Ulla
Hahn: Unscharfe Bilder.
Ulla
Hahn (geboren 1946), Autorin so großartiger Bücher wie „Das verborgene Wort“
und „Ein Mann im Haus“, versuchte sich Anfang der 2000er Jahre an einem damals
im Trend liegenden Thema, aufgegriffen und populär gemacht insbesondere durch
Günter Grass‘ im Roman selbst erwähnten „Im Krebsgang“, Jörg Friedrichs
Sachbuch „Der Brand“ oder die von W.G. Sebald durch einen Vorlesungsband ausgelöste
Debatte um das von der deutschsprachigen Literatur angeblich nicht
aufgegriffene Trauma des Luftkriegs. Feuilletondebatten verschiedensten Niveaus
folgten auf jedes dieser Werke, bei denen es meist um Schuld und vor allem das
vermeintliche Tabu ging, deutsches Leid im Zweiten Weltkrieg zu schildern. Ulla
Hahn nahm die sogenannte „Wehrmachtsausstellung“ zum Anlass, um die ihrem Roman
zugrundeliegende Konstellation der Auseinandersetzung zwischen einer Tochter
und ihrem Vater, den sie auf einem der dort gezeigten Photos über
Kriegsverbrechen der deutschen Soldaten erkannt haben wollte, als Beitrag zur
Beleuchtung beider Seiten zu konstruieren. Hatte der gebildete Humanist, Lehrer
der klassischen Sprachen am Gymnasium, steter
Warner vor den Gefahren für die
Demokratie und Aufklärer über die Verbrechen des Dritten Reiches, sich als
junger Soldat etwa selbst an diesen beteiligt? Konfrontiert mit dem
Ausstellungskatalog stellt die Tochter den im Altenheim wohnende Vater in
vielen Gesprächen zur Rede, in der er tatsächlich seine Geschichte als Soldat
im Russlandfeldzug berichtet, scheinbar offen, trotz der körperlichen Mühen, die
ihm dies bereitet. Und zuletzt gibt er auch zu, an Erschießungen von
Partisanen beteiligt gewesen zu sein. Das
hätte vielleicht ein weiterer Beitrag zur Debatte sein können, würde Hahn am
Thema nicht völlig scheitern. Langatmig, mit teilweise geradezu grotesk
kitschig-unpassenden Beschreibungen, Klischees aneinanderreihend von der
sentimentalen Frontweihnacht über fröhlich tanzende Russen bis hin zur
Partisanenliebschaft wird ein Bild von den Mühen und Lasten der deutschen
Soldaten gezeichnet, dem allerlei Schreckliches widerfährt, der bis auf einige
Nazis, die aber durchaus auch zu Kameraden werden konnten, nie so richtig dabei
war, aber halt mitgemacht hat. Hahn gelingt es nicht einmal, ihre oft
akademisch wirkenden Argumente, merkbar Angelesenes lebendig zu machen, tatsächlich
liest sich der Text manchmal als würden Vater und Tochter, beide Lehrer, sich
ihre Besinnungsaufsätze gegenseitig vorreferieren. Die Opferperspektive bleibt
fast gänzlich außen vor – außer, es handelt sich um deutsche Opfer –, die spärliche
Erwähnung der Massenmorde an den Juden wirkt wie eine Pflichtübung, wie
überhaupt große Teile des Romans. Dementsprechend gelingt auch kein
überzeugender Abschluss, der Vater war an Kriegsverbrechen beteiligt –
gezwungen, noch dazu aus persönlichen Motiven , vom bösen SSler, also genau die
Argumentation aufgreifend, der die Ausstellung endlich offen entgegengetreten
ist – aber dann doch wieder nicht, oder doch irgendwie schon? Leider ein
komplett misslungener Versuch, sprachlich und inhaltlich, einer objektiven
Auseinandersetzung mit einem extrem schwierigen und komplexen Thema.
Kveta
Legátová: Der Mann aus Zelary.
