Sonntag, 6. Dezember 2015

Weihnachtslieder der anderen Art mit Pearl Jam, Veruca Salt und anderen...

O Du Fröhliche, Stille Nacht, Macht hoch die Tür oder O Tannenbaum, das Weihnachtslied ist ein Genre für sich und hat mit modernen Klassikern wie Last Christmas und Do they know it’s Christmas? auch Eingang in die Pop-Kultur und die ewige Radiowiederholungsschleife gefunden. Der religiöse Hintergrund hat dabei, grob gesprochen, einem Trend hin zu mehr Schmalz Platz gemacht. Beides scheint eher nicht vereinbar mit der widerspenstigen Resignation der Grunge-Generation der Neunziger Jahre – und doch finden sich einige wenige Beispiele auch im Indie-Rock, die sich im weitesten Sinne mit Weihnachten auseinandersetzen.

Pearl Jam: Deep (Ten, 1992)

Schon auf ihrem legendären Debütalbum Ten gab Eddie Vedder in Deep ein Verständnis von Weihnachten vor, dass typisch sein dürfte für die Skepsis der Grunge-Kinder, der religiöse Kontext ist nur noch ironisch: young virgin from heaven visiting, eine Episode die so sicher nicht in der Weihnachtsgeschichte überliefert ist, sondern eher der Fantasie eines jungen Mannes entspricht. Doch bedeutender und prägnanter ist Vedders Wortschöpfung christmas clean love, die das Geheuchelte und Verlogene des zeitgenössischen Weihnachtskitsches auf großartig treffende Weise einfängt – und Verbindung bringt mit Leuten, die Gefühle nur noch hinter solchen Lamettaglanzfassaden ausleben können, alles andere als Deep.

 

Pearl Jam: Let Me Sleep (Lost Dogs, 2003)

Pearl Jam beschenkt seine Fans jedes Jahr mit einer Fan-CD, auf der auch dieses Lied enthalten war, bereits im Jahr 1991, vielleicht das einzige echte Weihnachtslied in diesem Überblick. Denn hier wird die Sehnsucht nach Weihnachten beschwören, aus der Perspektive eines Kindes in einer unglücklichen Familie, dass seine Hoffnung auf die versöhnende Wirkung dieses Festes setzt. Vergeblich, wie man annehmen kann. „It felt beautiful and melancholy“, so Mike McReady rückblickend im Booklet über Lost Dogs.

 

Veruca Salt: Celebrate You (American Thighs, 1994)

Tröstlicher geht es auch bei den Damen von Veruca Salt nicht zu. In Celebrate You wird ähnlich wie bei Eddie Vedder das Verlogene des Festes, der Celebration, beschworen: I wait for Christmas to begin to see the cracking faces. Auch hier entlarvt sich die Familie als heruntergekommene gutbürgerliche Fassade, die sich jedoch auch über Weihnachten nicht mehr aufrecht erhalten lässt. Übrigens wird dies durchaus bedauert, die Sehnsucht nach dem Zusammenhalt – wenigstens – in jeder Familie ist noch immer vorhanden (wie schon Let Me Sleep gezeigt hat).

 

Veruca Salt: Comes and Goes (IV, 2006)

In der veränderten Besetzung der 2000er Jahre spielten Veruca Salt noch einmal auf das gleiche Thema an, wenn es in Comes and Goes heißt: Certain Christmasses bring me to my knees. Auch hier ist es die Familie, die durch den gekünstelten Weihnachtskitt, der unweigerlich abbröckelt, die dahinter liegende Zerstörung erst eigentlich offenbart. Und wiederum scheint dahinter der Wunsch zu stecken, dass dem nicht so wäre.

 

Seven Mary Three: Devil Boy (American Standard, 1995)

Wer schon den Namen der Gottesmutter im Bandnamen führt, scheint prädestiniert dazu, das Religiöse wieder in das Genre zurückzuholen, wobei Devil Boy dann allerdings doch eher wieder unweihnachtlich klingt. Und doch: hier treten ganze Ordensarmeen auf, Jesuiten, Kapuziner, Augustinermönche, nur zu einem Zweck, um den verlorenen Sohn, eben den Devil Boy auf den rechten Pfad zurückzuführen. Dieser aber slept through easter yesterday, right through christmas just the same, auf die Erlösung will er nach 2000 Jahren nicht mehr warten. Er hofft nur noch eines: auf die Rückkehr seiner Freundin, I’d give away eternity, if you would come back to me.

 

Heather Nova: Blue Black (Oyster, 1994)

You made me a victim in your christmas kitchen – so singt die bermudanische Songwriterin Heather Nova und beschreibt damit in wenigen diskreten Worten den vielleicht stärksten Kontrast zwischen dem versöhnenden Anspruch des säkularisierten Weihnachtsfests und dem, was dahinter zu finden ist: Blue Black – der englische Ausdruck für „jemanden grün und blau schlagen“ – handelt vom Missbrauch eines jungen Mädchens und dessen darauf folgendem Trauma. Das Lied selbst klingt trotzig, nach wieder gewonnener Stärke, doch bleibt in der Schwebe, ob dies nicht eher ein Selbstappell des Mädchens ist, der darauf hinweist, wie tief der Schock noch sitzt.

 

Tocotronic: 17 (K.O.O.K., 1999)

Zum Abschluss noch ein deutscher Beitrag. Das nicht gerade kurze Stück 17, dessen Titel nur den Rang in der Reihenfolge des Albums verrät, hat viel instrumentale Ausschmückung, aber wenig Text. Den braucht es auch nicht, die wenigen Zeilen genügen, um ein Gefühl zu beschreiben, dass viele Menschen an Weihnachten befallen mag: Einsamkeit. Und hier ist es nicht die metaphorische Vereinzelung als Außenseiter der Familie, sondern die konkrete desjenigen, der das Fest allein verbringen muss. Und so entwickelt er eine ganz andere Sehnsucht: nach dem Tod. Am Fest der Geburt des Erlösers...

 

Traurige Weihnachten in Seattle und Umgebung

Der Befund überrascht nicht: Das Weihnachten der alternativen Rocker ist kein schönes und alles andere als Trost im trauten Kreis der Familie – auch wenn das unterschwellig gewünscht werden mag, was die Enttäuschung naturgemäß nur vergrößert. Auswege bieten sich nicht – wie auch? Wer der Familie entgeht, flieht nur in die Einsamkeit. Kein Wunder, dass diese Generation resigniert hat, kein Wunder, dass sie sehnsüchtig eher zurückblickt als nach vorne.
 
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Traditionelles zu Advent und Weihnachten gibt es hier:

Freitag, 4. Dezember 2015

R.I.P. Scott Weiland

Ohne große Worte eine Hommage an Scott Weiland, einen großartigen Künstler, der mir seit Jugendtagen immer viel zu denken gegeben hat, in jeder Hinsicht. Und dem ich deshalb viel zu verdanken habe. Die Antwort auf die Frage: Let me know, can I friend ask you why? habe ich jedenfalls noch immer nicht gefunden - und das ist es, was geniale Sätze ausmacht.
 
 
 
 
 
 

Dienstag, 24. November 2015

Das neue Buch: Weihnachten in Oberfranken.



Noch ein Monat bis Weihnachten - nicht nur in Oberfranken. Und ein Buch nicht nur für Oberfranken!

Mehr Wissenswertes gibt es hier zu lesen:
http://www.frankenpost.de/lokal/kulmbach/kl/Von-der-Strohberta-bis-zum-Pfeffern;art3969,4456896




Weihnachten in Oberfranken. Erfurt: Sutton 2015. Euro 19,99.

In jedem guten Buchhandel oder direkt beim Verlag erhältlich:
https://verlagshaus24.de/geschichte/regionalgeschichte/weihnachten-in-oberfranken

Freitag, 20. November 2015

Kein Buch-, sondern ein Blog-Tipp: Me, Wasabi.


Die etwas andere Art von Blog - ganz anders als dieser hier sowieso, dafür aber auch reichlich aktiver - ist Me, Wasabi, ein sympathisches Forum für allerlei Kreatives: Lesen, Reisen, Mode und...Kochen.
 
Und dazu einen Blick auf Kuriositäten und Abnormitäten des Alltags, durchaus kritisch, aber nicht boshaft - und überwiegend mit einem Augenzwinkern. Sonst wäre die Welt um einen herum schließlich auch nicht zu ertragen. Hat man sie aber doch einmal über, kann man sich entspannt zurückziehen und in einer der zahlreichem Rubriken des Blogs stöbern - und anschließend das dort Vorgeschlagene in die Tat umsetzen. Oder weiterlesen...
 
 
 
Begleitend zum Blog gibt es außerdem eine dazugehörige Facebook-Seite:
 
Und - etwa für die Kochrezepte - zusätzlich einen YouTube-Videokanal:
 
Und wer wissen möchte, was der sich ja nicht auf den ersten, auch nicht zweiten Blick erschließende Titel des Blogs Me, Wasabi eigentlich zu bedeuten hat - der oder die frage die Autorin doch einfach persönlich. Schließlich ist die Kommunikation mit ihren Leser und Leserinnen eines ihrer Hauptanliegen.
 
Somit, auf geht's: Spice up your life!

Sonntag, 1. November 2015

Gedenktage im November - Die Nackten, die Toten und die Lebenden.


November ist’s; und während sich die Bäume und Sträucher in blattlose Gerippe verwandeln und der erste Schnee sich als Bahrtuch über die braunfauligen Wiesen legt, gedenken Staat und Kirche der Toten.

