Franz Rottensteiner (Hg.): Gespenstergeschichten aus Nordamerika.
Déjà vu: Wir setzen unsere Lesereise mit Gespenstergeschichten mithilfe der Reihe des Fischer-Verlages fort und einmal mehr zeichnet niemand geringeres als Franz Rottensteiner verantwortlich für den Band, der sich diesmal nach Nordamerika begibt, was in diesem Fall mit den USA gleichzusetzen ist, kanadische Autor:innen tauchen wenig überraschend, trotzdem aber bedauerlich, nicht auf. Naturgemäß leidet diese Anthologie nicht an dem oft lahmen Einstieg anderer Bände, eine Sagen- oder Legendentradition existiert in diesem Sinne nicht, zumindest nicht jenseits der ebenfalls nicht vorkommenden indigenen Bevölkerung. Im Gegenteil, teils wird diese erst durch die ersten Autoren mitetabliert, etwa Washington Irving, der auch in diesem Buch fast erwartungsgemäß den Anfang machen darf. Rottensteiner fällt es aufgrund des überreichen Angebots auch wesentlich leichter, das hohe Qualitätsniveau zu halten, kein Wunder, wenn man mit Nathaniel Hawthorne, Ray Bradbury und einem Großmeister des Genres wie Ambrose Bierce aufwarten kann – und natürlich dem wohl unangefochtenen Genie der ganzen Gattung überhaupt: Edgar Allan Poe. Vermischt mit einigen unbekannteren Schriftsteller:innen ergibt sich dementsprechend eine solide Mischung und damit insgesamt einer der gelungeneren Bände der Reihe.
David Lodge: Therapy.
Laurence Passmore könnte eigentlich zufrieden sein. Er ist glücklich verheiratet, feiert gerade große Erfolge als Drehbuchautor einer Sitcom und ist dementsprechend gut finanziell ausgestattet, er wohnt in einem netten Häuschen in einer ruhigen Londoner Vorstadt und hat nebenher sowohl eine Wohnung in der City als auch die dazugehörige junge Freundin, mit der ihn jedoch nur eine platonische Beziehung verbindet, weil er seine Frau liebt und nicht betrügen möchte. Dass er seit neuestem immer mal wieder stechende Schmerzen im Knie hat und seine Figur etwas außer Form geraten ist, kann ebenfalls nicht der Grund sein, warum er sich unglücklich fühlt. Gleichwohl sucht er diesem Zustand mit drei verschiedenen Therapien Abhilfe zu schaffen: Sitzungen bei einer klassischen Psychologin, sowie einer Aromatherapie und Akupunktur. Was anfangs wie eine ganz lustige Satire auf die Arbeit des Fernsehens, die Midlife-Crisis bessergestellter Großstädter und ihrer Neurosen daherkommt, nimmt eine abrupte Wendung, als Passmore urplötzlich echten Grund bekommt, depressiv zu werden: Zumindest für ihn völlig überraschend erklärt ihm seine sicher geglaubte Ehefrau, ihn verlassen zu wollen. Und auch der Job ist bedroht. Da eine der Hauptdarstellerinnen in der nächsten Staffel nicht mehr auftreten möchte, soll er sie elegant aus dem Skript schreiben. Doch Passmore verweigert sich einer einfachen Lösung, da er sie für unglaubhaft hält. Die TV-Anstalt stellt ihn Aussicht, ihn zu ersetzen, wenn er nicht binnen weniger Wochen eine akzeptable Idee präsentiert. Doch der hat gar keine Lust, seit er durch Zufall auf die Schriften Kierkegaards gestoßen ist, die ihn anfangs nur wegen ihrer Titel ansprachen, fühlt er sich diesem mehr und mehr seelenverwandt, und würde lieber dessen Leben verfilmen. Kurz nach dem Bruch mit seiner Frau jedenfalls stürzt sich Passmore in mehrere Abenteuer, die für ihn ausnahmslos peinlich enden, vor allem der Versuch, im Nachhinein die eheliche Treue aufzukündigen, in dem Gefühl, jahrzehntelang etwas verpasst zu haben. Wieder halbwegs auf dem Dampfer, geht er noch weiter zurück, auf die Suche nach seiner ersten Liebe, dem scheuen katholischen Mädchen aus der Nachbarschaft. Und er findet sie, allerdings weit weg in Spanien. Wie schon erwähnt scheint David Lodge (geboren 1935) uns anfangs eine zeitgenössische Satire auf die frühen 1990er Jahre zu präsentieren, durchaus amüsant, aber im Rahmen des Erwartbaren, aber das Erwartbare ist es gerade nicht, was den Roman ausmacht, denn Lodge führt uns mehrfach aufs Eis. Das abrupte Eheende ist nicht nur für Passmore überraschend, weniger wiederum sein peinliches Verhalten danach, von dem wir aber – ein äußerst cleverer literarischer Kniff, wie sich herausstellen wird – gar nicht wissen, ob es je so stattfand. Der dritte Teil, die Suche nach seiner ersten Freundin, streift gekonnt am Rande des Kitsches entlang, das Ergreifende überwiegt jedoch. Am Schluss bietet Lodge auch noch den Ausweg in gleich zwei Happy Ends, die er beide nicht nimmt. Ob die dritte Lösung ein Happy End ist, darf jede:r selbst entscheiden. Und als Bonus des gesamten Buches: Man bekommt so nebenbei anschaulich und nachvollziehbar auf sehr unterhaltsame Art einiges über die komplexe Philosophie des großen dänischen Philosophen Sören Kierkegaard mitgeliefert. Und allein das ist schon eine Kunst. Wunderbares Buch, klug und humorvoll, sprachlich schön, und sehr, sehr clever aufgebaut.