Das
Leben der jungen Ärztin aus Brünn bestimmen ihr erster Patient im Krankenhaus,
ein durch einen Unfall übel zugerichteter Mann aus den Bergen, ihr
Liebesverhältnis zum älteren und verheirateten Vorgesetzten und ihre
Kuriertätigkeit für den tschechischen Widerstand, denn es ist die Zeit der
deutschen Besatzung. Aufgrund eines Vorfalles ist binnen Stunden alles anders
und zu Ende: der Liebhaber hat sich grußlos aus dem Staub gemacht, das
Widerstandsnetz ist teilweise aufgeflogen, die Ärztin muss von jetzt auf gleich
untertauchen. Die Lösung: der Patient aus dem Bergdorf. Als dessen zukünftige
Gattin soll sie mit ihm in dessen Heimat abreisen, eine Horrorvorstellung, die
sich mit der Ankunft in der Nachbarkleinstadt, wo man ihm örtlichen Gasthof,
eher ein Bordell, übernachten muss, noch steigert. Wie soll die Akademikerin
unter den Bauerntrampeln dort oben in der abgeschiedenen Wildnis nur
zurechtkommen. Nicht besser wird es, als ihr noch in der Stadt offenbart wird,
ihr baldiger Ehemann sei zwar ein Kraftprotz, gelte aber auch als der örtliche
Dorftrottel. Von seiner unverhofften Braut ist er allerdings sehr angetan,
zurückhaltend bereitet er ihr nicht nur ein eigenes Zuhause, sondern führt sie
auch gemächlich in das Dorfleben ein. Mit Hilfe zahlreicher Dorfbewohner und
vor allem Dorfbewohnerinnen, die ihre Schrullen und Eigenarten pflegen, wächst
die Fremde langsam hinein in diese seltsame Gemeinschaft – sehr zu ihrer
eigenen Überraschung, die noch größer wird, als sie feststellt, dass sie ihrem
Ehemann immer mehr gewogen wird. Vieles könnte man an der Novelle Kveta
Legátovás monieren, die zahlreiche alte und abgedroschene Motive aufgreift: die
kauzigen Bergbewohner, die alte, weise Kräuterhexe, der naiv-liebenswerte
Gatte, die alkoholtrunkenen, brutalen, aber nie den Gemeinsinn zerstörenden
Schlägereien, der treue Haushund und selbst die sinnlose Zerstörung des Dorfes
am Ende, all das sind klassische Motive des Heimatromans. Doch zugleich erliegt
man der charmanten, unaufgeregten Erzählweise der tschechischen
Schriftstellerin, deren überzeugendste Fähigkeit die Schilderung ihrer Figuren
ist, die Leserinnen und Leser für das Buch einnehmen.
Bret
Easton Ellis: American Psycho.
Die
vorliegende deutsche Taschenbuchausgabe ist selbst schon ein Stück
Literaturgeschichte: Sie entstammt dem Jahr 1993, kurz darauf wurde das Buch in
der Bundesrepublik auf den Index gesetzt. Ein paar Jahre später wieder von
diesem gestrichen. An der Stellung von „American Psycho“, erschienen 1991, als
Klassiker der US-Amerikanischen Literatur hat heute kaum jemand mehr Zweifel,
trotzdem gehört der Skandal, den das Buch einst ausgelöst hat nicht zu denen,
die einem heute völlig absurd erscheinen. Zutiefst verstörend ist der Roman
noch immer – dazu muss man ihn aber auch gelesen haben, und nicht nur über ihn,
um das nachempfinden zu können. Und ein Zensurargument kann Verstörung ohnehin
nicht sein. Auf den ersten Blick kann die zugrundeliegende Idee, einen äußerst
erfolgreichen jungen Wallstreet-Yuppie zu einem kannibalistischen Serienmörder
zu machen, heute eher als prophetische Metapher denn als sonderlich originell
gelten; noch dazu hatten schon Oliver Stone (Wall Street) und Tom Woolfe mit
Boinfire of the Vanities am Image des erfolgreichen Bankers gehörig gekratzt.
Mit der Radikalität von Ellis (geboren 1964) konnte das jedoch nicht mithalten.
Dabei geht der Text tiefer: Das Leben des Patrick Bateman ist nur eine fein
konstruierte Reihung der immergleichen Abläufe, seine Arbeit spielt dabei kaum
eine Rolle: Treffen mit Yuppie-Freunden, in denen über die immergleichen Themen
geredet wird – Restaurants, Stilfragen, Kollegen – ohne sich dafür und
füreinander zu interessieren. Die Gespräche sind nicht nur inhaltslos und
redundant, folgenlos und banal, sondern lediglich Imitation von Kommunikation.