Lasset die Toten die Toten begraben?


(c) B.Grimmler
In André Téchinés Film Alice et Martin gibt es eine schöne Szene auf einem Friedhof, in der Alice ihrer Schwiegermutter in spe vorwirft, sich nicht ihrem kranken Sohn zu widmen. Der alten Frau, die am Grabe ihres Mannes steht, sagt sie empört: „Ach Sie, Sie lieben ja nur noch ihre Toten!“ Woraufhin diese leicht erstaunt und mit resignativem Tonfall antwortet: „Aber…irgend jemand muss sie doch lieben.“

Der „nekrotrope Mensch“ 

Wer liebt die Toten? Karl von Hentig hat in seiner bisher immer noch recht einmaligen Untersuchung über die Fälle von Liebe zu Leichnamen und Friedhöfen etc. in Justiz und Literatur dafür ein Wort kreiert, dass vom pathologischen Fall der Nekrophilie abgrenzen sollte: Der nekrotrope Mensch, so der Titel der Arbeit, der dem Tod sich Zuneigende, besser dem Toten - um keine Verwechslung mit Freuds Todestrieb zu provozieren. In Verdacht geraten da natürlich die schwarzen Romantiker, aber auch die alltäglichen alten Frauen, die man auf jeder Beerdigung antreffen kann.

Aus den Augen, aus dem Sinn

(c) B.Grimmler
Davon scheint der modern denkende Mensch jedoch weit entfernt. Es gehört zu den Topoi einer oft pessimistischen Kulturtheorie, dass der Tod aus der neuzeitlichen Gesellschaft immer mehr verdrängt wird. Seit dem Barock mit seiner Todeszentriertheit verschwinden die Toten und alles was mit ihnen zu tun hat, erst aus der Wahrnehmung, dann aus dem Bewusstsein.
(c) B.Grimmler
 
Philippe Ariés verdeutlichte dies in seinem Klassiker Die Geschichte des Todes im Abendland u.a. an der Wanderung der Friedhöfe vom Zentrum (i.e. die Kirche) hin an die Peripherie - eine Entwicklung, die längst nicht abgeschlossen ist; die Einrichtung sogenannter Waldfriedhöfe oder Friedhofsparks dient natürlich der Kaschierung des eigentlichen Zwecks. Der Tote wird folglich ausgelagert, das Unangenehme der Erinnerung an den eigenen Tod zunehmend übertüncht.

Gedenken ohne zu denken: Allerheiligen, Totensonntag und Volkstrauertag

Die Nackten und die Toten hatten eines gemeinsam, sie waren tabuisiert. Doch das mysterium fascinosum et tremendum, das allem Tabuisierten zu eigen ist, scheint sich in diesen Fällen aufzuspalten. Die Nackten sind längst fast ausschließlich fascinosum, die Toten dagegen immer mehr tremendum. Daran ändern auch die allgemeinen Gedenktage des Novembers sicher nichts, sie richten sich an abstrakte Tote, die keiner kennt und die keinen ernsthaft berühren. Sie lösen allenfalls Betroffenheitsrituale aus wie armenische Erdbebenopfer oder getötete Geiseln in Afghanistan. Eine Ausnahme mögen die katholischen Gedenkmessen bilden - diese wiederum wenden sich jedoch an konkrete Verstorbene, die noch Angehörige besitzen.

Der Tod ist ein Problem der Lebenden...


(c) B.Grimmler
 
Die These von der Verdrängung des Todes und noch viel mehr des Sterbens aus der angeblich zivilisierten Welt steht nicht unwidersprochen, doch prüfe sich jeder selbst, wann er das letzte Mal einen Toten gesehen, am Bett einer Sterbenden gestanden - oder über seinen eigenen Tod nachgedacht hat. „Der Tod ist ein Problem der Lebenden“, wie Norbert Elias so banal wie wahr erkannte. Kohelet, der biblische Philosoph, liebt die Toten, vielmehr beneidet er sie sogar, wenn er in Anbetracht des menschlichen Konkurrenzkampfes klagt: „Da preise ich immer wieder die Toten, die schon gestorben sind, und nicht die Lebenden, die noch leben müssen“ (Kohelet 4,2).

...also von uns

Die Unerträglichkeit des modernen Lebens scheint aber größtenteils auch gerade mit dem Wissen zusammenzuhängen, sterblich zu sein - sonst gäbe es keinen Grund zur Ignoranz. Dabei unterscheidet uns dieses Bewusstsein gerade vom Tier, welches unreflektiert dahin lebt. Und darum lohnt es sich ein weiteres Mal, über den Tod nachzudenken. Und wem dies als ein zu depressives oder gar unangebrachtes Thema erscheint - der wurde gerade ertappt.

Die Aufnahmen entstanden auf dem Alten Friedhof in Kulmbach, Oberfranken.

Samstag, 19. September 2015

Ein Urmensch aus Oehningen am Bodensee.

Oehningen auf der Halbinsel Höri findet sich idyllisch am Bodenseeufer und ist doch ein eher stiller und etwas abgelegener Ort direkt an der deutsch-schweizerischen Grenze. Kunstliebhaber mit sehr guten Kenntnissen wissen um das dortige ehemalige Kloster, der handelsübliche Tourist aber übersieht dieses meistens, wenn er sich in das wesentlich bekanntere benachbarte Stein am Rhein begibt, welches bereits zur Eidgenossenschaft gehört. Anfang des 18. Jahrhunderts wurde Oehningen jedoch zum Zentrum einer Sensation.
Öhningen: Totenkapelle St.Michael
 und ehemalige Klosterkirche. (c) BG

Ein spektakulärer Fund im Oehninger Steinbruch

Arbeiter des örtlichen Steinbruchs hatten eine Platte gefunden, die offensichtlich so etwas wie versteinerte Knochen enthielt. Fossilien. Es war das Jahr 1725 und man zog den berühmten Naturforscher Johann Jakob Scheuchzer (geboren 1672, gestorben 1733) aus dem nicht allzu weit entfernten Zürich zu Rate. Der konnte sein Glück kaum fassen: für ihn war der Fall sonnenklar, endlich hatte er den lange gesuchten Beweis dafür gefunden, dass es Menschen gab, die vor der biblischen Sintflut existiert und diese nicht überlebt hatten.

Naturgeschichte versus biblische Erzählung

Denn Fossilien, wie wir sie verstehen, Versteinerungen ausgestorbener Lebewesen, wurden zu dieser Zeit noch nicht als Tatsache angesehen. Niels Stensen – Gelehrter und katholischer Bischof – hatte hier den Durchbruch geleistet, doch noch war dieser nicht überall angekommen. Natürlich gab es immer wieder einmal Funde von Knochen, doch wurden diese als bizarre Exemplare von Gesteinsformationen erklärt. Eine Naturgeschichte als Entwicklung gab es nicht, sie war inakzeptabel. Vorherrschende Meinung war nämlich die Unveränderlichkeit der Welt – und damit der Natur – seit ihrer Erschaffung durch Gott. Noah hatte in seiner Arche schließlich nicht nur die Menschheit gerettet, sondern auch von jedem vorhandenen Tier ein Pärchen transportiert. Der theologische Hintergrund war ebenfalls klar: Gott hatte die Tiere geschaffen und was Gott geschaffen hatte, war gut – es war demnach absurd, dass er Lebewesen quasi willkürlich in die Welt gesetzt haben sollte, um sie einfach wieder aussterben zu lassen.

Johann Jakob Scheuchzer und der Diluvianismus

Scheuchzer, in diesem Sinne sogar recht progressiv, glaubte nicht, dass es sich bei Fossilien um zufällig knochenähnliche Steine handelte, sondern suchte nach dem Beleg, dass es vor der Sintflut – antediluvian beziehungsweise antédiluvien, wie Engländer und Franzosen noch heute sagen – Menschen gegeben hatte, wie die Heilige Schrift überlieferte. Der Oehninger Fund lieferte ihm endgültig den Beweis. Dies waren eindeutig Knochen und ihr seltsames Aussehen bestätigte lediglich, wie alt sie sein mussten, wesentlich älter als die von römischen Märtyrern, wie man sie aus katholischen Kirchen als Reliquien kannte, älter auch als die ägyptischen Mumien, wie sie manch sammelfreudiger Fürst in seinem Naturalienkabinett aufbewahrte. Und da sie nun auch noch in der Nähe eines Gewässers gefunden worden war, musste es sich wohl um ein Sintflutopfer handeln. Getreu dem Motto: und die Bibel hat doch recht!

