Freitag, 24. April 2020

Sandalenfilme nach der Jahrtausendwende (V): The Lost Legion.


The Lost Legion
The Lost Legion CAN/CZ 2014 102 min.
Regie: David Kocar/Petr Kubik
Buch: Christopher Hyde/Lloyd Simandl
DarstellerInnen: Tom McKay (Taranis Maldras), Michelle Lukes (Urbina Prima), Brian Caspe (Maximus Antonius Albanis), Jim High (Argos Sertorius),  Christian Dunkley Clark (Valemar), Eirini Karamanoli (Gisa), John Hannah (Nestor), Oldrich Anton Vojta (Cassius Ricimer), u.v.m.

Nimmt man die (deutsche) Dvd-Ausgabe des Films The Lost Legion zur Hand, so dürften sich die ohnehin nicht immer hochgesteckten Ansprüche an einen Sandalenfilm nicht unbedingt erhöhen: groß prangt ein Soldat auf dem Titelbild, der rein gar nichts mit einem römischen Legionär, auch nicht der Spätantike zu tun hat, sondern deutlich dem Mittelalter oder einer Fantasyproduktion entstammt, wobei auf ersteres der gut erkennbare Topfhelm eines weiteren Kriegers im Hintergrund hindeutet. Die aufgedruckten Stars rekrutieren sich eher aus der Riege der Nebendarsteller angelsächsischer Fernsehfilme und Serien, was man aber immerhin ebenso wenig unterschätzen sollte, wie die vielleicht etwas seltsame Tatsache, dass es sich bei The Lost Legion, dessen Titel wie von The Last Legion geklaut wirkt und nicht einmal mehr ins Deutsche übersetzt wurde, um eine kanadisch-tschechische Koproduktion handelt, beides Länder, die einer römischen Vergangenheit absolut unverdächtig sind. Was naturgemäß auch für die USA gelten würde. Zeigt man sich – hoffentlich – noch immer aufgeschlossen, könnte spätestens der Vorspann, der in graphischer Form römische Legionäre in Rom neben dem Colosseum, aber auch tatsächlich vor dem Petersdom zeigt, die letzten Illusionen an Wohlwollen rauben – und dabei weiß man noch nicht mal, dass in dem Film eine Legion nicht einmal, außer in wenigen, nicht wirklich relevanten Aussagen, vorkommt, geschweige denn irgendwo verlorengegangen ist. Wer sich folglich im Recht glaubt, hier abzuschalten, begeht einen bösen Fehler. Denn trotz all dieser scheinbar besten Voraussetzungen für cineastischen Sondermurks überrascht The Lost Legion als clevere Erweiterung des Genres, weniger optisch, aber inhaltlich.
Der Vorspann ist wie gehabt. Ein gleichzeitig eingeblendeter und vorgelesener Text schildert die Situation und Lage: wir befinden uns in Nordpannonien, einem bedrohten Außenposten des zerfallenden Weströmischen Reiches im Jahr 475. Es folgt eine römische Eskorte durch ein sumpfiges Waldgebiet, wobei die Soldaten erkennbar eine Mischtruppe sind aus Legionären und verbündeten Germanen – die allerdings recht zivilisiert wirken in Kleidung und Verhalten, anders als alle später auftretenden Germanen. Die Legionäre tragen zwar historisch korrekte Ausrüstung – auch wenn diese teils etwas schlampig wirkt – allerdings aus der Zeit um 100 n. Chr., somit völlig anachronistisch. Als der Gegner – offenbar Ostgoten – auftaucht, muss man noch einmal befürchten, doch in ein Trash-Filmchen geraten zu sein, zeichnen sie sich doch durch völlig der Phantasie beziehungsweise dem Horrorgenre entsprungene Masken aus. Die sich durch den ganzen Film hinziehende Art, Kampfszenen in Action-Manier mit viel Blut und vor allem in Zeitlupen zu zeigen, dürfte – leider – eine unvermeidliche Folge der Ästhetik von 300 sein, zugute halten darf man, dass sie hier nicht ganz so übertrieben wirken, was natürlich trotzdem nichts an ihrer Herkunft aus der Billig-Trickkiste ändert, wobei dieselbe Technik vorher schon genutzt wurde, um kommende Gefahr anzudeuten, was genaugenommen der noch billigere Trick ist. Vorgestellt werden uns der Anführer der gemischten Truppe als Taranis Maldras, Chef der „Suavi“, womit womöglich die Sueben gemeint sein sollen, und seine frische Braut Gisa in der Sänfte, die nebenbei während des Überfalls innerhalb des Kampfgeschehens kräftig mit zulangt. Sie sind auf dem Weg in die Provinzhauptstadt zum dortigen römischen Dux Maximus’, um ein Bündnis abzuschließen, das sich gegen die gemeinsame Bedrohung durch die Ostgoten richtet.
