Mittwoch, 26. Februar 2020

Das neue Buch: Vergessene Pfade Bodensee.


Es ist soweit, das neue Buch ist vollendet und druckfrisch in den Buchläden und Versandhäusern. 

Gemäß der bisherigen Regel ist nach Franken wieder der Bodensee an der Reihe, diesmal mit Ausflüge zu Fuß ins Hinterland zu den eher nicht so bekannten, aber nicht weniger sehenswerten Zielen der Region. Wie immer sind die Schweiz und Österreich ebenso prominent vertreten wie die deutschen Uferanteile, nur geht es in diesem Band an Orte, wo man nicht unbedingt auf Busladungen trifft, aber auf verborgene Natur- und Kunstschätze oder einfach die Stille genießen kann. 

Von Honstetten bis Göfis, von Unterreitnau bis Affeltrangen, es gibt noch viel zu entdecken. 

Benedikt Grimmler: Vergessene Pfade Bodensee. 36 außergewöhnliche Touren abseits des Trubels. München: 2020.
 





Sonntag, 16. Februar 2020

Suhrkamps Romane des Jahrhunderts (16): Oscar Wilde - Das Bildnis des Dorian Gray.


Oscar Wilde: Das Bildnis des Dorian Gray. st 2732

Erschienen ist Oscar Wildes (1854-1900) aus einer Erzählung hervorgegangener einziger Roman Das Bildnis des Dorian Gray im Jahr 1890. Er ist folglich streng genommen kein „Roman des Jahrhunderts“, jedenfalls nicht des Zwanzigsten. Nimmt man jedoch nicht das Datum seiner Publikation, sondern seiner Wirkung, ist dieses Attribut mehr als gerechtfertigt. Nicht unbedingt, weil der Text einen maßgeblichen Einfluss auf das literarische Wirken der Jahre danach gezeitigt hätte – dafür war er zu typisch für sein Zeitalter des Fin de Siècle, von dem sich die folgende Generation in ihren Mitteln und Inhalten erst einmal scharf abgrenzte –, sondern weil er, was schließlich nicht jedem ambitionierten Roman gegeben ist, zu einem großen Publikumserfolg und letztlich einem der meistgelesenen englischsprachigen Bücher überhaupt wurde. Je nach Leserschaft wohl auch aufgrund der Biographie seines Autors – oder in manchen Kreisen, gerade den in Wildes Texten oft charakterisierten und karikierten, trotz eben dieses öffentlichen Lebens.
Wilde selbst ließ einmal die Bemerkung fallen, er habe sich in allen drei Hauptpersonen verewigt, dem Maler Basil Hallward, dessen aristokratischem Freund Lord Henry Wotton und dem jungen Dandy-Lehrling Dorian Gray, auch er Spross eines altehrwürdigen Adelsgeschlechtes. Den Leserinnen und Lesern werden jedoch vor Beginn einige Warnungen als Rezeptionsanweisungen vorgegeben, die sowohl textextern als auch textimmanent verstanden werden können – und sollen: Die Kunst zu offenbaren und den Künstler zu verstecken ist die Aufgabe der Kunst (7), was sich auf den Schriftsteller ebenso bezieht wie auf den Maler. Alle Kunst ist zugleich Oberfläche und Symbol. Wer unter die Oberfläche geht, tut es auf eigene Gefahr (8). Noch heute ist Wilde für solch Aphorismen berühmt und für Kalendersprüche und Internetzitate verwendbar, insbesondere aufgrund der oft – scheinbar – paradoxen Aussagen. Ein Meister dieser geistreichen, zumeist widersprüchlich in Chiasmen angeordneten Repliken