Scheuchzers „Obduktionsbericht“ und die Zweifel

Der Zürcher Gelehrte verfasste eine ausführliche Beschreibung des deformierten Skeletts, mit der er alle Zweifel zu beseitigen gedachte. Vorsichtshalber gab er seinem Fund auch gleich einen wissenschaftlichen Namen. Tatsächlich musste er nicht mehr erleben, dass seine Erkenntnisse immer mehr in Frage gestellt wurden, zu seltsam wirkte trotz aller Beweisführung dieser kuriose Sintflutmensch aus Oehningen. Weitere Funde vor Ort führten endgültig dazu, die Fossilien für nicht menschlich zu halten. Gleichwohl – was war es dann? Am Ende des Jahrhunderts herrschten allerlei Spekulationen vor, sicher war man sich nur, es sei ein Wasserwesen. Ein Fisch, ein Hai, eine Art Molch.
Blick vom Schweizer Ufer
über den Bodensee Richtung Öhningen.
(c) BG

Cuvier löst das Rätsel

Es war wieder einmal der große französische Biologe Georges Cuvier (1769-1832), der das Rätsel zu lösen verstand und der damit – wie etwa schon im Falle des niederländischen Mosasaurus – ein weiteres Steinchen fand für sein akribisch angefertigtes Mosaik, mit dem er die moderne Naturgeschichte begründete und die biblische Schöpfungsgeschichte beerdigte. Cuvier untersuchte im Jahr 1811 das Skelett und fand durch Vergleiche heraus, dass es sich um einen Salamander handeln musste. Allerdings einen riesig großen, wie es sie auf dem europäischen Kontinent schon lange nicht mehr gab. Folglich: ein ausgestorbenes Tier, kein ertrunkener Zeitgenosse Noahs. Es ist eine schöne Geste der Biologen, dass dieser Lurch trotzdem nach Scheuchzer benannt wurde, wissenschaftlich heißt das Tier nun Andrias scheuchzeri.

Literatur

Harald Gebhard, Mario Ludwig: Von Drachen, Yetis und Vampiren. Fabeltieren auf der Spur. München: 2005.
Manfred Reitz: Rätseltiere. Krypto-Zoologie: Mythen, Spuren und Beweise. Stuttgart: 2005.

Freitag, 28. August 2015

Bernhard Schlink: Das Wochenende.

 

Bernhard Schlink: Das Wochenende.

Kammerspiel mit den Resten der Linken

Die kammerspielartige Runde – zusammengesetzt aus den nun fest im so genannten Establishment etablierten früheren Sympathisanten, deren Familien, einem jungen Linksextremen, der Schwester, deren Mitbewohnerin, später noch dem Sohn des Exterroristen – dient dazu, verschiedene Positionen im Umgang mit dem Terrorismus der 70er und 80er Jahre und auch der Haft des Protagonisten zu diskutieren.
Die ältere Generation ist inzwischen distanziert, aber überwiegend versöhnlich, bis auf einen advocatus diaboli, Ulrich, die jüngere in Form des linksextremen Marko uneinsichtig (er möchte denn Kampf auf breiter Front mit neuen Verbindungen zum internationalen Terrorismus weiterführen), unversöhnlich wie der Sohn oder hedonistisch wie die Tochter eines der Ehepaare. Jörg selbst spult die – relativ authentischen – Phrasen der Terroristen ab, spricht von Isolationsfolter, räumt aber immerhin ein, dass sich dies gebessert habe, rechtfertigt das Töten als Krieg, und also habe ich geschossen und getötet und auch auf den Einwand, dass dabei Unschuldige ums Leben kamen, antwortet er stereotyp, daß im Krieg nicht nur Soldaten sterben. Sein Bedauern gilt lediglich der vermeintlichen Tatsache, daß wir ein Projekt verfolgt haben, das nichts geworden ist und beim Begriff Opfer fallen ihm zuerst Holger und Ulrich und Ulrike und Gudrun und Andreas und... ein, die tatsächlichen Opfer dagegen haben sterben müssen, weil die Welt damals so war, wie sie war. Seine Schwester springt ihm bei, alle haben es gewusst, dass Krieg gewesen sei – doch die anderen widersprechen, ich habe niemanden stellvertretend für mich töten lassen – so Ulrich – um das bekannte Argument der avantgardistischen Tat ad absurdum zu führen.

Die nächste Generation an Mördern?

Schlink lässt seinen Protagonisten also tatsächlich so argumentieren, wie es viele der aus der Haft entlassenen RAF-Terroristen getan haben, Marko äußert einmal bewundernd, Die anderen RAF-Leute sind zu Kreuz gekrochen und haben geheult und bereut und sich entschuldigt – du nicht, wobei, wie angemerkt werden sollte, die tatsächliche Anzahl der Freigelassenen die sich entschuldigt haben, in der nicht-fiktiven Welt ja eher verschwindend gering ist.
Als sich das Gespräch einmal ins Anekdotische verliert, erinnert der sich zu erkennen gebende Sohn an die Stammtische alter Weltkriegskameraden: Ihr habt euch über eure Elterngeneration aufgeregt, die Mörder-Generation, aber ihr seid genauso gewesen – so entkräftet er eine der stets genannten Motivationen der Terroristen. Die Rigorosität des manichäischen Weltbilds des linken Extremismus wird mehrfach infrage gestellt, schon früh bekennt Ilse, die gleichzeitig ihre Erlebnisse parallel in einer fiktiven Geschichte niederzuschreiben versucht, Ich hatte immer Angst vor euch. Weil ihr so genau wusstet, was richtig und falsch und was zu tun ist.

Erklärungsversuche für politischen Terrorismus

In Jörg ist diese Sicherheit größtenteils noch immer vorhanden, sie gerät nur bedingt durch die Kritik ins Wanken, unter verschiedenen Vorzeichen scheint sie sich auch in der jungen – männlichen – Generation fortzusetzen, bei Marko in der Übernahme der alten Kategorien, bei dem Sohn in der absoluten Verweigerung. Erklärungsansätze für den Einstieg in den Terrorismus werden ebenfalls versucht, apologetische von der Schwester, etwa die unerfreuliche Kindheit, wären es bei dir Worte geblieben, wenn Du ohne Mutter aufgewachsen wärst? Wenn Du Dich mit anderen Menschen so schwer tätest wie Jörg? Und auch die Uneinsichtigkeit wird von ihr mit altbekannten Mustern aggressiv entschuldigt, mit der Brutalität des Staates – beides stößt bei den skeptischen Diskutanten auf Ablehnung, gar Abscheu.

Terrorismus als Krankheit

Unabhängig und allein für sich entwickelt Margarete eine andere Theorie, was ihr leichter fällt, da sie dem eigentlichen Freundeskreis nicht angehört. Sie hat das Gefühl eines kranken Themas, eines Themas, bei dem über eine Krankheit gesprochen wurde, die damals die Terroristen befallen hatte und nun auch die Sprechenden befiel. Dieses distanzierte metaphorische Erklärungsmuster geht jedoch mehrfach fehl, im Allgemeinen ist das Mitgefühl gegenüber Kranken ja eher groß – und zwar aus dem einfachen Grund, dass eine Krankheit in vielen Fällen unverschuldet ist, ganz anders als bewusster Terrorismus. Würde sich Jörg Margaretes Argument zu eigen machen, dann fiele es seinen Kontrahenten schwer, ihn zu widerlegen, denn in den meisten Fällen ist einer Krankheit durch bloße Vernunft nicht beizukommen.
Und doch taucht das Motiv, nun nicht mehr metaphorisch, erneut auf – denn tatsächlich ist Jörg krank, er leidet an Krebs in einem späten, unheilbarem Stadium. Durch diesen erzählerischen Kniff kurz vor dem Ende greift der Text nicht nur auf Margaretes zweifelhafte Theorien zurück, als deus ex machina wird der Konflikt dadurch zwar nicht gelöst, aber beiseite geschoben, später sogar noch etwas plakativ symbolisiert durch die gemeinsame Menschenkette, die dabei hilft, nach einem Wolkenbruch den voll gelaufenen Keller auszuschöpfen.

Die Moral von der Geschichte

Die Frage des Umgangs mit dem Exterroristen bleibt offen, Daß er vier Leute umgebracht hat... Wenn’s kein Grund ist, die Freundschaft aufzukündigen, dann ist’s aber auch keiner, ihn als Sensibelchen zu betütern. Eine Art Thesenroman ohne These, zumindest keiner, die dem Leser aufgedrückt wird, so ließe sich Das Wochenende umschreiben, sicher nicht Schlinks bester Text, die Figuren wirken, vielleicht der Konstruktion geschuldet, teils recht grob geschnitten (beispielsweise die stets zur Versöhnung und Verständnis für jedermann aufrufende lutherische Bischöfin), doch regt er immerhin durch das Gegenüberstellen verschiedener Positionen zum Nachdenken an, er ist weitaus reflektierter als vieles andere zu dieser Thematik und bleibt unparteiisch. Ein gewisses sympathisches Bedauern klingt nur unterschwellig an, in der berechtigen Frage […], was das linke Projekt erledigt hat. Die Antwort ist schwer von der Hand zu weisen: Es war beides: die Bevormundung und Gängelung der Menschen im Osten und der Terrorismus im Westen.
 
Bernhard Schlink: Das Wochenende. Roman. Diogenes: 2008.

Freitag, 31. Juli 2015

Ulrike Meinhof - Ein Leben im Widerspruch, eine Biographie der Terroristin von Mario Krebs, scheitert an eben diesen Widersprüchen.

1988 legte Mario Krebs in der Reihe rororo-aktuell seine Biographie Ulrike Meinhof – Ein Leben im Widerspruch vor, ein Text, der es sich laut Vorwort zur Aufgabe gemacht hat, Ulrike Meinhof aus dem Zugriff des öffentlichen Feindbildes ein Stück weit zu lösen, was den Leser nicht nur aufgrund der sprachlichen Holprigkeit zumindest vorsichtig machen sollte.

