Dienstag, 31. März 2020

Suhrkamps Romane des Jahrhunderts (17): Max Frisch - Homo Faber.


Max Frisch: Homo faber. st 2740

Homo faber für die Schule“. Ob jemand analog zu Max Frischs Roman eine eigene Version für den Unterricht schreiben wird, ist eher unwahrscheinlich als unklar. Die Voraussetzungen wären schließlich durchaus gegeben, analog zu Schillers Wilhelm Tell ist Homo faber heute unbestritten ebenso ein Klassiker wie sein Autor. Trotzdem würde das Vorhaben wohl allein daran scheitern, dass der Roman tatsächlich bereits zu den beliebtesten Unterrichtslektüren zählt – bei den Lehrkräften, ob diese Begeisterung von den Schülerinnen und Schülern geteilt wird, steht wiederum auf einem anderen Blatt. Am Text liegt dies sicher nicht, die Pubertät ist vermutlich einfach grundsätzlich nur bei den wenigsten eine gute Voraussetzung für die Auseinandersetzung mit einem doch ziemlich komplexen Roman.
Die Beliebtheit als Unterrichtsstoff mag jedoch daran liegen, dass diese Komplexität sich schon durch die Andeutungen des Titels auf ein scheinbar einfaches Schema herunterbrechen lässt – Homo faber, der sich der Technik bedienende Mensch, selbst in den beiden Worten liegt der Kontrast beziehungsweise Konflikt zwischen Mensch und Technik bereits offen zu Tage. Diesem doch recht einfachen Schluss gehen noch immer viele auf den Leim – der Autor selbst legt die Fährte schließlich allzu offensichtlich. Ich bin Techniker und gewohnt, die Dinge zu sehen, wie sie sind. Ich sehe alles, wovon sie reden, sehr genau; ich bin ja nicht blind. Ich sehe den Mond über der Wüste von Tamaulipas – klarer als je, mag sein, aber eine errechenbare Masse, die um unseren Planeten kreist, eine Sache der Gravitation, interessant, aber wieso ein Erlebnis? (27) Fabers Erklärungen sind so plakativ, dass die Unehrlichkeit aus ihnen herausspringt, die unverlangten Bekenntnisse des Ingenieurs dienen hauptsächlich der Selbstvergewisserung – und die hat nur nötig, wer sich eben nicht mehr sicher ist. Das ständig von ihm – er ist ja der Berichtende – vorgetragene Selbstbild des nüchternen Beobachters, des klaren Denkers, des planenden Systematikers, auch seine Charakterisierung als Misanthrop und Frauenverächter werden durchgängig im gesamten Roman als Täuschungen und Lügen entlarvt. Der Propagandist der Rationalität – ich finde es nicht fantastisch, ich finde es erklärlich (27), ich bin nun einmal der Typ, der mit beiden Füßen auf der Erde steht (53) – handelt in einem fort äußerst irrational.
Dafür schickt in Max Frisch durch allerlei geradezu einem Kolportageroman entlehnte Situationen. Faber muss auf einem Flug nach Mexico in der Wüste notlanden. Dort beschließt er, einen Deutschen, den er eben erst im Flugzeug kennengelernt hat, zu begleiten, der seinen verschollenen Bruder auf einer Tabakfarm im Dschungel Guatemalas sucht. Die Expedition gelingt mit einigen Schwierigkeiten, doch der Gesuchte ist tot – erhängt – und zudem ein alter Bekannter Fabers: der Ex-Mann seiner einstigen großen Liebe Hanna. Zurück in New York, flieht Faber vor seiner Freundin Ivy, weil er zu schwach ist, die Beziehung zu ihr zu beenden. Statt eines Fluges bucht er eine Schiffsreise, um schneller zu entkommen. Dort trifft er auf eine dreißig Jahre jüngere Passagierin, die ihn fasziniert – erneut wirft er alle seine Pläne um und beginnt mit ihr eine Reise durch Südeuropa. Durch Andeutungen dämmert ihm, dass dieses Mädchen Elisabeth, die er Sabeth nennt, die Tochter Hannas ist, was ihn nicht hindert, mit ihr zu schlafen. Doch Elisabeth wird vor Athen von einer Schlange gebissen, trotz zwischenzeitlicher Besserung stirbt sie. Dementsprechend prekär ist die Wiederbegegnung mit der Mutter. Was ungewiss war und Faber ständig durch nur ihn überzeugende Logik zu verdrängen suchte – genoß ich es, die Rechnung auch noch schriftlich zu überprüfen. Sie stimmte; ich hatte ja die Daten (140) – wird nun unleugbar: Elisabeth war auch Fabers Tochter. Er gibt sein bisheriges Leben auf und will Hanna heiraten – doch vorher muss er sich einer Operation unterziehen. Mit unvorhersehbarem Ausgang.
