Klöster sind am
Bodensee, man weiß es spätestens seit Arno Borsts Klassiker Mönche am
Bodensee, alles andere als eine Seltenheit. Doch Kloster ist nicht gleich
Kloster und neben den Berühmtheiten wie Salem, St. Gallen, der Reichenau, Stein
am Rhein oder der Bregenzer Mehrerau finden sich allerlei kleine Konvente, die
nur den Einheimischen im Umkreis von zehn Kilometern und den Experten bekannt
sind, von Bächen über Kalchrain, von Hermannsberg bis Tübach, von Langnau bis
Grünenberg. Unser heutiges Ziel, Weppach, gehört, es wird niemanden
überraschen, in die zweite Kategorie. Eine Umfrage hier in Konstanz, ob man
schon einmal von Weppach gehört habe und wo dieses denn liege, ergäbe
vermutlich desaströse Ergebnisse.
Nun, es liegt
auf der anderen Seeseite – von Konstanz aus betrachtet – zugegeben gut
versteckt im Wald zwischen Bermatingen und dem Deggenhausertal auf dem Gebiet
der einstigen Herrschaft Heiligenberg. Fräulein Annika und ich machen uns
folglich mit dem Seehänsele, dem Zug von Radolfzell nach Friedrichshafen, Teil
der Bodenseegürtelbahn, auf nach Bermatingen, obwohl das eine Qual ist, wenn
man vorher ständig mit der Schweizer Bundesbahn unterwegs war – aber das steht
auf einem anderen Blatt. Jedenfalls kommen wir überraschenderweise doch irgendwann
in dem Ort zwischen Salem und Markdorf an. Bermatingen gehörte seit 1390 zur
benachbarten Zisterzienserabtei, da hatte das Dorf schon einige Jahrhunderte
auf dem Buckel, erstmals genannt wurde es nämlich bereits 799, als der Herr
Karl der Große auf dem Königsthron saß – Kaiser wurde er ja erst im Jahr
darauf. Diverse Funde weisen darauf hin, dass Bermatingen allerdings noch um
einiges älter sein dürfte, so fand man ein Grab vom Ende des 7. Jahrhunderts
und zudem in der Kirche eine christliche Altarplatte, die in etwa auf 650
datiert wurde.
Die Kirche. Wenn
man ins Zentrum des Ortes kommt, unzweifelhaft eines der schönsten im ganzen
Linzgau, sucht man sie vergeblich. Tatsächlich liegt sie am Ortsrand, auf einem
Hügelchen, früher ein eigener kleiner Ortsteil mit dem sprechenden Namen
Pfaffenhofen. Auch diese Gebäudekombination fasziniert, denn hier steht neben
einem sehr kräftigen spätgotischen Turm ein dreischiffiges Langhaus ebenfalls
aus der Spätgotik, was für eine Dorfkirche sehr monumental ist. Kenner würden
eine ehemalige Kloster- oder zumindest eine Wallfahrtskirche vermuten, doch
hätten sie sich damit – ausnahmsweise – getäuscht. Bermatingen war weder das
ein noch das andere, sondern schlicht die bedeutendste Pfarrei im Umkreis. Wie
der Altarfund schon angedeutet hat, kann die Pfarrei – erst viel, viel später
im 13. Jahrhundert urkundlich genannt – ein hohes Alter aufweisen. Lange Zeit
war sie die Mutterkirche für Markdorf, Hagnau, Kluftern, Ahausen, Ittendorf,
Kippenhausen, Immenstaad und Fischbach, kurzum für einen beträchtlichen Anteil
des heutigen Bodenseekreises bis hinein ins Stadtgebiet von Friedrichshafen. Da
kann man schon mal ein stattliches Kirchlein hinstellen, auch wenn die Pfarrei
naturgemäß im Laufe der Jahrhunderte durch Auskopplungen immer mehr schrumpfte.
Das Selbstverständnis der Urpfarrei Bermatingen repräsentiert auch in späterer
Zeit noch das prächtige Pfarrhaus neben der Kirche, ein auffälliger Barockbau
von niemand geringerem als Peter Thumb höchstpersönlich. Die nächste Überraschung
erlebt, wer das Gotteshaus schließlich betritt: es ist über und über bemalt mit
Fresken wiederum überwiegend aus der Spätgotik, in dieser Fülle – und dem teils
sehr guten Erhaltungszustand – auch im an Fresken reichen Bodenseeraum eine
Seltenheit. Auch der Rest der Ausstattung, darunter viele sehr schöne
Marienstatuen, würde, neben dem Eindruck der Hallenkirche, den Besuch schon
lohnen.