ist Lord Wotton, Um eines Epigramms willen opferst du jeden Menschen, Harry (263), eine Bemerkung, die den blasierten Zyniker bestens umschreibt, dem die Lust an Gesuchtheit, Wohlklang und Formulierung seiner Aussagen, die stets eine ungefährdete Provokation darstellen, wichtiger ist als der letztlich folgenlose Inhalt. Schönheit in der Sprache dient ihm lediglich wie in allen seinen Tätigkeiten nur zur Vermeidung des aus seiner Sicht größten Übels: der Langeweile.
Dorian Gray, der anfangs noch so unbedarfte Jüngling, der dem Maler Basil Hallward als Inspiration Modell sitzt, durchschaut diese gefährliche Oberfläche nicht, im Gegenteil. Anders der Maler, der sogleich ahnt, welchen fatalen Einfluss der wortgewandte Lord auf den aufnahmebereiten Jungen haben muss, doch die Begegnung nicht unterbinden kann. Gleich zu Beginn impft Wotton Dorian Gray den Abscheu vor dem Alter ein, wenn alte Leute überhaupt zu einer Gemütsbewegung fähig sind  (10), vor allem die Furcht vor dem Verlust der Schönheit, weil Sie die entzückendste Jugend haben, und es gibt ein Ding, das sich zu haben lohnt: Jugend (34), doch was die Götter geben, nehmen sie schnell wieder. Sie haben nur ein paar Jahre, in denen Sie wahrhaft, vollkommen, völlig leben können. Wenn ihre Jugend dahingeht, verlässt Sie auch ihre Schönheit (35), eine Ungerechtigkeit, wie der Lord konstatiert, Die gemeinen Wiesenblumen welken, aber sie blühen wieder (36), wir bekommen nie wieder unsere Jugend (36). Dorian verinnerlicht diese Sicht, mit der ihm Wotton zu gleich Angst macht und ihm schmeichelt: Ein neuer Hedonismus – das ist es, was unser Jahrhundert braucht. Sie könnten sein sichtbares Symbol sein (35) und sie wird ihm am deutlichsten durch das meisterhafte Portrait, das Hallward von ihm angefertigt hat. Nur im allerersten Augenblick herrscht Begeisterung, Der Eindruck seiner eigenen Schönheit kam wie eine Offenbarung über ihn. Er hatte ihn nie zuvor gehabt (38), schnell jedoch begreift er, dass nach dem ihm soeben Gesagten dieses Bild ein ständiges Menetekel sein wird. Ich werde alt und grässlich und widerwärtig werden, aber dieses Bild wird immer jung bleiben. Es wird nie älter als dieser Junitag heute (39), worauf er eine Art Fluch und Bitte zugleich ausspricht: Wenn es nur umgekehrt wäre! Wenn ich immer jung bleiben könnte und dafür das Bild immer älter würde! Dafür – dafür – dafür gäbe ich alles! Ja, es gibt nichts in der ganzen Welt, was ich nicht dafür gäbe! Ich gäbe meine Seele dafür! (39).
Dorian Gray schließt einen klassischen Teufelspakt – nur ohne Teufel. Es ist nicht klar, an wen sich seine Bitte richtet, Religion ist nur eine der vielen inhaltsleeren sinnlich-ästhetischen Erfahrungen, und weder der Maler noch Lord Wotton, der schließlich am ehesten dem Verführer gleichkommt, verfügen im eigentlichen Sinn über transzendente Fähigkeiten. Im Gegenteil, Hallwards von Gray geradezu tranceartig inspirierte Schöpferkraft ist mit der Anfertigung dieses Meisterwerkes am Ende, wodurch er zudem seinen Einfluss auf