Relevanter als die person gegenüber ist deren Aussehen, weshalb sie sich
hauptsächlich allein durch ihre akribisch ausgewählte und aufgezählte Garderobe
vermeintlich unterscheiden. Zu den zahlreichen Treppenwitzen des Romans gehört
neben dem Konsum einer ominösen Trash-Talkshow, dem Ausleihen von Videos, dem
Musical Les Misérables eben auch die ständigen Verwechslungen von Personen,
doch manifestiert sich daran mehr: dieses offenkundige völlige Desinteresse am
Mitmenschen ermöglicht Bateman nicht nur seine Taten – keines seiner Opfer wird
ernsthaft vermisst – sondern auch, dass er selbst bei Fehlern oder
Geständnissen mit ihnen folgenlos weiterleben kann. Ellis‘ baut das Buch
raffiniert auf: auf den ersten hundert Seiten fallen Batemans kurze
Gewaltphantasien noch kaum auf, doch so wie es ihm selbst – etwa durch Drogen –
immer schwerer fällt, die Fassade aufrechtzuerhalten, so sehr nehmen seine
Exzesse immer größeren Raum ein. Die teils unglaublich widerwärtigen
kühl-nüchternen Beschreibungen seiner bestialischen Morde aus der
Ich-Perspektive machen das Buch zu einer schwer erträglichen Lektüre selbst für
hartgesottene Leser*innen, die de Sade wie einen Kinderbuchautor erscheinen
lassen, woran sich auch nach knapp dreißig Jahren wenig geändert hat. Die
damalige Kontroverse zielte allerdings eher darauf ab, dem Autor Zynismus und
Frauenfeindlichkeit vorzuwerfen. Das wiederum, was immer man sonst von einigen
Äußerungen Ellis‘ halten mag, beruht einmal mal auf der kuriosen Verwechslung
von Autor und Figur. Abgesehen vom ziemlich eindeutigen Titel muss sich ein jeder
Leser und jede Leser*in, trotz oder gerade aufgrund der Ich-Perspektive, die
sich in Bateman „einfühlt“ wohl vielmehr fragen, ob Ellis damit nicht erst
recht beweist, wie richtig er mit seiner Beschreibung eines zeitgenössischen
Charakters lag. Wer sich folglich zu sehr mit Bateman identifiziert – oder wie
offenbar einige Rezensenten glaubt, dass dies möglich ist – hat eindeutig ein
größeres Problem als der Autor. Und da gibt es noch einen der in den Text
eingestreuten Treppenwitze: Bateman erwähnt mehrfach bewundert einen von ihm
verehrten Geschäftsmann, auf den er nichts kommen lässt. Sein Name: Donald
Trump.
Aristeas:
Der König und die Bibel.
Zweitausend
Jahre vorher – so ungefähr, es können ein paar hundert Jahre mehr oder weniger
sein – wurde unter den Namen eines Aristeas ein titelloser Bericht auf
griechisch veröffentlicht, der sich mit dem Entstehen der Septuaginta, der
Übersetzung der hebräischen Bibel, je nach Lesart der ersten fünf
Mosesbücher
oder des gesamten Alten Testaments, beschäftigt. Zahlreiche Unwägbarkeiten
also. Die Reclam-Übersetzung wählte für das Buch den etwas altbackenen oben
genannten Titel, bekannt ist das Werk auch als Aristeas-Brief, da es an einen
Adressaten namens Philokrates gerichtet ist, was wohl eher als Widmung zu
verstehen sein dürfte. Aristeas ist ebenfalls sonst unbekannt, die zahlreichen
historischen Angaben, die er, auch zu seiner Person, im Buch macht, lassen sich
nur schwer überprüfen oder halten den historischen Erkenntnissen nicht stand.
Er selbst gibt sich als Mitglied einer Delegation des Ptolemäus II. (reg.
285-246 v.Chr.) aus, der im Auftrag des Chefbibliothekars von Alexandria nach
Jerusalem reist, um den dortigen Hohepriester Eleazar um ein Exemplar der
jüdischen Bibel und eine Abordnung an Gelehrten zu bitten, damit das bedeutende
Werk erstmals ins Griechische übersetzt und in die Bibliothek integriert werden
kann. Selbiges geschieht: 72 Gelehrte übersetzen in 72 Tagen das Buch auf
makellose Weise. Aristeas möchte mit seinem Bericht einerseits Wertschätzung
für die jüdische Kultur unter den Griechen Alexandrias wecken, andererseits ist
sein Buch ein Fürstenspiegel für die ptolemäischen Herrscher, denn der König
befragt an sieben Abenden die herbeigereisten Weisen nach den Tugenden eines
Herrschers. Später immer wieder ausgeschmückt, wurde Aristeas‘ – oder besser:
das Werk des Autors, der sich hinter diesem Namen verbarg – Buch enorm
einflussreich vor allem im christlichen Mittelalter.
Terry
Lynch: Jack the Ripper – The Whitechapel Murderer.