Krebs’ Versuch einer neuen Herangehensweise

Gemeint ist, dass Krebs die Beweggründe für das Handeln Ulrike Meinhofs vor allem aus ihren Texten verständlicher machen möchte. Bis zu einem gewissen Punkt gelingt ihm dies durchaus, die gut ersten zweihundert Seiten der Biographie (von knapp 270) widmet er der engagierten Jugendlichen und späteren Kolumnistin, deren Analysen oft scharf formuliert waren und Zustände in der jungen Bundesrepublik ankreideten, die auch dem heutigen Leser unerträglich vorkommen würden.
Krebs’ Versuch, Sympathie auf die Protagonistin zu erwecken, lässt ihn in Turbulenzen geraten, als sich Ulrike Meinhof der RAF anschließt, bzw. diese mitbegründet. Deshalb wird von vorneherein – und bis zum Schluss – mehrfach betont, dass ihre Teilnahme an der Baader-Befreiung und in der Folge ihr Engagement für den Terrorismus Zufallsprodukt einer verunglückten Aktion gewesen sei, weder vorgesehen noch vorbereitet, ja gezwungenermaßen – und wer sich dann fragt, von wem gezwungen, der bekommt die so üblichen wie einfach gestrickten Antworten ebenfalls mitgeliefert: diese massive Reaktion der Gegenseite, die Ulrike Meinhof völlig geschockt habe, zweifellos trägt auch das Verhalten von Politikern und Medien dazu bei, dass es für sie kein Zurück mehr gibt.

Die Analyse der RAF-Schriften

Krebs kritisiert den Inhalt und teilweise die Sprache der RAF-Schriften Meinhofs, doch von vornherein liefert er die vermeintlichen Erklärungen mit, die dafür gesorgt haben müssen, dass der einstigen Gesellschaftsanalystin Meinhof ihr Blick auf die Realitäten so offenkundig verloren ging. Schuld ist das Dilemma, eine Praxis begründen zu müssen, die nicht zu begründen ist, letzteres ist so richtig wie das erstere verkehrt, denn ein Zwang, falsche Taten zu begründen besteht wohl nur für jemanden, der diese Taten für richtig hält. Eine andere Verteidigungslinie ist altbekannter, es sind die Haftbedingungen. Ulrike Meinhofs Haftbedingen zu Beginn ihres Gefängnisaufenthalts vor allem in Köln-Ossendorf waren zugegeben grenzwertig, doch nach langen Schilderungen, dass die Inhaftierte geradezu keinerlei klaren Gedanken mehr habe fassen können, vermerkt Krebs im Widerspruch dazu, [u]m die Isolationshaft durchstehen zu können, versucht Ulrike Meinhof im Herbst 1972 zu schreiben.
Nun geht Krebs nicht so weit, die krude Argumentation zu unterstützen oder das teilweise vulgäre Vokabular nicht zu kritisieren, doch verantwortlich für die sprachliche und gedankliche Engführung – ein recht netter Euphemismus – sind wiederum die Haftbedingungen. Dafür muss man allerdings alle früheren Texte beginnend von der Erklärung zur Baader-Befreiung konsequent ignorieren, die vor der Haft verfasst wurden, umso viel sagender ist das Fehlen des berühmten Interviews mit Michèle Ray, in dem der berüchtigte Nachsatz „und natürlich darf geschossen werden“ fiel, gerade in einem Buch, das die Texte Meinhofs heranziehen möchte, um ein neues Bild der Person zu etablieren.

Der Prozess in Stammheim

Bei der Schilderung des Stammheimer Prozesses befürwortet er das Vorgehen der Angeklagten und vor allem ihrer Anwälte, die Taten der RAF als Reaktion auf den amerikanischen Vietnamkrieg zu sehen, doch seine Übernahme der argumentativen Linie der RAF wird geradezu absurd, als er nicht bemerkt, dass die Aussagen Gudrun Ensslins und Brigitte Mohnhaupts, die RAF habe den Anschlag auf das Springergebäude in Hamburg 1972 nicht gewollt, Ulrike Meinhof erkennbar zu demütigen, sondern er nimmt diese als Beleg dafür, dass sie an der Tat nicht beteiligt war – was längst nachgewiesen und den anderen RAF-Mitglieder ja offenbar klar ist. Gründe für eine solche demonstrative Demontage Meinhofs durch ihre Kameradinnen liegen sowieso nicht vor, die kolportierten Auseinandersetzungen innerhalb der Truppe, nur das persönliche Verhältnis untereinander betreffend, so Krebs treuherzig, seien übertrieben gewesen, kleinere Spannungen allenfalls verständlich aufgrund der Haftbedingungen, verantwortlich auch hierfür sind die zuständigen Behörden.

Selbstmord oder nicht?

Deshalb, auch das überrascht nun nicht mehr, ist es, so wörtlich, abwegig, hieraus auch noch Gründe für einen Selbstmord abzuleiten – der dann naturgemäß auch höchstwahrscheinlich keiner war, denn es gab auch keine plausiblen Motive. Nach der ‚Isolationsfolter’ nun also auch noch die ‚Staatsmordtheorie’ mit der obligatorischen Berufung auf das Gutachten der ‚Internationalen Untersuchungskommission’. Richtig überzeugt scheint Krebs selbst allerdings doch nicht, am Ende seines Buches rudert er leicht zurück, [a]ngenommen, Ulrike Meinhof sei am 9.5.1976 tatsächlich von eigener Hand zu Tode gekommen, dann war es trotzdem Mord und zwar – aufgrund der Haftbedingungen.

Ein Biograph verheddert sich

Sicher das krudeste Argument, von dem außer plumper Rechtfertigung schon gar nicht mehr klar ist, worauf es abzielt, liefert Krebs mit dem Satz Die Haftzeit, die Ulrike Meinhof schließlich bis zu ihrem Tod 1976 verbringt, wird doppelt so lang sein wie jene Zeit eines „bewaffneten Kampfes“, mit dem man ihren Namen später in Verbindung bringt. Abgesehen davon, dass der Ausdruck ‚in Verbindung bringen’ eine falsche Unterstellung seitens der Öffentlichkeit suggeriert und das Setzen der Bezeichnung ‚bewaffneter Kampf’ in Anführungszeichen dies noch viel mehr als Behauptung der Behörden unterstreicht, muss man sich ehrlich fragen, was der Autor eigentlich sagen möchte: immerhin forderten die von Ulrike Meinhof unzweifelhaft unterstützten, geförderten und verteidigten terroristischen Aktivitäten mehrere Menschenleben. Deren Tod bewusst in Kauf genommen wurde. Jeder Mord dauert nur wenige Sekunden bis Minuten – aber das Strafrecht funktioniert nicht nach einem zeitlichen Ausgleichsprinzip. Und Ulrike Meinhof war bereits wegen der Beteiligung an der Baader-Befreiung verurteilt, wie Krebs vorher selbst kurz berichtet. Der Satz zeigt lediglich, wie sehr der Biograph jegliche kritische Distanz bereits verloren oder aufgegeben hat.
Und so klafft das Buch regelrecht auseinander; nach zweihundert Seiten, die trotz gelegentlich bereits vorgreifender apologetischer Einflechtungen ein durchaus sympathisches Bild einer unangepassten Persönlichkeit wiedergeben, kommt Krebs mit dem Bruch in Ulrike Meinhofs Leben offensichtlich nicht zu Rande. Der Versuch, das positive Bild unbedingt aufrechtzuerhalten scheitert an den Gegebenheiten, Meinhofs Taten und Schriften. So überrascht es nicht, dass der Herausgeber der Buchreihe, Freimut Duve, sich in einem Nachwort von dem Werk deutlich distanzierte.
 
Mario Krebs: Ulrike Meinhof. Ein Leben im Widerspruch. Reinbek bei Hamburg: 1988.

Eine Besprechung zu einer anderen - gelungeneren - Biographie über Ulrike Meinhof gibt es hier zu lesen: http://bene-a-rebours.blogspot.de/2015/02/alois-prinz-uber-ulrike-meinhof-lieber.html

Freitag, 12. Juni 2015

Petra Henschel, Uta Klein: Hexenjagd.

In der Kriminalstatistik sind sie eine Minderheit, in der öffentlichen Wahrnehmung nicht: Frauen, die ein Gewaltverbrechen begehen. Zwischen den tatsächlichen Taten und dem Anteil an der Berichterstattung klafft eine deutliche Diskrepanz – und dies ist nicht die einzige der erstaunlichen Erkenntnisse des Buches von Petra Henschel, einer Pädagogin, die in Haftanstalten arbeitet, und von Uta Klein, Soziologin an der Universität Münster sowie ihren Autorenkolleginnen. Denn es sind keineswegs nur die üblichen Verdächtigen aus der Regenbogenpresse, die an diesem verzerrten Bild mitgearbeitet haben und dieses bis in die Gegenwart weitertradieren.

Warum mordet „die“ Frau? Kulturelle Stereotypen

Offenkundig besteht in der Öffentlichkeit, wie sie von den Medien – worunter vorerst der umgangssprachliche Begriff zu verstehen ist, der die Presse in ihren verschiedenen Formen umfasst – bedient oder hergestellt wird, ein besonderes Interesse an der mordenden Frau. Dies geht auf den generellen Grundsatz zurück, dass für den Journalisten naturgemäß das Spezielle, das Sensationelle interessanter ist als das Alltägliche, wenn man nun den tötenden Mann so nennen will, wozu allenfalls die Statistik berechtigt. Ein Mann, der seine Frau umbringt, erregt Sensation überwiegend nur in der lokalen Presse, sofern er nicht besonders bestialisch zu Werke geht. Eine Frau hat, wie der Band mehrfach belegt, deutlich bessere „Chancen“ bundesweites Aufsehen zu erregen.