Obwohl das ja
eigentlich gar nicht unser Ziel ist, woran mich Fräulein Annika erinnert. Wir
sind also im Zentrum von Bermatingen, wo zwar die Kirche fehlt, aber dafür dem
Fachwerkliebhaber alles geboten wird: die Sparkasse, das Rathaus, der
gegenüberliegende Gasthof Zum Adler, große, geräumige Fachwerkbauten, umgeben
von zahlreichen Wohnbauten mit nicht weniger Holzschmuck. Am auffälligsten sind
naturgemäß das Rathaus mit seinem Dachreiter und dem in die Straße
hineinragenden Säulengang sowie das erwähnte Gasthaus, am Wappen erkennbar als
früherer Amtsitz des Salemer Verwalters. Die Gebäude sind alle frühneuzeitlich,
denn 1590 wütete im Ort ein verheerendes Feuer, das wenig übrigließ von den
Vorgängerbauten, was zum schmucken einheitlichen Gesamtbild beiträgt. Gestört
wird dieser heimelige Eindruck aber durch den Auto- und LKW-Verkehr, der sich
in nicht weniger Zahl und genau mitten durch das Ortszentrum hindurchschiebt.
Selten hatte man so sehr das Gefühl, dass ein Ort eine Umgehung verdient hätte
– und dafür gibt es noch einen zusätzlichen Grund. 1975 hat man im
Autofahrerland – gemeint sind die Bundesrepublik im Allgemeinen und
Baden-Württemberg im Besonderen – das Kunststück vollbracht, die spätbarocke
Laurentiuskapelle im Ort, die 1780 eine Vorgängerin aus dem Spätmittelalter
ersetzte, tatsächlich als Engstelle zu betrachten und kurzerhand abzureißen.
Eine Umgehung wurde damals unter anderem mit der Begründung abgelehnt, dass im
Süden bald ohnehin die neue Autobahn vorbeiführen würde. Nun, diese Autobahn
wurde – zum Glück – nie gebaut, und, zweite abstruse Folge der Abrissaktion,
die Ortsdurchfahrt blieb eng wie eh und je, denn auch noch das Rathaus
abzubrechen oder zumindest durch Rückbau zu verstümmeln, hat man sich dann doch
nicht getraut. Den Bermatingern darf man zugute halten, dass viele den Verlust
der Kapelle damals wie heute betrauern. Zu Recht, nicht nur, weil, wie erwähnt,
der einzig positive Nebeneffekt, der bessere Verkehrsfluss, nie eintrat,
sondern weil man dafür sinnloserweise ein Schmuckstück geopfert hatte, wie
jeder erahnen kann, der sich allein nur die in die Pfarrkirche geretteten
Ausstattungstücke vor Augen führt.
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Über dem Weppachbach |
Es nützt ja
nichts, die Kapelle ist auf immer perdu. Wir verlassen, sobald wir es über die
Straße geschafft haben, den Schauplatz dieser Freveltat und genießen lieber die
noch vorhandenen Fachwerkhäuser, die sich auch entlang der Straße ortsauswärts
in Richtung Deggenhausertal aneinanderreihen. Besonders auffällig ist ein
Gebäude kurz vor dem Ortsrand rechts, wo Fachwerk ringsum schon seltener
geworden ist. Dem laienhaften Blick nach scheint es nicht nur ein hohes Alter
zu besitzen, es sieht auch schwer nach einer Mühle aus. Auf den zweiten Blick
bestätigt dies der an der Fassade angelehnte Mühlstein, doch fehlt noch immer
eine grundsätzliche Voraussetzung: ein Bach. Eine Hinweistafel verifiziert
zumindest schon mal, das es sich um die Salemer Mühle handelt – und auch der
Bach taucht kurze Zeit darauf auf, beziehungsweise verschwindet er, da wir uns
gegen die Fließrichtung bewegen, unter der Oberfläche, er wurde kanalisiert.