Dieses
Buch passt eigentlich nicht zu unserem üblichen Bestand, weil es eigentlich auch
nicht in die
Reihe passt, in der es einst 2008 erschienen ist, den „Tales of
Mystery & the Supernatural“ der Wordsworth Edition. Die widmete sich –
beziehungsweise widmet, in veränderter Form besteht sie dankenswerterweise noch
heute – der Veröffentlichung von Klassikern des Gothic Genres, aber
insbesondere auch zahlreicher Perlen sonst reichlich unbekannter Literatur aus
diesem Sektor, darunter viele Erzählbände mit Kurzgeschichten, die entweder
thematisch oder nach Autor*innen geordnet sind und sonst nur noch schwer
erhältlich waren. Terry Lynchs Beitrag ist allerdings ein Sachbuch. Und zwar im
besten Sinne des Wortes, denn Lynch erzählt nicht die Geschichte Jack the
Rippers in der 2533.Variante nach, sondern liefert eine Sammlung der Fakten des
– damals – aktuellen Wissenstandes. Die sympathisch nüchterne Grundidee Lynchs
ist, das vorhandene Material strukturiert zusammenzufassen, um als Ausgang für
neue Forschung zu dienen, nicht mehr – neue Erkenntnisse – und nicht weniger –
wilde Spekulation ohne Grundlage. So geht er sein Vorhaben äußerst systematisch
an, in dem er einzelne Abschnitte, wiederum übersichtlich untergliedert, den
Opfern, den Verdächtigen, den dem „Ripper“ zugeschrieben Schriftstücken, den
öffentlich einsehbaren Akten, sogar den beteiligten Polizisten in höherer
Verantwortung widmet. Zu den einzelnen Kapiteln stellt er sich, uns und
nachfolgenden Forschern einzelne kritische Fragen oder wertet dies und jenes
als unzuverlässiges Material etc., ohne jeweils selbst einen absoluten Standpunkt
einzunehmen, d.h. er weist zurecht darauf hin, dass frische Entdeckungen ein
neues Licht auf bisherige Erkenntnisse werfen können und vor allem seine
eigenen Bedenken nicht in Stein gemeißelt sein müssen – genaugenommen
Selbstverständlichkeiten, aber längst keine Tugend, die jede*r Autor*n
beherzigt. So hält es Lynch auch im allerletzten Kapitel, wo er selbst drei
Hauptverdächtige präsentiert – auch hier wieder unter Vorbehalt. Ein Buch, dass
hohe Anforderungen an seine Leser*innen stellt, nicht wegen des manchmal etwas
holperigen Tonfalls, und auch nicht wegen der womöglich trocken erscheinenden
Reihung von Fakten an Fakten, dafür ist das Thema viel zu spannend, sondern
weil Lynch nicht auf Photos verzichtet – schon der Einband ist schwer
erträglich, aber wer sich mal gehörig den Tag verderben will, der sehe sich die
abgedruckten Tatortbilder und Aufnahmen aus der Gerichtsmedizin an. Kann man
aber (anders als das Titelbild) schnell überblättern, schließlich ist das Buch
so fesselnd, dass man ohnehin weiterlesen will.
Nikos
Kazantzakis: Rechenschaft vor El Greco.
Als
imaginären Gesprächspartner hat sich Nikos Kazantzakis (1883-1957) seinen
malenden Landsmann El Greco gewählt, was vielleicht vermessen klingt, aber wer
wie der Autor seiner Heimat Griechenland mit „Alexis Sorbas“ gewissermaßen ein
neues modernes Nationalepos geschenkt hat, der darf sich wohl solche
Diskussionspartner wählen. Nun, das erfährt man ohnehin erst im Epilog.
Kazantzakis‘ Autobiographie beginnt noch recht üblich mit Schilderungen von
Anekdoten seiner Ahnen, Kindheit und Jugend auf Kreta, damals noch türkisch
besetzt. Seltsam fällt einem schon hier auf, dass man ihn lange für ein
Einzelkind hält, bis irgendwann in einem Nebensatz seine Schwester erwähnt wird
– sie schafft es kurz darauf noch in einen zweiten Nebensatz, dann verschwindet
sie komplett aus dem Text. Und mit ihr das Lesevergnügen. Kazantzakis liegt
wenig daran, sein Leben vor uns auszubreiten – was sein gutes Recht ist – er
möchte uns dagegen an seiner Sinnsuche teilhaben lassen – was ja durchaus
interessant sein könnte. Leider gerät nun der ohnehin altertümelnd pathetische
Tonfall immer mehr in den Vordergrund, pro Kapitel nimmt er quasi noch etwas
zu, gepaart mit zunehmender Esoterik. Noch verstörender ist jedoch der ständige
Sprung von einem Erlösungsglauben in den nächsten voller Begeisterung. Anfangs
noch sich im Christentum bewegend, begrüßt Kazantzakis ebenso enthusiastisch
Nietzsche, dann Buddha, dann Lenin, an den Bekannten, den jede*r hat,
erinnernd, der einem bei jeder Begegnung seine neue Freundin als die große
Liebe schlechthin präsentiert, was uns dann doch recht schnell an seinem
Urteilsvermögen (ver)zweifeln lässt. Kurzum, das Buch wird reichlich zäh. Und
zäher und zäher. Bestenfalls sollte man es heute in die Esoterikabteilung der
Buchläden und Bibliotheken verbannen, die ohnehin kein vernunftbegabter Mensch
betritt. Denn so leid es einem tut, man muss es nicht gelesen haben, es sei
denn man ist auf masochistischer Erleuchtungssuche.