Die Angst vor dem blutrünstigen Heimchen

Die liebevolle Gattin – tatsächlich geschehen die meisten Morde durch Frauen in Beziehungen – die zur Waffe greift, scheint erschreckender, vielleicht auch gefährlicher, jedenfalls ihr Verstoß gegen die Konvention größer als der des Mannes. Gleichzeitig hat das Interesse etwas Voyeuristisches, es erstaunt, wie sehr sexuelle Motive unterstellt werden, wie wichtig auch das Auftreten der Angeklagten oder Verdächtigten in der Berichterstattung wird, bis hin zu detaillierten Schilderungen der Kleidung. Es gehört seit Anbeginn der Kriminalwissenschaft zu den Stereotypen, dass die Frau starken geschlechtlichen Schwankungen unterworfen ist, die sie generell empfänglicher machen für bestimmte Gewalttaten. So sehr uns diese Theorien vom Ende des 19.Jahrhunderts absurd erscheinen mögen – das Vorurteil sitzt tief im kulturellen Gedächtnis. Auch hier liefern die Beiträge Dutzende Belege.

Maria Rohrbach und Monika Weimar – falsche Mörderinnen

Aufschlussreiche Aufsätze dokumentieren die von Kristin Makac und Uta Klein analysierten berühmt gewordenen Fälle Maria Rohrbach aus den 1950er und Monika Weimar aus den 1980er Jahren. Beide Frauen geraten nicht nur schnell in Verdacht, ihren Gatten beziehungsweise ihre Kinder umgebracht zu haben, die Berichterstattung beeilt sich, die oft einseitigen Untersuchungen der Polizei wohlwollend zu kommentieren. Maria Rohrbach, die auch noch dem Klischee der Giftmörderin zu entsprechen scheint, einer heimtückischen Art des Tötens, die angeblich von Frauen bevorzugt wird (siehe den Beitrag von Inge Weiler), wird ebenso wie später Monika Weimar ein ausschweifendes Sexualleben unterstellt – beides ist nicht nur aufgebauscht, sondern steht, worauf jeder kritische Beobachter hinweisen müsste, nicht in direktem Zusammenhang mit irgendeiner Form von Gewaltneigung. Nur zu deutlich wird, dass der Verstoß hier gegen ideologische Barrieren stattfand, die Gefährlichkeit der Frauen lag aus Sicht vieler Berichterstatter eher in ihrem selbstbestimmten Wesen und Handeln, in der fehlenden Unterordnung unter den – übrigens selbst oft gewalttätigen – Ehemann. Beide Frauen wurden – unter Zustimmung der Presse – verurteilt, beide waren unschuldig, wie spätere Gerichtsverfahren feststellten. Ein Interview mit Monika Weimar macht die Wirkungen der Berichterstattung, jedoch auch der Haft, noch deutlicher.

Wo Grenzen zwischen Opfern und Tätern bewusst verschwinden

An Untersuchungen zu den Fällen der vermeintlichen Terrorpatin Monika Haas und der von ihrem Mann ermordeten ehemaligen Grünen-Chefin Petra Kelly weisen die Autoren auf weitere Muster der Verzerrung hin, den vielleicht aufschlussreichsten Beitrag liefert Dagmar Oberlies mit ihrer genauen Analyse des Medienrummels um den Mord des berühmten Berliner Boxers Gustav „Bubi“ Scholz an seiner Ehefrau Helga Scholz. Nicht ein Boulevardblatt, sondern der „Spiegel“ schafft es hierbei, aus dem geständigen Täter Scholz ein Opfer seiner eigenen Tat zu erschaffen. In dem er sie umbrachte, habe er sich seiner großen Liebe und Stütze beraubt, er sei geradezu bemitleidenswert. Es fällt einem schwer, dieser Art von Logik zu folgen. Dem Gericht dagegen offenbar nicht, die Strafe fiel recht mild aus, das wohlwollende Einverständnis des Publikums durfte man voraussetzen. „Bubi“ war ja eine Ikone.
Henschel, Klein: Hexenjagd.
 

Bilder von gewalttätigen Frauen in Film und Literatur

In der Hinwendung zu den nicht-journalistischen Medien Spielfilm und Literatur betreten die beiden letzten Beiträge Neuland. Maria Schmidt untersucht so genannte Women-in-Prison-Filme (WiP), ein Subgenre, das vor allem in den Siebzigern blühte, und leistet hiermit Pionierarbeit. Von ernsthafteren frühen Versuchen in den 1950er Jahren abgesehen, verkamen die Filme schnell zu voyeuristischen Fantasien, die überwiegend männlichen Gehirnen entsprangen und bald nur noch trashige Schemata wiedergaben. Frauen im Gefängnis reduzierten sich zu sexsüchtigen gewalttätigen Lesben, die in jeder Hinsicht unschuldige Neuinsassinnen missbrauchten. Erst in den Achtziger nahmen sich Regisseurinnen selbst des Themas an und schufen wieder Porträts, welche die Situation der eingesperrten Frauen zu analysieren suchten. Rachel Giora vergleicht die Entwicklung von Frauenfiguren in Romanen und Dramen vor und nach der feministischen Wende, wobei sie feststellt, dass auf fiktionaler Ebene eine Entwicklung der Protagonistinnen von Autoaggressivität, also Selbstmord hin zu aktiver, selbstbewusster Gewalt gegen den Unterdrücker stattfindet.

Gefahren des medialen Einflusses durch Verzerrungen

Die Artikel des Sammelbandes verhandeln nicht die kriminalistischen Fälle, nicht die juristische Frage der Schuld, wie auch der Beitrag eines Mordes durch ein Damentrio in Franken von Petra Henschel unterstreicht, deren Täterschaft unbestritten ist. Gerade dieser Fall fasst jedoch die Intention des Buches exemplarisch zusammen, das Fehlen objektiver Berichterstattung über gewalttätige Frauen anzuprangern. Der mediale Fokus verschob sich schnell auf die teils homosexuellen Beziehungen der drei Damen, Zusammenhänge wurden hergestellt, die vermeintliche Abartigkeit mit Neigung zur Gewalt suggerieren, das voyeuristische Element verdeckte Hintergründe, (männliche) Fantasien von der Lesbenliebe kolportieren die bereits genannten Stereotypen und diskreditieren jegliche Formen selbstbewussten Andersseins.
Das Buch besitzt an mancher Stelle einen polemischen Impetus, der sich jedoch gut begründen lässt, weil er auf Ungerechtigkeiten hinweist, die einerseits sonst wenig Kenntnisnahme und wenig FürsprecherInnen finden, eine Problematik, die andererseits in einem propagierten Informationszeitalter immer mehr an Wichtigkeit gewinnt. Es wäre zu wünschen, dass der Band mehr Leser und Leserinnen findet, um deren Aufmerksamkeit gegenüber der Berichterstattung zu schärfen – längst nicht nur über gewalttätige Frauen.
 
Petra Henschel, Uta Klein (Hg.): Hexenjagd. Weibliche Kriminalität in den Medien. Frankfurt am Main: (Suhrkamp) 1998.

Sonntag, 3. Mai 2015

Der seltsame Erfolg der "10 Milliarden" von Stephen Emmott.


Ein renommierter Wissenschaftler einer aufstrebenden, aktuellen Disziplin - Computational Science, also der rechnerbasierten Auswertung von Statistiken - veröffentlicht in einem der führenden deutschen Verlage - Suhrkamp - ein Werk zu einem brisanten Thema, welches exakt dem Zeitgeist entspricht: den drängenden Probleme des Klimawandels und der Überbevölkerung. Gutgemischte Zutaten für einen Bestseller, möchte man meinen. Und siehe da, es entstand: ein Bestseller. Die entscheidende Frage ist allerdings: Warum?

Stephen Emmott: Zehn Milliarden.
Womöglich gibt es hierauf keine anderen Antworten als die soeben im ersten Satz genannten. Rein marktphilosophisch könnte man noch den Preis dazuzählen, zumindest für die Taschenbuchausgabe. Hierin liegt jedoch zugleich eine Art Mogelpackung: nominell hat das Buch knapp über 200 Seiten, doch nur aufgrund seines exzentrischen Druckbildes. An und für sich hätte für den Text bestenfalls ein Drittel ausgereicht. Da auch die häufigen Statistiken - die mehr oder minder alle gleich aussehen - und die Photographien jeweils großzügig eine Doppelseite einnehmen, dürften wohl siebzig Seiten genügt haben. Doch soll dies kein Kriterium sein, schließlich geht es um den Inhalt. Positiv betrachtet könnte man die ungewöhnliche Form, oft nur ein nicht einmal langer Satz pro Seite, als Zugeständnis an vermeintlich aktuelle Lesegewohnheiten sehen, um die wichtige Botschaft an möglichst viele Personen zu bringen.

Negativ - und nüchterner - betrachtet, ergeben sich aus der Konzession genau all die Defizite, die solche kurzatmigen Statements stets mit sich bringen. Letztlich handelt es sich entweder um Parolen oder um postulierte Fakten, denen weder eine Erläuterung folgt noch eine überprüfbare Herleitung, alles im Twitter-Stil. Angereichert durch die erwähnten auswechselbar wirkenden Statistiken, die ebenfalls ohne großen Kontext hauptsächlich Wissenschaftlichkeit eher suggerieren, und ästhetisch sehr ansprechenden Schwarz-Weiß-Photos, die den Zweck des Buches eben gerade durch ihre professionelle Stilisierung konterkarieren. Die Planquadrate endloser Felder oder die Linien mehrspuriger Autobahnen wirken durch ihre strenge Geometrie eher beeindruckend denn erschreckend.