Was in der Raffung wie ein recht bizarres Konstrukt erscheint, ist im Erzählfluss des Romans alles andere als ein spektakuläres Getriebensein – dank des sich nüchtern gebenden Berichterstatters Faber, der in klarer Sprache die Abläufe schildert. Panik beim Beinaheabsturz mit dem Flugzeug? Fehlanzeige. Es war der Motor links, der die Panne hatte; ein Propeller als starres Kreuz im wolkenlosen Himmel – das war alles (17). Angst in der Wüste, wo tagelang nichts zu passieren scheint? Keineswegs. Verzweiflung angesichts des sinnlosen Herumlungerns in der Gluthitze des mexikanischen Dorfes, der anschließenden Irrfahrt durch das Dschungeldickicht, dem toten Freund an der Drahtschlinge? Nicht mit Faber. Charakteristischerweise filmt er die Stationen seines Lebens, schafft also – ganz die Smartphonegeneration des Jahres 1957 – noch im Erleben eine Distanz, die ihm letztlich selbst als schal bewusst wird. Nochmals Joachim am Draht, aber diesmal von der Seite, so daß man besser sieht was los ist; es ist merkwürdig, es macht nicht nur meinem jungen Techniker, sondern auch mir überhaupt keinen Eindruck, ein Film, wie man schon manche gesehen hat, Wochenschau, es fehlt der Gestank, die Wirklichkeit, wir sprechen über Belichtung (215). Faber, der stets von sich weist, ein Zyniker zu sein, offenbart selbst hier in der Erkenntnis noch den zugrundeliegenden Zynismus: der tote Freund wird zum Belichtungsproblem.
Klingt, als hätte die Standardinterpretation, Fabers rational eingerichtetes Leben breche durch die Wucht der Ereignisse plötzlich zusammen, die Verknüpfung der Zufälle, die er stets leugnet – es war eine ganze Kette von Zufällen. Aber Fügung? (24) – bringe sein Weltbild ins wanken, einiges für sich. Das ist nicht gänzlich verkehrt, nur stellt sich von Beginn an die Frage, ob dieses vermeintlich feste Gefüge an Rationalität jemals wirklich Bestand hatte und nicht von vorneherein eine große Illusion Fabers war. Der Techniker vertraut auf die Technik? Fehlanzeige. Im letzten Augenblick verlor ich die Nerven, so daß die Notlandung [...] nichts als ein blinder Schlag war, Sturz vornüber in die Bewusstlosigkeit (23). Der Planer plant vorausschauend und verlässlich? Nichts weniger als das. Warum ich es tat, weiß ich nicht (39) – ein ständig wiederkehrender Satz, typisch für Faber, typisch, dass er dies nie zugeben würde. Alles Ungewohnte macht mich sowieso nervös (86), weshalb er abrupte Entscheidungen fällt, die er sich selbst nicht erklären kann: spontane Reisebeschlüsse, unmotivierte Heiratsanträge, Bekenntnisse gegenüber Fremden, Weibisches, wie er so etwas selbst nennt, plötzliche Sentimentalitäten, Selbstmordgedanken. Homo Faber, den kalkulierenden Ingenieursmenschen? Diesen gibt es schon vorher nicht. Die Distanzierungen gegenüber den Mitmenschen gelingen nicht, die Natur, die der Technik unterworfen werden soll, schlägt ständig – und grausam – zurück, der Zufall, der dem Planer ein Gräuel sein muss, beherrscht die Abläufe. Das Leben verläuft nicht auf gelegten Gleisen – ein sturer Büffel reicht schon aus, das Vorankommen zu stoppen (vgl. 40f) – und ein Satz wie Ich kann nicht die ganze Zeit Gefühle haben (105) ist schon biologisch unwahr. Faber ist eben doch nur ein Mensch, ein unersetzlicher Mensch.