sein Modell verliert. Diesen übernimmt vorerst Wotton, der Dorian Gray in die seichte Welt der amüsanten Vergnügen, des spitzfindigen Gesprächs mit Esprit und des ausgefeilten Geschmacks einweiht, gemäß seinem erwähnten Ziel, ihn zum Bannerträger des Hedonismus zu formen. Selbst dieser Zyniker ahnt, dass er hier mit einem Schicksal spielt, aber ihm ist das Spiel immer noch wichtiger als das Leben: Der Himmel über ihm war wie eine verwelkte Rose. Es gemahnte ihn an das ganze feuerfarbene Leben seines Freundes, und die Frage kam ihm: Wie würde das enden? (81)
Dorian kommt nicht über den Einfluss von Oberflächen hinaus, wie ihn ja das Portrait versinnbildlicht. Als er sich Hals über Kopf in eine junge Schauspielerin verliebt, kann er nicht zwischen ihren Rollen und ihren echten Gefühlen unterscheiden. Die Äußerungen des Lebens interessieren ihn nicht, nur ihre ästhetische Form – brüsk bricht er mit ihr, die daraufhin Selbstmord begeht. Durch die Ansichten Lord Wottons bestärkt, sieht Dorian Gray darin lediglich eine recht unschöne Störung seines über den Alltäglichkeiten erhabenen verfeinerten Empfindens. Dorian bleibt schön und äußerlich jung. So hat es den Anschein. Die Veränderung geht in dem Portrait vor, es barg das Geheimnis seines Lebens und erzählte seine Geschichte. Es hatte ihn gelehrt, seine eigene Schönheit zu lieben. Sollte es ihn lehren, sich vor der eigenen Seele zu ekeln? (122), das Bild, ob verändert oder unverändert, sollte ihm das sichtbare Wahrzeichen des Gewissens sein (123). Dorian hat nicht seine Jugend und Schönheit eingetauscht, sondern, was gerne vergessen wird, seine Seele, die nun im Bild enthalten ist – dieses zeigt ihn nicht altern, sondern grausamer werden. Ein Künstler sollte schöne Dinge schaffen, sollte aber nichts von seinem eigenen Leben hineintun (21f) hatte Basil Hallward noch verkündet, doch Dorian Gray hat einen Teil seines Lebens in das Bild ausgelagert – seine Menschlichkeit. Skrupel- und gefühllos kann er den Freitod der Schauspielerin ebenso hinnehmen wie er den Mord an dem Maler begeht, dessen Spuren durch Erpressung beseitigen lässt und ihm der Unfall seines Verfolgers James Vane als Glücksfall erscheint. Ist sein Leben als blasierter Dandy à la des Esseintes zwar frei von Gewissensängsten, doch auch seelenlos; der Versuch, diese innere Leere durch das genaue Gegenteil, dem Besuch im schmuddeligen Rotlichtviertel, lebendiger als all die graziösen Formen der Kunst, die Traumschatten der Poesie (240), zu bekämpfen, schlägt fehl. Dorian glaubt, sich nur noch durch die Zerstörung des Bildes – mit eben jenem Messer, mit dem er seinen Freund Hallward ermordet hat – retten zu können. Es sollte dieses ungeheuerliche Leben der Seele töten, und wenn diese grässlichen Zeichen der Drohung nicht mehr wären, hätte er Frieden (285). Ganz unrecht hat er damit nicht, wie das anschließend wiederhergestellte Portrait belegt, doch wer das Leben der Seele tötete, wer seine eigene Menschlichkeit unwiederbringlich beseitigt, begeht Selbstmord.  