"Kein theoretischer Überbau, kein moralischer Zeigefinger, nur die Fakten", verspricht der Klappentext. Dass es keine grundlegende Theorie hinter dem Vorgetragenen gibt, ist, wie erwähnt, mehr bedauerlich als hilfreich, doch der Schwerpunkt liegt naturgemäß auf dem Wort "Überbau", der Text gibt Ideologiefreiheit vor. Abgesehen davon, dass der Text von seiner Form her ohnehin einem Pamphlet - einer Kampfschrift mit Aufforderung zur Veränderung - am nächsten kommt, ist diese Behauptung eben...eine Behauptung. Natürlich folgt das Buch einer Ideologie, es versucht nicht einmal, diese zu verschleiern. Schlecht muss das nicht sein, aber dann sollte man es unterlassen, sich als objektiv - "nur die Fakten" - und neutral hinzustellen. Und - gleichfalls der Natur eines Pamphlets entsprechend - wird der angeblich nicht vorhandene moralische Zeigefinger ständig erhoben.

Schließlich hält Emmott der Allgemeinheit - der Menschheit an sich - ihren führenden Vertretern, aber auch seinen Lesern und Leserinnen jeweils vor, welchen Beitrag zum Klimawandel sie leisten - oder eben nicht. Das meiste hiervon ist einem halbwegs gut informierten Zeitungsleser sattsam bekannt, doch es muss ja nicht verkehrt sein, dies alles noch einmal in kompakter Form zusammenzutragen, etwa als Argumentationshilfe. Dies wäre ein Verdienst des Autors ("wäre" statt "ist", weil, wie gesagt, die Argumente im Raum stehen bleiben, ohne weiter unterfüttert zu werden). Weiter geht der Autor nicht. Es fiele schwer, ihn gegen den Vorwurf des Alarmismus zu verteidigen - Emmott zeichnet das Bild einer kaum noch vermeidbaren Katastrophe in drastischen Ausdrücken, bleibt jedoch jedweden konstruktiven Lösungsansatz schuldig. Mehrfach bewegt er sich in diese Richtung, doch stets läuft es darauf hinaus, dass sowohl die großen Ideen und Technologien etc. als auch das Handeln des Einzelnen kaum von Belang sei oder Aussicht auf Erfolg habe. Zwar predigt er als alleiniges Mittel den radikalen Verzicht - räumt jedoch realistischerweise umgehend ein, dass solch ein Appell nichts fruchten werde. Im Prinzip eine Aufforderung zum Nichtstun mit wohligem Grusel - ganz entgegen dem breitgedruckten Zitat der Rückseite: "Wenn wir eine globale Katastrophe verhindern wollen, müssen wir irgendetwas Radikales tun - und ich meine wirklich TUN."

Leser und Leserinnen zum Handeln - zu einem schwammigen "irgendetwas" - in letzter Minute aufzufordern, während der Text ständig suggeriert, dass es nichts mehr nutzt, während in einem fort nur im Negativen argumentiert wird - nach der Formel: wir tun dies oder jenes nicht - sprich kein positiver Anknüpfungspunkt geboten wird, gehört zu den zahlreichen Paradoxien des Buches, mit denen es sich selbst ständig unterläuft. Emmott pocht auf eigene Wissenschaftlichkeit, polemisiert in billiger Stammtischmanier jedoch gleichzeitig gegen die (Natur)Wissenschaft: brauchen wir etwa  Millionen für das CERN? Natürlich nicht, sagt Emmott.

Im Mittelpunkt unseres Denkens sollte das Überleben unserer Erde und damit der Menschheit stehen - wer möchte dem widersprechen? Jedem einigermaßen klar denkenden Zeitgenossen hat das schon vor der Lektüre des schmalen Bändchens eingeleuchtet. Wer jedoch mehr möchte als sich nur bestätigt fühlen und auf Rat oder wenigstens Anregungen zur Abhilfe hofft, wird von Emmott nicht nur alleingelassen, sondern lediglich tiefer in die Resignation getrieben. Aufgeschlossene Leser und Leserinnen hinterlässt das Buch im wahrsten Sinne des Wortes rat-los. Ein Gegner in einer Diskussion, der sich schlechter Argumente bedient, ist ein Glücksfall - ein Verbündeter mit schwachen Argumenten dagegen ist eine Katastrophe.

Stephen Emmott: 10 Milliarden. Berlin: Suhrkamp 2015.                      
 
 

Donnerstag, 9. April 2015

Fränkische Verbrecher. Giftmörder, Attentäter, Werwölfe.


Benedikt Grimmler: Fränkische Verbrecher. Die spannendsten Kriminalfälle 1330–1975.

 
Ein kleiner Raubritter, der sich zum Anführer einer aufrührerischen Menge aufschwingt und in Mainfranken Hunderte von Juden umbringen lässt. Ein angesehener Nürnberger Ratsherr, der im Glauben an einen guten Zweck öffentliche Gelder unterschlägt. Ein verhasster Ansbacher Bürgermeister, der stirbt und als blutrünstiger Werwolf wiederkehrt. Ein gewiefter  Kulmbacher Offizier, der sich als Alchimist versucht und seinen Markgrafen betrügt. Eine verarmte Nürnbergerin, die ins ländliche Oberfranken zieht und dort zur Giftmörderin wird. Ein unauffälliger Student aus dem Fichtelgebirge, der als Attentäter zur europäischen Berühmtheit aufsteigt. Eine gesuchte RAF-Terroristin, die in Nürnberg eine Wohnung inspiziert und dort von der Polizei erschossen wird. Sieben wahre Fälle aus Franken, ebenso schauerlich wie spektakulär, bei denen die Personen und ihre Zeit im Mittelpunkt stehen – eine spannende Spurensuche vom Mittelalter bis in die Gegenwart.          

Hierzu eine Rezension der "Süddeutschen Zeitung":
http://www.sueddeutsche.de/bayern/neues-buch-ritter-arnold-und-andere-ganoven-1.2432725
 
128 Seiten, 40 Bilder (Schwarz-Weiß), Maße: 170 x 240 mm, gebunden, ISBN: 978-3-95400-506-2, 1. Auflage 18.03.2015

Montag, 16. März 2015

Die Möglichkeit für intelligentes Leben im All: Die Drake-Formel.


Der Astronom Frank Drake, geboren 1930, entwickelte bereits zu Beginn der 1960er Jahre eine Formel, mit der sich die Wahrscheinlichkeit intelligenten Lebens im All berechnen lassen soll.
 
Unsere Galaxie, die Milchstraße, besteht aus Milliarden von Sonnensystemen, von denen einige Milliarden wiederum Planeten besitzen,die ihre Sterne in Zonen umkreisen, die – theoretisch – Leben ermöglichen. Dieses könnte sich weiterentwickeln zu intelligenten Lebensformen, wie es einst auf der Erde geschah. Dass es noch weiteres Leben im All gibt, daran zweifelt heutzutage kaum noch jemand. Doch wie wahrscheinlich ist es, dass sich dieses über die Bakterienform hinaus zu einer Form entwickelt hat, die auch gewillt und in der Lage ist, Signale in den Weltraum hinaus zu senden?

Frank Drake und seine Formel

Der Astronom Frank Drake entwickelte seine Formel bereits 1960 und postulierte damit ein Mittel, um wenigstens die theoretische Möglichkeit intelligenten Lebens in unserer Galaxie wissenschaftlich berechnen zu können. Auf den ersten Blick erscheint sie allerdings nicht gerade hilfreich:
 
N = R x f(p) x n(e) x f(l) x f(i) x f(c) x L
 
Was genau also verbirgt sich hinter der kryptischen Buchstabenfolge?

Das große R, das erste kleine f

R ist die Sternenentstehungsrate, also die Anzahl der Sterne, die pro (Erden-)Jahr in unserer Galaxie ein Fusionsfeuer zünden. 1960 glaubte man an runde zehn Stück, heutzutage hat man dies herunterkorrigiert auf sechs. Nicht alle diese neu gebildeten Sonnen verfügen allerdings über ein zugehöriges Planetensystem, genau genommen weiß man nicht, wie viele ein solches tatsächlich besitzen, daraus leitet sich die Schätzung f(p) = 0,5 ab, mit anderen Worten, man geht davon aus, dass etwa die Hälfte der Sonnen mindestens einen Planeten als Begleiter aufweisen können.

Die besten Wohngegenden im Sonnensystem: n(e) und f(l)

Leben irgendwelcher Art kann sich allerdings, wie schon erwähnt, nur in einer bestimmten Gegend eines Planetensystems bilden – wenn überhaupt. Diese bezeichnet man als „habitable Zone“, die im Falle unserer eigenen Sonne bestenfalls von der Venus bis zum Mars reicht, also nur drei der sie umkreisenden acht Planeten umfasst. Das kleine n in Drakes Formel gibt die vermutete Anzahl von Planeten in habitablen Zonen an. Dabei ging Drake von zwei Exemplaren aus.
Dass der Planet bewohnbar ist, muss noch lange nicht bedeuten, dass sich dort Leben entwickelt und erst recht nicht, dass dieses eine „höhere“ Form annimmt. Trotzdem setzte Drake den Faktor f(l), die Wahrscheinlichkeit für eine gelungene Evolution, mit der Zahl 1 recht hoch an.