Sonntag, 22. März 2020

Charles Baudelaire - À une passante.


À une passante


La rue assourdissante autour de moi hurlait.
Longue, mince, en grand deuil, douleur majestueuse,
Une femme passa, d'une main fastueuse
Soulevant, balançant le feston et l'ourlet;


Agile et noble, avec sa jambe de statue.
Moi, je buvais, crispé comme un extravagant,
Dans son oeil, ciel livide où germe l'ouragan,
La douceur qui fascine et le plaisir qui tue.


Un éclair... puis la nuit! — Fugitive beauté
Dont le regard m'a fait soudainement renaître,
Ne te verrai-je plus que dans l'éternité?


Ailleurs, bien loin d'ici! trop tard! jamais peut-être!
Car j'ignore où tu fuis, tu ne sais où je vais,
Ô toi que j'eusse aimée, ô toi qui le savais!


 (c) BG

Donnerstag, 12. März 2020

Lektüremonat Februar 2020.


Pfaffe Lambrecht: Alexanderroman. 

Er entstand ungefähr um 1150, war ein Meilenstein der deutschprachigen Literaturgeschichte und ein Flop. Dabei hatte der Autor, der sich als "Pfaffe Lambrecht" zu Beginn des Textes selbst vorstellt - mehr ist über ihn nicht bekannt, vermutlich stammte er aus dem Süden irgendwo zwischen Trier und Regensburg -, ein Geistlicher, wobei Pfaffe noch nicht abwertend gemeint ist, eigentlich eine guten, weil sehr beliebten Stoff gewählt: Das Leben Alexanders des Großen. Der galt schon in der Antike als Bestsellerstoff, hatte die Geschichte doch einiges zu bieten: eine schwierige Jugend, verwirrende Familienverhältnisse, ein geheimnisumwitterter Tod des Vaters, der Alexander in sehr jungen Jahren auf den Thron bringt, schließlich der Zug gegen Persien, der ihn erst den Erzfeind Darios besiegen, ein Riesenreich erobern und dann an die Grenzen der damals bekannten Welt stoßen lässt. Bis seine Truppen meutern, ihn zum Rückzug zwingen und er schließlich noch immer jung, aber unspektakulär an einer Krankheit verstirbt, woraufhin prompt sein Weltreich zerfällt. Das gibt viel her, Liebesgeschichten und große Schlachten, Helden und Bösewichte inklusive und auf all das greift der Pfaffe Lambrecht natürlich zurück. Dazu nutzte er weitere Quellen, die den Alexandermythos noch um einige nicht ganz so historische Episoden ausschmückten, etwa seine Begegnung mit den Amazonen oder Kämpfe gegen Drachen. Hinzukommt, dass Alexander auch in der Bibel erwähnt wird und dort keine sehr wohlwollende Beurteilung erfährt. Deshalb ist Lambrechts Alexanderroman auch keineswegs - anders als viele antike Vorgänger - ein Werk voller Bewunderung, sondern charakterisiert seinen Protagonisten sehr ambivalent, oft als vom Zorn geleitet oder unmäßig in seiner Gewalt. Ein Meilenstein war das Buch, da hier erstmals ein rein weltlicher Stoff, wenn auch mit christlicher Interpretation, präsentiert wurde. Noch kein höfisches Heldenepos und sprachlich hin und wieder holprig, fand der Roman bei späteren mittelalterlichen Autoren wenig Gnade, nur mit Glück kam er durch wenige Überlieferungen auf uns. Heute sieht man dies anders und das Pionierwerk des Pfaffen Lambrecht wird hoch geschätzt. 



Carlos Ruiz Zafón: Marina.

Es war ein nachgereichter Erfolg, ermöglicht durch den Bestseller „Der Schatten des Windes“, der nun dem früheren Roman Carlos Ruiz Zafóns (geboren 1964), seinem ersten Buch für ein nicht (nur) jugendliches Publikum, die verspätete Aufmerksamkeit im deutschsprachigen Raum verschaffte. „Marina“, nun als erster der großen Barcelona-Romane des Meisters deklariert, besaß bereits alle Merkmale von Zafóns wirksamem Rezept: neben dem Schauplatz Barcelona die üblichen halbverfallenen schauerlichen Villen, ein junges Pärchen als Hauptakteure, ein zu verfolgendes, in bizarren Biographien verstecktes Geheimnis, Friedhöfe, Abwasserkanäle, schöne Künstlerinnen, melancholische Künstler, überhaupt das ganze Inventar aus den Schauerromanen, diesmal prominent besetzt mit einem weiteren Klassiker, dem wahnsinnigen Wissenschaftler. Es ist wie immer ein Phänomen und man erstaunt beim Lesen gewissermaßen über sich selbst, wie selbstverständlich man all diese doch längst abgestumpften Klischees aus dem frühen 19. Jahrhundert nicht nur immer wieder hinnimmt, sondern sie sogar einmal mehr mit viel Genuss liest. Das liegt wohl daran, dass Zafón das altbekannt Vertraute einfach virtuos neu kombiniert und er unzweifelhaft ein sehr begnadeter Erzähler ist, dem man vieles verzeiht, von den oft sentenzhaften Sätzen bis hin zu der schematischen Figurengestaltung, die, wie schon einmal erwähnt, selten changiert, sondern sehr gute Gute und sehr böse Böse hervorbringt. Wer nicht mehr als einen Schauerroman erwartet, der aber wird bestens unterhalten.   