John Berger: King.
John Berger (1926 bis 2017) versucht sich an zwei schwierigen Gratwanderungen. Einerseits wählt er als Protagonisten seines Buches ein Tier, den Hund King, aus dessen Perspektive wir durch den Roman geführt werden. Dass King die Menschen versteht und sprechen kann, ist hilfreich. Nun lassen sich Tierromane – das seltene, aber vorhandene Genre von Texten, die tatsächlich sich nur mit der Existenz von Tieren aus deren Sicht befassen, in denen Menschen also nur eine marginale Rolle spielen, einmal ausgenommen – grob in zwei Varianten unterteilen: Satirische Betrachtungen, die einen kuriosen Blick auf das seltsame Verhalten der Menschen werfen oder eine eher philosophische Herangehensweise, die zwar eine ähnliche Position einnimmt, aber wesentlich distanzierter und zumeist äußerst kritisch auf den humanen Zweibeiner schaut. Ersteres driftet oft in banale Unterhaltung, letzteres in larmoyanten Kulturpessimismus ab. Berger wählt keinen eindeutigen der beiden Wege, tendenziell bewegt er sich aber, mit ironischen Untertönen auf der zweiten Linie, in jedem Fall entsteht weder etwas grundlegend Neues, noch wirkt das Ganze als gelungener Mittelweg. Der Hund King hat sich einer Gemeinschaft von Außenseitern angeschlossen, die auf einer Art Brache irgendwo zwischen Müllhalde und Schrottplatz lebt. Dies führt zur zweiten Gratwanderung: Der Schilderung des Lebens von Obdachlosen. Die Skylla und Charybdis heißen hier Sozialkitsch durch Verklärung oder Sozialporno durch einen vermeintlichen Hyperrealismus, der nicht mehr ist als ein wohliger voyeuristischer Grusel. Hier tendiert Bergers Roman eindeutig zu Variante eins: Schrullige Charaktere, ein Liebespärchen und pseudo-philosophische Betrachtungen, wie man sie wohl nur äußerst selten unter Nicht-Sesshaften finden dürfte. Das ganze Konstrukt des Textes ist äußerst misslungen, hinzu kommt eine lähmende Spannungslosigkeit, die das Missvergnügen nur noch steigert. Hat zum Glück nur 180 Seiten, was aber schon zuviel ist.
Erich Kästner: Fabian.