Außerirdische unter sich: f(i) und f(c)

Auch die Römer waren eine zivilisierte und weit fortgeschrittene Kultur auf dem Planeten Erde, trotzdem besaßen sie wenig Interesse daran, sich das Leben außerhalb der Erde vorzustellen. Vorerst genügte ihnen das Erobern von Kontinenten, f(i) setzt aber die Intelligenz und das Bewusstsein einer Zivilisation voraus, über den eigenen Planeten hinaus zu denken. Drake glaubte, dass nur 0,01 Prozent aller sich entwickelnden planetaren Gesellschaften dieses Niveau erreichen würden.
Trotzdem hätte dieser Fortschritt den Römern nichts genutzt, da sie nicht die technischen Möglichkeiten besaßen, um Kontakt mit anderen Welten aufnehmen zu können, wenn sie dies wirklich gewollt hätten. Auch unsere momentanen Fähigkeiten in dieser Hinsicht sind noch begrenzt, doch der Wille ist eindeutig vorhanden, wie zum Beispiel das S.E.T.I.-Projekt belegt. Drake beschrieb diese Aufgeschlossenheit fremden Leben gegenüber als f(c) und setzte sie ebenfalls mit 0,01 an.

L: Leider ist niemand mehr da

Dies alles vorausgesetzt, sprich eine intelligente Zivilisation, die Signale nach außen sendet, um außerirdische Mitbewohner zu suchen, bleibt die Frage, wie lange so eine Suche vor sich gehen kann, bevor diese Zivilisation in der langlebigen Galaxie auch schon wieder verschwunden ist. Drake war großzügig: er schätzte die Dauer für solch einen Zeitraum L, in dem die Kontaktaufnahme technisch möglich ist und auch unternommen wird, mit 10.000 Jahren ein.

Die Rechenkünste des Mister Drake

Summa summarum ergibt sich demnach folgendes Ergebnis:
 
N = 10 x 0,5 x 2 x 1 x 0,01 x 0,01 x 10 000 = 10
 
Nur zehn Planeten von all den Milliarden sind also – derzeit – von hoffentlich freundlichen Kontakt suchenden Außerirdischen bewohnt, die zivilisatorisch mit uns in einer Liga spielen. Wobei nicht zu vergessen ist, dass gleich die erste Ziffer 10 zu hoch angesetzt war. Das erscheint ernüchternd. Rechnet man unsere kleine Erde gleich heraus, bleiben nur noch neun Zivilisationen übrig.

Der wissenschaftliche Wert der Drake-Formel

Fremde Welten - günther gumhold  / pixelio.de
Die Aussagekraft dieser Gleichung ist noch ernüchternder, denn sie liegt nicht bei zehn, sondern eher Null. Um wirklich als seriös gelten zu können, basiert sie auf viel zu vielen rein spekulativen Annahmen. Dies beweist schon die Berichtigung der Sternentstehungsrate R, eine Variable, die zwar auch nur auf Annahmen, aber wenigstens noch auf nachvollziehbaren Berechnungen aufbaut, die Grundlagen in der Forschung haben. Dies gilt unter anderem keineswegs für Bestandteile der Formel wie f(i) oder L, bei denen es sich allenfalls um phantasievolle Schätzungen handelt.
Die Drake-Formel ist also – positiv gesehen – ein spannendes Gedankenexperiment, weniger wohlwollend betrachtet eine pseudowissenschaftliche Spielerei ohne jegliche echte Aussagekraft. Was dies wiederum über unseren zivilisatorischen Intelligenzgrad aussagt, bleibt offen. Oder außerirdischen Beobachtern zu beurteilen überlassen.

Samstag, 21. Februar 2015

Alois Prinz über Ulrike Meinhof: Lieber wütend als traurig.

Es gibt mehrere Biographien über Ulrike Meinhof - nur wenige sind so gelungen wie die Alois Prinz': Lieber wütend als traurig. 

Lieber wütend als traurig betitelt Alois Prinz seine Lebensgeschichte der als traurig betitelt Alois Prinz seine Lebensgeschichte der Ulrike Meinhof, seine Protagonistin zitierend, doch hat man den Eindruck, er selber sei bei Abfassung des 2003 erschienenen Buches genau umgekehrt verfahren, ursprünglich übrigens ein Jugendbuch, doch später vom Suhrkampverlag in dessen Taschenbuchreihe aufgenommen. Die ursprüngliche Publikumsintention darf deshalb nicht vergessen werden – dem Buch hat sie keinesfalls geschadet, im Gegenteil.

Skeptischer Blick auf eine Ikone der Bundesrepublik

Prinz behält sich von Anfang an eine gewisse Skepsis vor, seine Antwort auf die Frage, wie aus einem mehr oder weniger normalen Mädchen später eine gesuchte Terroristin werden konnte, die später Banken überfiel und es vertretbar fand, „Bullenschweine“ abzuknallen, macht er sich weit weniger einfach als etwa Jutta Ditfurth in ihrer Biographie – sofern sie überhaupt danach sucht – und er räumt ein, dass eine große Gefahr darin besteht, erklärende und scheinbar folgerichtige Linien herzustellen, wenn man ein Leben von seinem Ende her betrachtet.

Distanz und Einfühlungsvermögen als Mittel des Autors

Geradezu erfrischend ist sein Hinweis, so manche gern kolportierte Anekdote, im konkreten Fall die von der aufsässigen Schülerin Ulrike, die nach einem Disput kurzerhand aufsteht und die Schulklasse verlässt, gehört vielleicht schon zur Mythenbildung. Er mag seinen eigenen Kriterien nicht immer standhalten, beispielsweise in der fast schon märchenhaften Geschichte, als die kleine Ulrike auf dem ehemaligen Jenaer Schlachtfeld ein Kaninchen aus einer Höhle rettet, und gelegentlich erweckt er den Eindruck, als würde er sich soweit zurücknehmen, dass sein eigener Standpunkt nicht mehr zu erkennen ist oder gar mit dem ungefiltert Berichteten übereinstimmt, doch geht sein durchaus vorhandenes Einfühlungsvermögen nie ernsthaft in die Nähe rechtfertigender Identifikation.
Symptomatisch hierfür: Ulrike Meinhof wollte die entflohenen Heimzöglinge überreden, bei einer Protestaktion in anderen Heimen mitzumachen, um darüber berichten und Fotos machen zu können. Herbert Faller wollte das verhindern. Er fand Ulrike Meinhofs Verhalten äußerst fragwürdig. Seiner Meinung nach interessierte sie sich überhaupt nicht für das persönliche Schicksal der Jugendlichen, sondern wollte sie nur für ihren Artikel ausnutzen. Eine Kritik an Meinhof, weitab von Verklärung, die sich ihre anderen Biographen Mario Krebs oder Ditfurth nie erlaubt hätten.

Entlarvung einer gewordenen Fanatikerin

Prinz erkennt auch richtig, dass viele der Argumente – und Handlungen – der späteren Ulrike Meinhof nicht aus ihren früheren Äußerungen abgeleitet werden können oder gar deren konsequente Weiterführung wären, sondern ihnen widersprechen, etwa ihre Aufforderung im Interview mit Michèle Ray, einen Polizisten nicht mehr als Mensch anzuerkennen, womit sie sich weit von ihrem früheren, christlichen Menschenbild entfernt habe, was fast schon zu lapidar klingt. Stattdessen nun ein heroischer Trotz, der einen an die Standhaftigkeit großer Freiheitskämpfer oder Heiliger erinnert. Es ist eine Unbeirrbarkeit, die sich um keinen Preis mehr von ihrer gerechten Sache abbringen lässt, sie ist zu dicht, zu fugenlos für Veränderungen, neue Einsichten, Zweifel, kurzum sie geht über in den Fanatismus.

Keine heimliche Sympathie für den Terror

Prinz geht auf die Mythen ein, aber er wahrt seine Distanz, die „Isolationsfolter“ bleibt in Anführungsstrichen, für Holger Meins’ menschenverachtende Aufrufe in den Hungerstreiks hat er nichts übrig, Baader nennt er skrupellos oder, noch einen Schritt weiter, jedenfalls trat er so auf, im Stammheimer Prozess entdeckt er Szenen wie in einem absurden Theaterstück, in dem alle Beteiligten – bewusst und unbewusst – völlig aneinander vorbei reden, jeder sich selbst inszeniert. Dagegen sind seine Äußerungen zu den jeweiligen Mordtheorien, sowohl in Bezug auf Ulrike Meinhof als auch den späteren im Deutschen Herbst, wieder seltsam vage, die Selbstmorde wurden von vielen abgezweifelt; diese Aussage bleibt mehr oder weniger leer im Raum stehen, auch wenn dann in dem Ausdruck, die eigene Haltung hierzu wurde zur Glaubensfrage, doch eher wieder Distanz herauszuhören ist.