Remy
de Gourmont: Les chevaux de Diomède.
Remy
de Gourmont (1858-1915) ist einer der hierzulande wenig bekannteren, aber sehr
typischen französischen Vertreter der symbolistischen Dekadenzliteratur, der
vor allem ein fast unüberschaubares essayistisches Werk hinterlassen hat, in
dem kein Thema ausgelassen ist, das für uns so typisch für die Epoche scheint:
von antiken über orientalische Mythen, dem Katholizismus und seinen seltsamen
Formen, Frauen und Sexualität, Abseitiges und Vergessenes aus der Historie,
lateinischer Literatur, aber auch der Frage, ob die Erfindung des Telephons uns
glücklicher gemacht hat. Vielseitig waren auch seine Freundschaften mit den
Kollegen von Huysmans über Mallarmé bis Alfred Jarry und Félix Vallotton, in
deren schatter er etwas geblieben ist, obwohl man sich gegenseitig stark
inspirierte. Der Roman von 1897 über die Pferde des Diomède ist ebenfalls
zeittypisch, auch in der losen, gereihten Form mit spärlicher Handlung:
berichtet wird über die zahlreichen Verhältnisse des Protagonisten Diomède zu
verschiedenen Frauen unterschiedlichen Charakters. Diese sind selbstwusste
Figuren, wie sie die Epoche liebte, aber auch das langsame fieberhafte
Dahinscheiden auf dem Totenbett darf nicht fehlen. Sicher, heute ist das
vielleicht nur noch etwas für Liebhaber*innen der Epoche, aber noch immer
erstaunlich gut lesbar, wenn man sich darauf einlässt. Vielleicht ist
Dekadenzliteratur lesen inzwischen selbst ganz im Sinne der Epoche dekadent.
Marcel
Schwob: Das Buch Monelle.
An
und für sich bräuchte man nur den vorherigen Text zu kopieren und statt Remy de
Gourmont den Namen Marcel Schwob (1867-1905) einsetzen, kein Wunder, waren die
beiden doch nicht nur Zeitgenossen, sondern auch miteinander befreundet. Wie de
Gourmont auch interessierte sich Schwob für ein breites Spektrum
unterschiedlichster und für die Zeit charakteristischer Themen, die er
anschließend für seine literarischen und essayistischen Arbeiten nutzte. Auch
seine Art symbolistischen Schreibens entspricht den Strömungen der Epoche, die
weniger an logisch-chronologischem Aufbau und feinjustierter Handlung
interessiert war, sondern an episodenhaft-traum-rauschartiger Schilderung.
Schwob allerdings wählte einen Mittelweg, auch er bevorzugt das scheinbar
Unzusammenhängende, Reihende, verwebt es aber unterschwellig, wofür „Das Buch
Monelle“ geradezu exemplarisch ist. Während die beiden Randabschnitte von
Monelle selbst handeln, beziehungsweise diese sprechen lassen, eine
undurchschaubare, tiefgründige Figur, die sich aphoristisch äußert, schildert der
Mittelteil eine ganze Anzahl von Minibiographien junger Mädchen, der
„Schwestern Monelles“, die aus ihrer normalen Lebenswelt auszubrechen suchen –
und dabei scheitern. Es war besonders dieser Teil, der schon die Zeitgenossen
faszinierte – mit Kapiteltiteln wie „Die Betrogene“, „Die Wollüstige“ oder die
„Die Geopferte“ wusste Schwob, wie er seine Leser*innen zu locken hat – und der
nichts von seiner Verführung verloren hat. Deutlich weniger gealtert als de
Gourmonts „Diomède“ – und deshalb immer wieder neu aufgelegt – ist Schwobs Buch
noch immer ein geheimnisvolles Lesevergnügen.