Vorgänger (Teil 15): Robert Walser - Geschwister Tanner.
                                                                                    

Donnerstag, 6. Februar 2020

Lektüremonat Januar 2020.



Ulla Hahn: Unscharfe Bilder.

Ulla Hahn (geboren 1946), Autorin so großartiger Bücher wie „Das verborgene Wort“ und „Ein Mann im Haus“, versuchte sich Anfang der 2000er Jahre an einem damals im Trend liegenden Thema, aufgegriffen und populär gemacht insbesondere durch Günter Grass‘ im Roman selbst erwähnten „Im Krebsgang“, Jörg Friedrichs Sachbuch „Der Brand“ oder die von W.G. Sebald durch einen Vorlesungsband ausgelöste Debatte um das von der deutschsprachigen Literatur angeblich nicht aufgegriffene Trauma des Luftkriegs. Feuilletondebatten verschiedensten Niveaus folgten auf jedes dieser Werke, bei denen es meist um Schuld und vor allem das vermeintliche Tabu ging, deutsches Leid im Zweiten Weltkrieg zu schildern. Ulla Hahn nahm die sogenannte „Wehrmachtsausstellung“ zum Anlass, um die ihrem Roman zugrundeliegende Konstellation der Auseinandersetzung zwischen einer Tochter und ihrem Vater, den sie auf einem der dort gezeigten Photos über Kriegsverbrechen der deutschen Soldaten erkannt haben wollte, als Beitrag zur Beleuchtung beider Seiten zu konstruieren. Hatte der gebildete Humanist, Lehrer der klassischen Sprachen am Gymnasium, steter
Warner vor den Gefahren für die Demokratie und Aufklärer über die Verbrechen des Dritten Reiches, sich als junger Soldat etwa selbst an diesen beteiligt? Konfrontiert mit dem Ausstellungskatalog stellt die Tochter den im Altenheim wohnende Vater in vielen Gesprächen zur Rede, in der er tatsächlich seine Geschichte als Soldat im Russlandfeldzug berichtet, scheinbar offen, trotz der körperlichen Mühen, die ihm dies bereitet. Und zuletzt gibt er auch zu, an Erschießungen von Partisanen  beteiligt gewesen zu sein. Das hätte vielleicht ein weiterer Beitrag zur Debatte sein können, würde Hahn am Thema nicht völlig scheitern. Langatmig, mit teilweise geradezu grotesk kitschig-unpassenden Beschreibungen, Klischees aneinanderreihend von der sentimentalen Frontweihnacht über fröhlich tanzende Russen bis hin zur Partisanenliebschaft wird ein Bild von den Mühen und Lasten der deutschen Soldaten gezeichnet, dem allerlei Schreckliches widerfährt, der bis auf einige Nazis, die aber durchaus auch zu Kameraden werden konnten, nie so richtig dabei war, aber halt mitgemacht hat. Hahn gelingt es nicht einmal, ihre oft akademisch wirkenden Argumente, merkbar Angelesenes lebendig zu machen, tatsächlich liest sich der Text manchmal als würden Vater und Tochter, beide Lehrer, sich ihre Besinnungsaufsätze gegenseitig vorreferieren. Die Opferperspektive bleibt fast gänzlich außen vor – außer, es handelt sich um deutsche Opfer –, die spärliche Erwähnung der Massenmorde an den Juden wirkt wie eine Pflichtübung, wie überhaupt große Teile des Romans. Dementsprechend gelingt auch kein überzeugender Abschluss, der Vater war an Kriegsverbrechen beteiligt – gezwungen, noch dazu aus persönlichen Motiven , vom bösen SSler, also genau die Argumentation aufgreifend, der die Ausstellung endlich offen entgegengetreten ist – aber dann doch wieder nicht, oder doch irgendwie schon? Leider ein komplett misslungener Versuch, sprachlich und inhaltlich, einer objektiven Auseinandersetzung mit einem extrem schwierigen und komplexen Thema.     

Kveta Legátová: Der Mann aus Zelary.

Das Leben der jungen Ärztin aus Brünn bestimmen ihr erster Patient im Krankenhaus, ein durch einen Unfall übel zugerichteter Mann aus den Bergen, ihr Liebesverhältnis zum älteren und verheirateten Vorgesetzten und ihre Kuriertätigkeit für den tschechischen Widerstand, denn es ist die Zeit der deutschen Besatzung. Aufgrund eines Vorfalles ist binnen Stunden alles anders und zu Ende: der Liebhaber hat sich grußlos aus dem Staub gemacht, das Widerstandsnetz ist teilweise aufgeflogen, die Ärztin muss von jetzt auf gleich untertauchen. Die Lösung: der Patient aus dem Bergdorf. Als dessen zukünftige Gattin soll sie mit ihm in dessen Heimat abreisen, eine Horrorvorstellung, die sich mit der Ankunft in der Nachbarkleinstadt, wo man ihm örtlichen Gasthof, eher ein Bordell, übernachten muss, noch steigert. Wie soll die Akademikerin unter den Bauerntrampeln dort oben in der abgeschiedenen Wildnis nur zurechtkommen. Nicht besser wird es, als ihr noch in der Stadt offenbart wird, ihr baldiger Ehemann sei zwar ein Kraftprotz, gelte aber auch als der örtliche Dorftrottel. Von seiner unverhofften Braut ist er allerdings sehr angetan, zurückhaltend bereitet er ihr nicht nur ein eigenes Zuhause, sondern führt sie auch gemächlich in das Dorfleben ein. Mit Hilfe zahlreicher Dorfbewohner und vor allem Dorfbewohnerinnen, die ihre Schrullen und Eigenarten pflegen, wächst die Fremde langsam hinein in diese seltsame Gemeinschaft – sehr zu ihrer eigenen Überraschung, die noch größer wird, als sie feststellt, dass sie ihrem Ehemann immer mehr gewogen wird. Vieles könnte man an der Novelle Kveta Legátovás monieren, die zahlreiche alte und abgedroschene Motive aufgreift: die kauzigen Bergbewohner, die alte, weise Kräuterhexe, der naiv-liebenswerte Gatte, die alkoholtrunkenen, brutalen, aber nie den Gemeinsinn zerstörenden Schlägereien, der treue Haushund und selbst die sinnlose Zerstörung des Dorfes am Ende, all das sind klassische Motive des Heimatromans. Doch zugleich erliegt man der charmanten, unaufgeregten Erzählweise der tschechischen Schriftstellerin, deren überzeugendste Fähigkeit die Schilderung ihrer Figuren ist, die Leserinnen und Leser für das Buch einnehmen. 