Herta Müller: Der König verneigt sich und tötet.  

Die Leser*innenzahlen eines Zafón würde man Herta Müller (geboren 1953) wünschen und gönnen. Immerhin dürfte sich ihr Publikum mit der Verleihung des Literaturnobelpreises 2009 erhöht haben, auf Dauer hat sich ihr landläufiger Bekanntheitsgrad aber leider trotzdem nicht im allgemeinen Bewusstsein festgesetzt. Eine verdiente Preisträgerin ist sie zweifellos, inhaltlich wie sprachlich, sofern man dies trennen möchte. Für beides ist der Band „Der König verneigt sich und tötet“ ein gutes Beispiel, eine Essaysammlung, die über Sprache und Macht reflektiert, jedoch nicht in dem eher üblichen Sinne der subtilen Abwehr im dissidentischen Schreiben, sondern der persönlichen Bedeutung von Wörtern einerseits in einem totalitären Umfeld und andererseits in der Erinnerung an eben jene Wirkung, die Worte in so einer Umgebung annehmen, obwohl diese gar nicht mehr existiert. Für Herta Müller, aufgewachsen in einem deutschsprachigen Dorf während der Diktatur Ceausescus, als Angehörige einer Minderheit und Schriftstellerin doppelt bedrängt, verkehren sich Wörter und Redewendungen in ihr Gegenteil oder nehmen, für viele harmlos dahingesagt, eine drohende Wirkung an. Die westeuropäische Sehnsucht nach einer einsamen Insel beispielsweise, die für Müller gleichbedeutend ist mit einem Wunsch nach einem Gefängnisaufenthalt. Das Aufwachsen mit zwei Sprachen ermöglicht aber auch befreiende Betrachtungen, den Vergleich der Wörter, im Deutschen oft erstaunlich nüchtern, im Rumänischen bildhafter, poetischer. Auch wenn Herta Müller oft von Verhören, Bespitzelung und dem Tod von Freunden berichtet, ist die Schilderung von Gewalt in ihren Texten subtiler, zeigt den Versuch der Zerstörung von Willen auf eine tiefere, bedrängendere Weise als durch reine physische Angriffe, eine Mechanik, die darauf abzielt, den Wesenskern der „Gegner*innen“ zu zermürben und zu vernichten. Hier wird Sprache zum Rettungsanker.       

Ryonosuke Akutagawa: Rashomon.

Apropos hohe Literaturpreise. Eine der angesehensten Trophäen in diesem Bereich ist der japanische Akutagawa-Preis, benannt nach dem Autor des Erzählbandes, der dankenswerterweise vor einiger Zeit vom Luchterhand-Verlag veröffentlicht wurde. Ryonosuke Akutagawa (1892-1917) gehörte zur zweiten Generation japanischer Schriftsteller*innen, die von der europäischen Literatur beeinflusst waren. Anders als die Vorgänger*innen waren sie nicht bloßen Kopist*innen des westlichen Stils, sondern versuchten, die fremden mit den eigenen Traditionen zu vereinen. In der Novellenform und mit seinen Kurzgeschichten wurde Akutagawa zum vorbildlichen Meister. Vom Westen wiederum lange unbeachtet, wurde er erst postum durch Kurosawas Film – der lose zwei Motive aus Erzählungen des Dichters verknüpft – dort neu entdeckt. Und Akutagawas Geschichten sind gerade wegen seiner Verschmelzung europäischer und japanischer Einflüsse ein hervorragender Einstieg in die fernöstliche Literatur überhaupt. Auch, weil sie oft spannende, kontroverse Themen aufgreifen, etwa über den Mann, der seine bei einem Erdbeben verschüttete Frau nicht retten kann, die unter einem schweren Balken eingeklemmt ist und sie schließlich tötet, als ein durch das Beben ausgelöster Brand das Haus erreicht. Hat er richtig gehandelt? Oder der schwer verschuldete Mann, der von einem berühmten Dieb, dem er zufällig vor Jahrzehnten, da dieser noch als Bettler herumstreifte, einmal half, Geld annimmt, um seine Familie zu retten? Wiederkehrend ist neben der Frage nach Schuld auch das Motiv des Wahnsinns, etwa des genialen Malers, der skrupellos seine Modelle misshandelt, um ein lebensechtes Bild der Hölle zu schaffen. Schließlich bittet er den Auftrag gebenden Fürsten, er möge eine Kutsche mit Insassen verbrennen, damit er, der Maler, dies als Motiv in sein Gemälde aufnehmen könne. Der Fürst folgt dem Wunsch – und setzt in die Kutsche die Tochter des Malers. Das Bild wird fertig. Akutagawas Interesse ist das menschliche Handeln, die Psychologie unter dramatischen Umständen, die bizarr sein können, aber auch alltäglich – und er urteilt nicht. Er ist ein würdiger Namensgeber eines der höchsten Literaturpreise. 