Der Familienmensch Ulrike Meinhof

Prinz’ Buch wandte sich zuerst an eine jüngere Leserschaft, deshalb bildet einen seiner Schwerpunkte auch der Familienmensch Ulrike Meinhof, insbesondere das Verhältnis zu ihren Töchtern. Er verweist auf Unterschiede zu den kategorischen Trennungen der Mitterroristen von ihren Kindern, sei es Baader, Ensslin oder auch Till Meyer von der Bewegung 2.Juni, Ulrike Meinhof sei es längst nicht so leicht gefallen, ihre Kinder zu verlassen. Trotzdem schickte sie die Zwillinge erst in das sizilianische Lager, das keineswegs das von Jutta Ditfurth beschriebene Idyll war, von lustigen Hippies geleitet, [w]enn eines der Kinder krank war oder Hunger hatte, wollten sie davon nichts wissen und in Ruhe gelassen werden.
Nachdem der Plan mit dem palästinensischen Waisenheim und damit die komplette Trennung gescheitert war, knüpfte die Mutter im Gefängnis kurzzeitig wieder Kontakt zu ihren Kindern, doch Ulrike Meinhof machte es ihren Töchtern schwer, ihre „Mami“ zu verstehen. Bettina und Regine schrieben und malten, aber ihre Mutter antwortete plötzlich nicht mehr. Prinz sucht nach Gründen und glaubt sie indirekt im Druck der anderen, insbesondere von Gudrun Ensslin zu finden, beziehungsweise dem Druck der Selbstkritik, dem sich Ulrike Meinhof ebenso fanatisch wie selbstzerstörerisch aussetzt, sich von ihrem verachteten bürgerlichen Leben loszusagen, [g]ehörten zu dieser „scheiße“ nicht auch die Schuldgefühle, die sie befielen, wenn sie an ihre Töchter dachte?

Distanz zur Mythologisierung einer Terroristin

Ehemalige Weggefährten wollten, zwanzig Jahre nach ihrem Tod, jenseits aller Klischees, an eine Ulrike Meinhof erinnern, wie sie wirklich war. Die Erinnerungen blieben aber merkwürdig blass und kamen selbst über Klischees nicht hinaus, eine allgemeine Zustandsbeschreibung, die sich noch immer kaum verändert hat. Alois Prinz hat einen durchdachten Ansatz gewählt, der ihn viele der Klischees hat vermeiden lassen, ohne rein anklagend oder polemisch zu werden, er gibt zu, er wäre ihr gern noch näher gekommen, hätte sie gern besser verstanden. Aber irgendwann hatte ich das Gefühl, als ob sie immer undeutlicher wird, es bleibt nur eine gewisse Ratlosigkeit. Dieses Eingeständnis mag ja für manchen Leser unbefriedigend sein, aber es beweist eine skeptische Aufrichtigkeit und bleibt fern von jeglicher falsch verstandener Solidarität.

Alois Prinz: Lieber wütend als traurig. Die Lebensgeschichte der Ulrike Meinhof. Frankfurt/Main. Suhrkamp 2006.

An einer Biographie über Ulrike Meinhof haben sich schon andere versucht, unter anderem Mario Krebs. Eine Besprechung seines Buches findet sich hier: http://bene-a-rebours.blogspot.de/2015/07/ulrike-meinhof-ein-leben-im-widerspruch.html
 

Sonntag, 25. Januar 2015

Asimov / Silverberg: Der positronische Mann.

Ein Roboter möchte gerne ein Mensch werden. Selber schuld.
Zwei berühmte Autoren ihres Faches, Robert Silverberg und Isaac Asimov schreiben gemeinsam eine Geschichte über einen Maschinenmann, der seine menschliche Seite entdecken möchte. Klingt wie ein Science-Fiction-Bildungsroman, ist aber ein anstrengender Thesenroman.
Englische Originalausgabe:
The Positronic Man

Thesen zum Thesenroman

Das Genre des Thesenromans ist, wenn man es so ausdrücken möchte, „speziell“. Oder mit anderen Worten: sperrig. Der Autor möchte eine oft grundlegende Ansicht – oder was er dafür hält – seinem Publikum nahe bringen, weiß aber, dass Essays nicht gerade ein Verkaufsschlager sind. Also packt er seine Idee(n) in eine Handlung ein, um die Leserzahl zu erhöhen. Das ist keineswegs verwerflich, im Gegenteil. Leider führt es oft dazu, dass dem dabei entstandenen Werk seine essayistische Herkunft deutlich anzumerken ist. Die Geschichte wirkt konstruiert – oder überladen, z.B. durch monologische Redeanteile.

Der Besuch der alten Leier

Gerade dadurch wird das ursprüngliche Ziel – eine breitere Leserschaft – meist ebenso wenig erreicht. Nur wenige Autoren von Thesenromanen bleiben wirklich im Gedächtnis verankert, etwa Aldous Huxley, einer der raren Meister des Genres. Gelegentlich liegt es aber nicht an der faden Konstruktion der Handlung, sondern an der Schlichtheit der zugrunde liegenden These. Das berühmteste Beispiel hierfür ist kein Roman, sondern ein Drama: Friedrich Dürrenmatts Der Besuch der Alten Dame. Geld macht korrupt! Das ist so überraschend wie fast schon tautologisch, aber natürlich deshalb eben auch nicht verkehrt. Und zumindest für jeden halbwegs intelligenten Menschen – etwa ab der dritten Klasse – nachvollziehbar. So verwundert auch nicht der andauernde Erfolg des Stückes.

Über Roboter und Menschen

Doch zu Asimov und Silverbergs Positronischem Mann, einer Ausarbeitung von Asimovs früherer Kurzgeschichte The Bicentennial Man – in deren Kürze wohl eher die berühmte Würze gelegen hat. Nun dient der Roman zweierlei: einmal der Veranschaulichung von Asimovs berühmten Robotergesetzen (die letztlich darauf hinauslaufen, Robotern den Menschen zu unterwerfen, bzw. sie unterworfen zu halten) und zweitens der Geschichte des einen ganz besonderen Roboters, der ein Mensch werden möchte.
Das ist natürlich ein altbekanntes Motiv aus dem Zauberer von Oz und der Klappentext des Taschenbuchs weist selbst auf Pinocchio hin, doch ein Märchen, wie es dort dann völlig absurderweise weiter heißt, ist Der positronische Mann sicher nicht.

Ein Apparat im Justizapparat

Denn dieser Roboter, eigentlich ein Standardmodell für den Haushaltsgebrauch, das aber durch irgendeinen nie erklärten Defekt außergewöhnliche Intelligenz und dadurch enorme Fähigkeiten entwickelt, die ihm den Menschen (seinen mechanischen Kollegen sowieso, die werden im Verlauf der Jahrzehnte eher dümmer – absichtlich) überlegen machen, folgt in seinem Bestreben nach Menschlichkeit nicht irgendwelchen philosophischen Vorbildern oder ähnlichem – nein, er klagt sich durch die Instanzen. Das ist... sehr menschlich, möchte man sagen, insbesondere auf dem nordamerikanischen Kontinent. Nur: sympathisch macht ihn das nicht, auch weil er irgendwann das System von Erpressung und Drohung im Justizsystem durchschaut – und selbst anwendet.

Spannungsvermeidung à la Asimov / Silverberg

Und das ist alles, Verzeihung, einfach furchtbar ermüdend, Plädoyers reihen sich an Plädoyers. Vieles Spannende bleibt unangetastet. So erfindet der Roboter, der immer mehr zu einem Androiden wird, zahlreiche Prothesen, die vor allem den Menschen zugute kommen – auch diese werden dadurch immer mehr zu Androiden. Das wird zwar angedeutet, aber nicht weiterverfolgt. Und die grundsätzlichen Regeln Asimovs, die wie gesagt nichts anderes sind als eine dauerhafte Unterdrückung der Roboter – was dem Ansinnen des Protagonisten naturgemäß völlig zuwiderläuft – werden nicht einmal diskutiert.

Mensch, Mensch

Der Grund dafür ist offensichtlich. An erster Stelle steht hier der Mensch. Warum sollte ein überlegener Androide ein Mensch werden wollen? Genau genommen ist das schließlich nur eine Spielart menschlicher Arroganz – von Menschen ausgedacht. Es fällt den Autoren auch schwer, diesen Wunsch plausibel zu machen, letztlich bliebe als Motiv nur reine Anpassung. Das ist vielleicht nachvollziehbar, aber wiederum erwärmt es einen nicht gerade für den Protagonisten. Einsamkeit wäre auch eine Motivation, aber der Roboter ist eher gefühlskalt – und es liegt ihm auch nicht daran, neue „Kollegen“ zu erschaffen, d.h. die grundsätzliche Position der Roboter zu verbessern.

Noch ein positronischer Mann

Data, der Androide aus Star Trek The Next Generation, hat den gleichen Wunsch wie Andrew Martin, der positronische Mann. Doch erstens liefert er dafür wesentlich bessere Gründe, er möchte die menschliche Natur verstehen – und erleben – können, dazu kann man stehen wie man will, und zweitens gibt es gegen diesen Wunsch des öfteren in der Serie auch kritische Gegenrede – wenn auch zumeist von eher fragwürdigen Figuren. In jedem Fall Data kommt Pinocchio weitaus näher als der humorlose Andrew Martin.
Der positronische Mann liefert, im Gegensatz zu einem gelungenen Thesenroman, keinen bedeutenden Beitrag zu einer Kontroverse, ob spätere Generationen sich an dieses Buch erinnern werden, wenn sie den ersten Androiden bauen, ist eher zweifelhaft. Und eigentlich auch gar nicht wünschenswert.

Isaac Asimov/Robert Silverberg: Der positronische Mann. Roman. Heyne: München 1998.