Bret Easton Ellis: American Psycho.

Die vorliegende deutsche Taschenbuchausgabe ist selbst schon ein Stück Literaturgeschichte: Sie entstammt dem Jahr 1993, kurz darauf wurde das Buch in der Bundesrepublik auf den Index gesetzt. Ein paar Jahre später wieder von diesem gestrichen. An der Stellung von „American Psycho“, erschienen 1991, als Klassiker der US-Amerikanischen Literatur hat heute kaum jemand mehr Zweifel, trotzdem gehört der Skandal, den das Buch einst ausgelöst hat nicht zu denen, die einem heute völlig absurd erscheinen. Zutiefst verstörend ist der Roman noch immer – dazu muss man ihn aber auch gelesen haben, und nicht nur über ihn, um das nachempfinden zu können. Und ein Zensurargument kann Verstörung ohnehin nicht sein. Auf den ersten Blick kann die zugrundeliegende Idee, einen äußerst erfolgreichen jungen Wallstreet-Yuppie zu einem kannibalistischen Serienmörder zu machen, heute eher als prophetische Metapher denn als sonderlich originell gelten; noch dazu hatten schon Oliver Stone (Wall Street) und Tom Woolfe mit Boinfire of the Vanities am Image des erfolgreichen Bankers gehörig gekratzt. Mit der Radikalität von Ellis (geboren 1964) konnte das jedoch nicht mithalten. Dabei geht der Text tiefer: Das Leben des Patrick Bateman ist nur eine fein konstruierte Reihung der immergleichen Abläufe, seine Arbeit spielt dabei kaum eine Rolle: Treffen mit Yuppie-Freunden, in denen über die immergleichen Themen geredet wird – Restaurants, Stilfragen, Kollegen – ohne sich dafür und füreinander zu interessieren. Die Gespräche sind nicht nur inhaltslos und redundant, folgenlos und banal, sondern lediglich Imitation von Kommunikation. Relevanter als die person gegenüber ist deren Aussehen, weshalb sie sich hauptsächlich allein durch ihre akribisch ausgewählte und aufgezählte Garderobe vermeintlich unterscheiden. Zu den zahlreichen Treppenwitzen des Romans gehört neben dem Konsum einer ominösen Trash-Talkshow, dem Ausleihen von Videos, dem Musical Les Misérables eben auch die ständigen Verwechslungen von Personen, doch manifestiert sich daran mehr: dieses offenkundige völlige Desinteresse am Mitmenschen ermöglicht Bateman nicht nur seine Taten – keines seiner Opfer wird ernsthaft vermisst – sondern auch, dass er selbst bei Fehlern oder Geständnissen mit ihnen folgenlos weiterleben kann. Ellis‘ baut das Buch raffiniert auf: auf den ersten hundert Seiten fallen Batemans kurze Gewaltphantasien noch kaum auf, doch so wie es ihm selbst – etwa durch Drogen – immer schwerer fällt, die Fassade aufrechtzuerhalten, so sehr nehmen seine Exzesse immer größeren Raum ein. Die teils unglaublich widerwärtigen kühl-nüchternen Beschreibungen seiner bestialischen Morde aus der Ich-Perspektive machen das Buch zu einer schwer erträglichen Lektüre selbst für hartgesottene Leser*innen, die de Sade wie einen Kinderbuchautor erscheinen lassen, woran sich auch nach knapp dreißig Jahren wenig geändert hat. Die damalige Kontroverse zielte allerdings eher darauf ab, dem Autor Zynismus und Frauenfeindlichkeit vorzuwerfen. Das wiederum, was immer man sonst von einigen Äußerungen Ellis‘ halten mag, beruht einmal mal auf der kuriosen Verwechslung von Autor und Figur. Abgesehen vom ziemlich eindeutigen Titel muss sich ein jeder Leser und jede Leser*in, trotz oder gerade aufgrund der Ich-Perspektive, die sich in Bateman „einfühlt“ wohl vielmehr fragen, ob Ellis damit nicht erst recht beweist, wie richtig er mit seiner Beschreibung eines zeitgenössischen Charakters lag. Wer sich folglich zu sehr mit Bateman identifiziert – oder wie offenbar einige Rezensenten glaubt, dass dies möglich ist – hat eindeutig ein größeres Problem als der Autor. Und da gibt es noch einen der in den Text eingestreuten Treppenwitze: Bateman erwähnt mehrfach bewundert einen von ihm verehrten Geschäftsmann, auf den er nichts kommen lässt. Sein Name: Donald Trump.    