Siri Hustvedt: Die unsichtbare Frau.

Genaugenommen ist der Titel von Siri Hustvedts (geboren 1955) einstigem Romandebut Etikettenschwindel, richtiger müsste er heißen: „Die unsichtbaren Frauen“. Denn das übergreifende Motiv der unsichtbaren Frau zieht sich durch alle der fünf lose zusammenhängenden Kapitel, die nicht nur deshalb fast wie ein Novellenzyklus wirken. Iris Vegan ist die verbindende Hauptfigur, die selbst immer, mal freiwillig mal unfreiwillig, mit ihrer verschwindenden Persönlichkeit zu tun bekommt: sei es als spontane Schutzmaßnahme, ihren richtigen Namen zu verschweigen, sei es als anfängliche Spielerei, sich als Mann zu verkleiden und auszugeben, die zur gefährlichen Obsession wird, als sie beginnt, Aspekte einer literarischen Figur zu übernehmen und Fiktion und Realität zu vermischen, oder sei es infolge einer geheimnisvollen Krankheit, einer Art Migräne, die jedoch dazu führt, dass Iris Teile ihres Bewusstseins verliert. Und dann sind da eben noch all die Frauen, die auf verschiedene Weise in ihr Leben treten und wieder daraus verschwinden: die ermordete Mieterin, über die sie eine obskure Dokumentation anlegen soll, die Mitpatientin im Krankenhaus, die, offenbar geistig verwirrt, ohne Erklärung eines Morgens nicht mehr im Zimmer auftaucht. Und dann gibt es ja noch diese Aufnahme eines befreundeten Künstlers, ein Photo, auf dem Iris als Person gar nicht zu erkennen ist, ihrer Meinung nach, dass aber bald in Umlauf gerät, woraufhin jeder und jede sie anspricht. Kunstvoll arrangiert Hustvedt ihr Hauptthema in den Kapiteln, die keineswegs, wie sich beim Lesen herausstellt, chronologisch angeordnet sind, wobei sie die beklemmende Atmosphäre eines – möglicherweise – schleichenden Wahnsinns ihrer Protagonistin hervorragend einfängt.        

Dashiell Hammett: Der dünne Mann.

Es ist einiges anders in „Der dünne Mann“: Dashiell Hammetts (1894-1961) Nick Charles ist verheiratet, im Ruhestand und in New York. Es ist alles beim alten in „Der dünne Mann“: Nick Charles trinkt viel und ständig, gerät in Mordermittlungen und Gefahr und löst am Ende einen Fall. Und irgendwo dazwischen liegt die Tatsache, dass er diesmal sogar mit einer ausnahmsweise nicht korrupten, teilweise sogar durchaus fähigen Polizei zusammenarbeitet oder doch nur so weit, wie es ihm weiterhilft. Wie er überhaupt die ganze Angelegenheit, den Mord an der Gehilfin eines entfernten Bekannten, nur so nebenher erledigt, sich dabei mehrfach darauf berufend, aus dem Geschäft der Schnüffelei ausgestiegen zu sein. Aber niemals geht man so ganz – und da Nora, seine Frau, ihn keineswegs hindert, sondern selbst ihre Beiträge zur Aufklärung leistet, gehörig von Neugier getrieben, überführt Nick Charles den Mörder halt, wenn’s denn unbedingt sein muss, naturgemäß mit überraschender Pointe. Trotzdem gehört „Der dünne Mann“ zu den schwächeren Teilen der Reihe, Nicks unzählige Hinweise auf seine Trinkfreude, die nicht ganz so spritzigen Dialoge – in einem Buch, das hauptsächlich aus Dialogen besteht –, die im Großen und Ganzen nicht sonderlich fesselnde Geschichte der verkorksten Familie mit ihrem verwirrenden Hin und Her entfalten nicht den Charme anderer Hammett-Romane. Teils fast schon selbstparodistisch, wirken Detektiv und Autor fast etwas müde, eben im buchstäblichen Ruhestand.