äußerst langweiligen Ausrutscher nach unten gönnt
sich ausgerechnet Stephen King – der zudem mit seiner Erzählung der
eigentlichen Fantasy am nächsten kommt – positiv hervorgehoben dagegen seien
Richard A. Lupoffs „Die Dokumente im Fall Elizabeth Akeley“ dank seiner
verrätselten Struktur und die böse Satire von Altmeister Harlan Ellison über
einen äußerst unsympathischen zynischen Schriftsteller namens Harlan
Ellison.
Anne
Tyler: Der leuchtende blaue Faden.
Denny
ist das Problemkind der Familie Whitshank. Seit seinem Auszug ist nur noch wenig über ihn
zu erfahren, er ist kaum mehr erreichbar und wenn, gibt er wenig Auskunft, er
scheint ständig umzuziehen, den Job ebenso wie die Freundinnen zu wechseln.
Taucht er plötzlich doch zuhause in Baltimore auf, ist nichts aus ihm
herauszubringen, meist ist er schnell beleidigt und zieht wortlos wieder ab,
nur um lange Zeit nichts mehr von sich hören zu lassen, bis seine Eltern und
Geschwister von einer Hochzeit und einem Kind erfahren, die Ehe hält natürlich
nicht lange. Anfangs scheint sich der Fokus von Anne Tylers (geboren 1941)
Roman auf Denny zu konzentrieren, doch der bildet nur die Einleitung, den
Hintergrund und auch das Ende der Geschichte, die sich zusehends auf die beiden Eltern
Abby und Red konzentriert und auf deren langsamen Kontrollverlust. Denny ist dabei
nur eine ihrer Sorgen, noch immer, jetzt jenseits der Siebzig. Red Whitshank,
Besitzer einer kleinen Baufirma, in der er noch immer mithilft, ist inzwischen
schwerhörig, auch körperlich kann er nicht mehr alle die Arbeiten, die er
eigentlich so liebt, allein übernehmen. Noch mehr Anlass zu der Frage, ob die
Eltern noch allein ihren Alltag im Griff haben, bietet allerdings Abby, die
seit einiger Zeit unerklärliche Aussetzer hat, in denen sie sich selbst im
Nachhinein nicht mehr erklären kann, warum sie etwas getan hat. Medizinisch
scheint sie gesund – Alzheimer oder ähnliches ließ sich nicht feststellen –
doch das Phänomen ist nicht vorübergehend. Ihr Sohn Stem – eigentlich ein
Adoptivkind, nur das es nie eine offizielle Adoption gab – zieht mit Familie ein,
eine Lösung, von der keiner so recht überzeugt ist und die noch problematischer
wird, als ausgerechnet der stets unverantwortliche Denny mal wieder auftaucht,
um zu helfen, wie er sagt. Aufgrund seines Lebensstils und seiner ewigen
Eifersucht auf Stem, der im Geschäft des Vaters arbeitet, wird das
Zusammenleben nicht einfacher. Schließlich stirbt Abby bei einem Unfall während
eines ihrer Aussetzer. Für alle stellt sich nun die Frage, wie es weitergehen
soll, schwere Entscheidungen stehen an. Tylers Familiengeschichte wird noch
durch den Rückblick auf den Beginn der Beziehungen von Abby und Red und von
dessen Eltern Junior und Linnie Mae während der Weltwirtschaftskrise
angereichert, wobei sich auch hier die Kunst der leisen Enthüllungen offenbart,
die einen Großteil der Faszination des Romans ausmacht – dessen andere Stärke
ist die liebevolle Charakterisierung der Figuren, selbst für eher unangenehme
Personen wie Junior gelingt es Tyler, Verständnis zu erwecken. Obwohl sie – zu
Unrecht – etwas unter dem großen Radar der ansonsten in Deutschland so
beliebten amerikanischen Erzähler:innen läuft, hat Anne Tyler sich hierzulande mittlerweile
eine treue Leserschaft erschlossen. Allerspätestens nach diesem Buch weiß man
warum.