Aristeas: Der König und die Bibel.

Zweitausend Jahre vorher – so ungefähr, es können ein paar hundert Jahre mehr oder weniger sein – wurde unter den Namen eines Aristeas ein titelloser Bericht auf griechisch veröffentlicht, der sich mit dem Entstehen der Septuaginta, der Übersetzung der hebräischen Bibel, je nach Lesart der ersten fünf
Mosesbücher oder des gesamten Alten Testaments, beschäftigt. Zahlreiche Unwägbarkeiten also. Die Reclam-Übersetzung wählte für das Buch den etwas altbackenen oben genannten Titel, bekannt ist das Werk auch als Aristeas-Brief, da es an einen Adressaten namens Philokrates gerichtet ist, was wohl eher als Widmung zu verstehen sein dürfte. Aristeas ist ebenfalls sonst unbekannt, die zahlreichen historischen Angaben, die er, auch zu seiner Person, im Buch macht, lassen sich nur schwer überprüfen oder halten den historischen Erkenntnissen nicht stand. Er selbst gibt sich als Mitglied einer Delegation des Ptolemäus II. (reg. 285-246 v.Chr.) aus, der im Auftrag des Chefbibliothekars von Alexandria nach Jerusalem reist, um den dortigen Hohepriester Eleazar um ein Exemplar der jüdischen Bibel und eine Abordnung an Gelehrten zu bitten, damit das bedeutende Werk erstmals ins Griechische übersetzt und in die Bibliothek integriert werden kann. Selbiges geschieht: 72 Gelehrte übersetzen in 72 Tagen das Buch auf makellose Weise. Aristeas möchte mit seinem Bericht einerseits Wertschätzung für die jüdische Kultur unter den Griechen Alexandrias wecken, andererseits ist sein Buch ein Fürstenspiegel für die ptolemäischen Herrscher, denn der König befragt an sieben Abenden die herbeigereisten Weisen nach den Tugenden eines Herrschers. Später immer wieder ausgeschmückt, wurde Aristeas‘ – oder besser: das Werk des Autors, der sich hinter diesem Namen verbarg – Buch enorm einflussreich vor allem im christlichen Mittelalter.

Terry Lynch: Jack the Ripper – The Whitechapel Murderer.