Mit ihm verlassen wir Bermatingen und die Straße, kurz darauf verzweigen sich
der Bach – genaugenommen fließen zwei Bäche ineinander – und mit ihnen teilt
sich der Weg. Wir gehen rechts hoch in den Wald, denn dort liegt der Weiler
Weppach.
Wie im
Bodenseeraum üblich, schneiden sich die Gewässer, seien sie noch so klein, sehr
tief in die Molasse, den weichen Sandstein der Region, ein, schnell geht es da
gleich mal um mehrere zehn Meter hinunter. Für uns dagegen geht es an jenem
engen Tal entlang bergauf in großer Kurve. Besagtes Gewässer hat übrigens den
faszinierenden Namen Weppachbach, was einem ein bisschen redundant vorkommt und
zu der Überlegung führt, ob der Wald um das Kloster Wald bei Pfullendorf
Waldwald heißt oder die Seen um das Kloster Irsee bei Kaufbeuren Irseeseen. Der
Weiher bei Marienweiher – noch ein Kloster, aber in Oberfranken – heißt
jedenfalls nicht Marienweiherweiher, aber der Weppachbach Weppbachbach. Diesen
trübseligen Gedanken nachhängend kommen wir schließlich, an ein paar
freundlichen Waldarbeitern vorbei, die mit ihrem schweren Gerät den Weg ordentlich
zermatscht haben – wovor immerhin gewarnt wird – auf die Lichtung des Weilers
Weppach, dem Überbleibsel des einstigen Klosters.
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Der Weiler Weppach |
Dessen Ursprünge
sind unbekannt, genauer: legendär. Ein Reisender soll sich hier verirrt, die
heilige Anna um Hilfe gebeten und nach erfolgter Rettung an der Stelle, die er
durch seinen Stock vorher gekennzeichnet hatte, einen Bildstock errichtet
haben. Die heilige Anna als Nothelferin anzurufen ist recht ungewöhnlich,
zumindest nicht unbedingt naheliegend, es sei denn man setzt einen persönlichen
Bezug des Reisenden zu ihr voraus. Wie auch immer, das Kloster war später der
Mutter Marias geweiht und womöglich liegt hierin die nachgetragene Erklärung.
Die Gründungslegende, datiert auf das Jahr 1202, entspricht einem gängigen
Muster, ihre Fortsetzung vermischt dann schon deutlicher Tatsächliches mit
üblichen Motiven. Der Bildstock wurde ein beliebtes Pilgerziel, dazu fand sich
bald in der Nähe eine Quelle mit vermeintlicher Heilkraft. Eine aussätzige Dame
edler Abkunft habe sich dann dort niedergelassen, um – erfolgreich – von deren
medizinischen Nebenwirkungen zu profitieren, ihr folgten andere Kranke. Um
deren Betreuung kümmerten sich fortan Beginen, also fromme Frauen, die in einer
ordensähnlichen Gemeinschaft lebten. Hier dürfte spätestens der historische
Kern der Geschichte einsetzen, denn die Beginengemeinschaft existierte
nachweislich und die Gründungslegende berichtet hier etwas, was gewöhnlich für
diese Art Erzählung nicht zielführend ist, nämlich einen Misserfolg: das nachlassende
Interesse der Kranken an der Heilquelle. Die Beginen aber blieben trotz
fehlender Pilger vor Ort, der ihren Bedürfnissen entsprach: Abgeschiedenheit –
wie noch heute der Fall – zur Kontemplation. 1384 ist die Sammlung, wie man
solche Gemeinschaften nannte, urkundlich belegt, ab 1400 kommt es immer wieder
zu Schenkungen. Die Beginen waren von der Kirche nie so recht anerkannt,
jedenfalls beäugte man sie mal wohlwollend, mal – wesentlich öfter –
misstrauisch. Selbständige Frauen waren immer verdächtig. Und so suchte man sie
– in den besseren Zeiten – einer anerkannten Ordensgemeinschaft zuzuführen, in
unserem Fall den Franziskanern aus dem nahen Überlingen. Dadurch wurden aus den
Beginen sogenannte Terziarinnen, also „Drittordensschwestern“, zu unterscheiden
vom anderen weiblichen Zweig des Franziskanerordens, den Klarissen. In
schlechteren Zeiten wurden Beginen – und ihre männlichen Gegenstücke, die
Begarden, noch mehr – auch als Ketzer verfolgt, hier im Bodenseeraum, wo sie
sehr häufig waren und viele spätere Klöster auf Beginensammlungen zurückgehen,
war dies zum Glück kaum der Fall.