Erich Kästners (1899 bis 1974) „Geschichte eines Moralisten“, sein einziger Roman nur für Erwachsene, wenn man so will, müsste derzeit eigentlich wieder Konjunktur haben, da sich die Weimarer Republik einiger Beliebtheit beim Film- und Lesepublikum erfreut. Immerhin bekommt man hier nicht eine Nachbetrachtung, sondern die Eindrücke eines Zeitgenossen, in der Endphase jener Demokratie publiziert, deren Untergang im Großstadtleben noch durch allerlei liberale ausgelebte Freiheiten vermeintlich überdeckt wird. Auch Jakob Fabian, Anfang Dreißig, vor einiger Zeit nach Berlin gezogen, genießt dieses Leben, er hat einen modernen Job als Texter in einer Werbeabteilung, leidlich bezahlt, aber immerhin überhaupt Arbeit, denn um ihn herum machen sich die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise längst bemerkbar. Vor den dunklen Ahnungen, die sich auch in Schießereien zwischen Nazis und Kommunisten auf offener Straße schon recht konkret manifestieren, flüchten viele in Ausschweifungen, Resignation, Anbiederung oder sogar Formen des Wahnsinns. Fabian möchte sich seine Integrität bewahren, zwar ist auch er erotischen Vergnügen alles andere als abgeneigt, aber in ihm schwelt doch die Sehnsucht nach Solidität, die sich jedoch in Berlin und schon gar nicht zu jenem Zeitpunkt mehr umsetzen lässt. Das Mädchen, mit dem er auf seine Zukunft baut, mit etwas naiven Vorstellungen vom Land in die Stadt gekommen, sieht eine Chance, beim Film groß herauszukommen – wofür sie sich auf ein Verhältnis mit dem Produzenten als Preis einzulassen hat. Fabian ist einmal mehr zu moralisch, um eine Parallelbeziehung zu führen. Sein bester Freund Labude, brillanter Germanist, kommt, obwohl er sich noch viel offener gibt als Fabian, noch weniger mit solchen offenen Konstruktionen zurecht. Als aufgrund eines üblen Scherzes zudem sein großes Wissenschaftsprojekt scheinbar gescheitert ist, bringt er sich um. Fabian, doppelt verlassen und inzwischen auch arbeitslos, flüchtet letztlich kopfüber aus Berlin zurück in die Heimat zu seinen Eltern. Eine Regression, ein komplettes Scheitern? Mithilfe ehemaliger Schulkameraden versucht er, wieder ein Bein auf den Boden zu bekommen – aber schmierige Kompromisse möchte er weiterhin vermeiden. Vom damaligen Verlag teils in vorauseilendem Gehorsam zensiert – was zumindest in Bezug auf den Vorwurf der Pornographie nichts brachte – und stark angefeindet, wird Kästners Roman heute längst als großes Zeitpanorama anerkannt. Inzwischen existiert unter dem ursprünglich vorgesehenen und einst ebenfalls angelehnten Titel „Der Gang vor die Hunde“ auch das ungekürzte Original. Beides nur zu empfehlen.
Paul Theroux: Saint Jack.
Jack, einst wegen eines Missverständnisses, wodurch ihm Gefängnis drohte, aus den USA geflohen, hat sich in Südostasien eine leidliche Existenz aufgebaut, die vor allem auf seinem Ruf beruht, alles – und zwar wirklich alles – besorgen zu können. Da ihm dies auch mit einigen Prostituierten gelang, die er einst trotz stürmischer See höchstpersönlich auf einem Schiff ablieferte, gilt er tatsächlich als eine Art Alleskönner, weshalb er einerseits privat reiche Kunden versorgt, andererseits im Auftrag eines chinesischen Händlers dessen ausländische Kundschaft bei deren Besuchen in Hongkong sozusagen assistiert. Als eines Tages eine Art Wirtschaftsprüfer zu seinem Chef geschickt wird, soll Jack natürlich auch diesen betreuen, erst recht, da es sich um einen Weißen handelt, einen Engländer um die 50. Bei Jack löst das einige Gedanken aus, beziehungsweise bringt längst gehegte Zweifel an seinem Tun wieder zum Vorschein, denn seine Situation ist weitaus prekärer und natürlich auch nicht das, was er sich vom Leben versprochen hat: Letztlich ist er doch nur ein kleiner Zuhälter mit einem Nebenjob in der Firma, von der er völlig abhängig ist, da mit Verlust der Anstellung auch seine Aufenthaltsgenehmigung ablaufen würde. Der Engländer ist ihm zwar nicht sonderlich sympathisch, insbesondere, da er seine Kumpane aus der Kneipe von oben herab behandelt, trotzdem löst er bei Jack allerhand Sehnsüchte aus. Am Ende steht, wie bei allen hier gestrandeten Existenzen, der ewige Traum, wieder in den Westen zurückzukehren. Einen Schlag versetzt Jack der Tod des gleichaltrigen Engländers an einem Herzinfarkt. Dies als Warnschuss nehmend, versucht er sich in verschiedenen Aktivitäten, um solch einem geradezu banalen Schicksal zu entgehen. Nach kurzer Einlesephase wird man schnell hineingezogen in das eigentlich triste Alltagsleben Jacks, wobei es Paul Theroux (geboren 1941), seines Zeichens Reiseschriftsteller, tatsächlich gelingt, Sympathie für seine Hauptfigur zu wecken, keine geringe Kunst bei dessen Beruf, der sonst eher zu verklärendem Sozialkitsch missbraucht wird. Jack aber schwankt zwischen Versager und Träumer, überschätzt sich und seine Möglichkeiten, ist manchmal gewieft und selbstbewusst, dann wieder verzweifelt und geradezu devot. Er stolpert eher durch sein Leben. Vielleicht macht ihn dies so sympathisch.
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