Dieses Buch passt eigentlich nicht zu unserem üblichen Bestand, weil es eigentlich auch nicht in die
Reihe passt, in der es einst 2008 erschienen ist, den „Tales of Mystery & the Supernatural“ der Wordsworth Edition. Die widmete sich – beziehungsweise widmet, in veränderter Form besteht sie dankenswerterweise noch heute – der Veröffentlichung von Klassikern des Gothic Genres, aber insbesondere auch zahlreicher Perlen sonst reichlich unbekannter Literatur aus diesem Sektor, darunter viele Erzählbände mit Kurzgeschichten, die entweder thematisch oder nach Autor*innen geordnet sind und sonst nur noch schwer erhältlich waren. Terry Lynchs Beitrag ist allerdings ein Sachbuch. Und zwar im besten Sinne des Wortes, denn Lynch erzählt nicht die Geschichte Jack the Rippers in der 2533.Variante nach, sondern liefert eine Sammlung der Fakten des – damals – aktuellen Wissenstandes. Die sympathisch nüchterne Grundidee Lynchs ist, das vorhandene Material strukturiert zusammenzufassen, um als Ausgang für neue Forschung zu dienen, nicht mehr – neue Erkenntnisse – und nicht weniger – wilde Spekulation ohne Grundlage. So geht er sein Vorhaben äußerst systematisch an, in dem er einzelne Abschnitte, wiederum übersichtlich untergliedert, den Opfern, den Verdächtigen, den dem „Ripper“ zugeschrieben Schriftstücken, den öffentlich einsehbaren Akten, sogar den beteiligten Polizisten in höherer Verantwortung widmet. Zu den einzelnen Kapiteln stellt er sich, uns und nachfolgenden Forschern einzelne kritische Fragen oder wertet dies und jenes als unzuverlässiges Material etc., ohne jeweils selbst einen absoluten Standpunkt einzunehmen, d.h. er weist zurecht darauf hin, dass frische Entdeckungen ein neues Licht auf bisherige Erkenntnisse werfen können und vor allem seine eigenen Bedenken nicht in Stein gemeißelt sein müssen – genaugenommen Selbstverständlichkeiten, aber längst keine Tugend, die jede*r Autor*n beherzigt. So hält es Lynch auch im allerletzten Kapitel, wo er selbst drei Hauptverdächtige präsentiert – auch hier wieder unter Vorbehalt. Ein Buch, dass hohe Anforderungen an seine Leser*innen stellt, nicht wegen des manchmal etwas holperigen Tonfalls, und auch nicht wegen der womöglich trocken erscheinenden Reihung von Fakten an Fakten, dafür ist das Thema viel zu spannend, sondern weil Lynch nicht auf Photos verzichtet – schon der Einband ist schwer erträglich, aber wer sich mal gehörig den Tag verderben will, der sehe sich die abgedruckten Tatortbilder und Aufnahmen aus der Gerichtsmedizin an. Kann man aber (anders als das Titelbild) schnell überblättern, schließlich ist das Buch so fesselnd, dass man ohnehin weiterlesen will.   

Nikos Kazantzakis: Rechenschaft vor El Greco.

Als imaginären Gesprächspartner hat sich Nikos Kazantzakis (1883-1957) seinen malenden Landsmann El Greco gewählt, was vielleicht vermessen klingt, aber wer wie der Autor seiner Heimat Griechenland mit „Alexis Sorbas“ gewissermaßen ein neues modernes Nationalepos geschenkt hat, der darf sich wohl solche Diskussionspartner wählen. Nun, das erfährt man ohnehin erst im Epilog. Kazantzakis‘ Autobiographie beginnt noch recht üblich mit Schilderungen von Anekdoten seiner Ahnen, Kindheit und Jugend auf Kreta, damals noch türkisch besetzt. Seltsam fällt einem schon hier auf, dass man ihn lange für ein Einzelkind hält, bis irgendwann in einem Nebensatz seine Schwester erwähnt wird – sie schafft es kurz darauf noch in einen zweiten Nebensatz, dann verschwindet sie komplett aus dem Text. Und mit ihr das Lesevergnügen. Kazantzakis liegt wenig daran, sein Leben vor uns auszubreiten – was sein gutes Recht ist – er möchte uns dagegen an seiner Sinnsuche teilhaben lassen – was ja durchaus interessant sein könnte. Leider gerät nun der ohnehin altertümelnd pathetische Tonfall immer mehr in den Vordergrund, pro Kapitel nimmt er quasi noch etwas zu, gepaart mit zunehmender Esoterik. Noch verstörender ist jedoch der ständige Sprung von einem Erlösungsglauben in den nächsten voller Begeisterung. Anfangs noch sich im Christentum bewegend, begrüßt Kazantzakis ebenso enthusiastisch Nietzsche, dann Buddha, dann Lenin, an den Bekannten, den jede*r hat, erinnernd, der einem bei jeder Begegnung seine neue Freundin als die große Liebe schlechthin präsentiert, was uns dann doch recht schnell an seinem Urteilsvermögen (ver)zweifeln lässt. Kurzum, das Buch wird reichlich zäh. Und zäher und zäher. Bestenfalls sollte man es heute in die Esoterikabteilung der Buchläden und Bibliotheken verbannen, die ohnehin kein vernunftbegabter Mensch betritt. Denn so leid es einem tut, man muss es nicht gelesen haben, es sei denn man ist auf masochistischer Erleuchtungssuche.  