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Vor der ehemaligen barocken Klosterkirche. |
Unter dem
Kloster Weppach hat man sich keine prächtige Anlage wie im benachbarten Salem,
auch keine große Ordensanlage wie im städtischen Überlingen bei den erwähnten
Franziskanern vorzustellen, sondern eine kleine Kirche mit Ordenshaus, dazu
später ein paar Ökonomiegebäude, beziehungsweise noch viel später ein
Beichtvaterhaus. Solche Klöster existieren noch zum Beispiel auf der Schweizer
Seeseite hoch oben in Grimmenstein oder Wonnenstein im Appenzeller Land – auch
dort auf frühere Sammlungen frommer Frauen zurückgehend, später umgewandelt in
Kapuzinerinnenkonvente. Die Weppacher Gründung gedieh recht gut, auch wenn –
oder weil – hier nur jeweils an die zehn oder zwölf Nonnen wohnten. Selbst den
Bauernkrieg scheint man gut überstanden zu haben, trotz der Nähe zu
Bermatingen, dem Zentrum des „Bermatinger Haufens“. Aber der gab sich ja
ohnehin je nach Standpunkt eher kompromissbereit oder kompromisslerisch, was
nicht unbeträchtlich zum Scheitern des Bauernkrieges in der Region beigetragen
hat. Ich solle nicht vom Thema abkommen, mahnt Fräulein Annika – und sie hat ja
recht. Schlimm kam es für das Kloster erst im Dreißigjährigen Krieg, wo die
Schweden mehrfach plünderten, dazu nahmen dann auch noch durchziehende
bayerische Soldaten – an und für sich Verbündete – mit, was diese vergessen
hatten. Die Schwestern flohen ins fürstbischöfliche Markdorf oder gleich
hinüber nach Konstanz. Der Wiederaufbau gelang jedoch und wurde um 1780 mit dem
Bau – oder der Renovierung – einer neuen Klosterkirche gekrönt. An der konnten
sich die Klosterfrauen allerdings kaum mehr 25 Jahre erfreuen, 1803 wurde der
Konvent vom neuen Landesherrn, dem Fürsten zu Fürstenberg, aufgelöst, die
Nonnen dürften aber dort wohnen bleiben, bis die letzte von ihnen 1828
verstarb. Mit ihrem Ableben war auch das Schicksal der Gebäude besiegelt: das
Ordenshaus wurde abgebrochen, das Beichtvaterhaus zum Bauernhof, die Kirche
ausgeräumt und zur Scheune, später zum Wohnhaus umfunktioniert. Aus dem Kloster
Weppach wurde das Einzel Weppach.
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Deutlich sind die Abbruchkanten des Chores zu erkennen. |
Und so ist es
noch heute. Die Lage ist ein Idyll, damals wie jetzt. Dazu trägt das noch
vorhandene Ensemble durchaus bei, auch dessen Gastfreundlichkeit – man bekommt
hier auf Verlangen Getränke gereicht. Gleichwohl stimmt einen die profanierte
Kirche – schon auf den ersten Blick als solche zu erkennen – natürlich etwas
melancholisch. Versöhnlich immerhin, dass sie hübsch renoviert ist. Um das
frühere Eingangsportal und die Fenster erkennt man noch Überreste von
Zeichnungen und Einritzungen des barocken Dekors, das diese einst umgab. Im
Innern, das wir leider nicht besichtigen konnten, soll es ebenfalls einige
Spuren von Malereien geben. Wer um das Gebäude herumläuft, dem fällt auf der Rückseite
der deutliche Mauerabbruch auf, der den früheren, abgebrochenen Chor markiert.
Das also ist geblieben von über vierhundert Jahren Klosterleben auf der
Weppacher Lichtung, und bevor uns die Wehmut gänzlich überfällt, flüchten auch
wir wie einst die Nonnen ins benachbarte Markdorf. Fräulein Annika fragt sich
mit gutem Grund, warum wir nicht ein lebendiges Kloster besuchen, schließlich
wäre das ein vernünftiger Ausgleich, und da Grimmenstein und Wonnenstein
ohnehin schon erwähnt wurden...? Wie immer hat sie natürlich recht – und wer
wäre ich, ihr diesen Wunsch nicht zu erfüllen?