Remy de Gourmont: Les chevaux de Diomède.

Remy de Gourmont (1858-1915) ist einer der hierzulande wenig bekannteren, aber sehr typischen französischen Vertreter der symbolistischen Dekadenzliteratur, der vor allem ein fast unüberschaubares essayistisches Werk hinterlassen hat, in dem kein Thema ausgelassen ist, das für uns so typisch für die Epoche scheint: von antiken über orientalische Mythen, dem Katholizismus und seinen seltsamen Formen, Frauen und Sexualität, Abseitiges und Vergessenes aus der Historie, lateinischer Literatur, aber auch der Frage, ob die Erfindung des Telephons uns glücklicher gemacht hat. Vielseitig waren auch seine Freundschaften mit den Kollegen von Huysmans über Mallarmé bis Alfred Jarry und Félix Vallotton, in deren schatter er etwas geblieben ist, obwohl man sich gegenseitig stark inspirierte. Der Roman von 1897 über die Pferde des Diomède ist ebenfalls zeittypisch, auch in der losen, gereihten Form mit spärlicher Handlung: berichtet wird über die zahlreichen Verhältnisse des Protagonisten Diomède zu verschiedenen Frauen unterschiedlichen Charakters. Diese sind selbstwusste Figuren, wie sie die Epoche liebte, aber auch das langsame fieberhafte Dahinscheiden auf dem Totenbett darf nicht fehlen. Sicher, heute ist das vielleicht nur noch etwas für Liebhaber*innen der Epoche, aber noch immer erstaunlich gut lesbar, wenn man sich darauf einlässt. Vielleicht ist Dekadenzliteratur lesen inzwischen selbst ganz im Sinne der Epoche dekadent.   

Marcel Schwob: Das Buch Monelle.

An und für sich bräuchte man nur den vorherigen Text zu kopieren und statt Remy de Gourmont den Namen Marcel Schwob (1867-1905) einsetzen, kein Wunder, waren die beiden doch nicht nur Zeitgenossen, sondern auch miteinander befreundet. Wie de Gourmont auch interessierte sich Schwob für ein breites Spektrum unterschiedlichster und für die Zeit charakteristischer Themen, die er anschließend für seine literarischen und essayistischen Arbeiten nutzte. Auch seine Art symbolistischen Schreibens entspricht den Strömungen der Epoche, die weniger an logisch-chronologischem Aufbau und feinjustierter Handlung interessiert war, sondern an episodenhaft-traum-rauschartiger Schilderung. Schwob allerdings wählte einen Mittelweg, auch er bevorzugt das scheinbar Unzusammenhängende, Reihende, verwebt es aber unterschwellig, wofür „Das Buch Monelle“ geradezu exemplarisch ist. Während die beiden Randabschnitte von Monelle selbst handeln, beziehungsweise diese sprechen lassen, eine undurchschaubare, tiefgründige Figur, die sich aphoristisch äußert, schildert der Mittelteil eine ganze Anzahl von Minibiographien junger Mädchen, der „Schwestern Monelles“, die aus ihrer normalen Lebenswelt auszubrechen suchen – und dabei scheitern. Es war besonders dieser Teil, der schon die Zeitgenossen faszinierte – mit Kapiteltiteln wie „Die Betrogene“, „Die Wollüstige“ oder die „Die Geopferte“ wusste Schwob, wie er seine Leser*innen zu locken hat – und der nichts von seiner Verführung verloren hat. Deutlich weniger gealtert als de Gourmonts „Diomède“ – und deshalb immer wieder neu aufgelegt – ist Schwobs Buch noch immer ein geheimnisvolles Lesevergnügen.