Taranis wird hier mit allen Motiven des klassischen Helden im Sandalengenre etabliert, wie sie auch in der Nach-Gladiator-Zeit keineswegs aufgehoben, sondern eher noch verstärkt wurden. Schon äußerlich ein durchtrainierter, gutaussehender – naturgemäß weißer – junger Mann, verheiratet mit einer sehr schönen, klugen und noch dazu tapferen Frau. Sein Aussehen, aber auch die seiner Männer ist, wie schon kurz angedeutet, eine Mischform: nicht römisch, aber einheitliche Kettenhemden mit roten Unterkleidern tragend – Tanaris selbst trägt einen ziemlich kuriosen Brustpanzer – sind sie zwar teils auch langhaarig, aber im Gegensatz zu den anderen Germanen sauber und gepflegt. Sie unterscheiden sich also von beiden anderen maßgeblichen Bevölkerungsgruppen – was nur gut sein kann und den Zuschauer*innen so präsentiert wird: weder römisch, also verweichlicht, intrigant, korrupt und dekadent, noch gotisch, also verdreckt, grausam und unberechenbar. Dies gilt umso mehr für den – nicht langhaarigen – Anführer Tanaris. Und trotz seiner relativen Jugend weist er bereits politische Erfahrung und Weltklugheit auf, so sagt er, halb scherzhaft, aber prophetisch zu seiner Frau: Heutzutage [...] will Dir einfach jeder einen Dolch ins Herz stechen.
Im Hinblick auf seinen baldigen Gesprächspartner, den Vertreter Roms in der Region, den Dux und Provinzverwalter Maximus, ist solch eine Skepsis durchaus angebracht. Zwar sieht dieser sich selbst als gewieften Taktiker – als Teil des Spiels, das wir spielen – doch präsentiert sich seine Gattin, Urbina Prima, Witwe des einst mächtigen Ricimer, einer historisch realen Figur, die als Quasi-Regent für gut zwanzig Jahre das Weströmische Reich regieren ließ (405-472), und die deshalb für ihren Sohn nach weit mehr strebt, als ihm im Spinnen von Intrigen als weit überlegen. Urbinas Pläne stoßen bei Maximus jedoch auf grobe Ablehnung, dem Anschein nach verhält er sich loyal gegenüber dem amtierenden Kaiser Julius Nepos – auch er eine historische Figur (ca. 430-480) – und der römischen Tradition, wobei seine Abneigung gegen Urbinas Pläne zudem durch die lebensbedrohliche Gefahr, die er im Verrat sieht, vor allem aber auch seinen Widerwillen gegen seinen jugendlichen Steifsohn Cassius Ricimer begründet ist, den er verachtet. Das erste Auftreten Cassius' rechtfertigt Maximus’ zusätzlich: dieser erweist sich als verzogener, arroganter Schnösel ohne Bildung mit geradezu karikaturhaften Machtallüren. Gleichwohl genießt er die volle Unterstützung seiner Mutter, die, sollte Cassius Imperator werden, wodurch er als ihr und Ricimer Sohn durchaus legitimiert wäre, nicht ganz uneigennützig bis zu dessen Volljährigkeit die Regentschaft übernehmen würde – was sie als Lockmittel auch Maximus in Aussicht stellt. Dieser lehnt jedoch weiterhin schroff ab, ein Imperium der Wahnsinnigen und Narren, wäre laut ihm die Folge solch eines Verrats.
Nach dieser Abfuhr, der mit einem zwischenzeitlichen Hinauswurf aus dem Palast endet, findet Urbina in dem reichen Silberminenbesitzer und jungen römischen Offizier Argos – nomen est omen – Sertorius einen neuen Verbündeten. Dieser wird durch explizite Sexszenen als typischer Vertreter des dekadenten und korrupten Rom charakterisiert. Argos’ völlig leidenschaftsloser Gebrauchsex mit einer gallischen Sklavin kontrastiert mit der zärtlichen Eheerotik zwischen Taranis und Gisa und spielt zudem direkt auf Maximus' Befehl an, ihm eine Sklavin zum Wärmen zu schicken, da seine Gattin nachts sicher nicht zur Verfügung stehe – Gisa spricht, das gleiche Bild verwendend, von der Sehnsucht nach der Wärme ihres Mannes. Einmal mehr ist Taranis somit nicht nur Gegenstück zu den Römern, sondern der reine Held des Genres: er ist vertragstreu, obwohl er alle Vorteile in der Hand hält – er hat mehr Truppen zur Verfügung als die Römer – er besitzt einen Ehr- und Loyalitätsbegriff und hofft auf Frieden im Reich. Konkret setzt er auf das Versprechen der Römer, ihn und seinen Stamm innerhalb der Reichsgrenzen anzusiedeln. All diese sicher sehr positiven Eigenschaften weisen ihn jedoch andererseits als reichlich naiven Träumer aus, der an verlorengegangenen Werten festhält, die ihn die wahren Verhältnisse nicht durchschauen lassen. Dies ändert naturgemäß nichts an seinem Status als Identifikationsangebot an die Zuschauer*innen. Seine Frau Gisa scheint einen etwas nüchternen Blick zu besitzen, auch sie ist durchaus eine Frau, die nach Macht strebt – wenn sie auch, vielleicht nur mangels Gelegenheit, nie die Methoden einer Urbina anwendet.
In jedem Falle dürfte ihr die wahre Basis von Taranis’ ironisch vorgebrachtem Satz Nun, das Leben ist vieles, aber fair, fair gehört nicht dazu, wesentlich bewusster sein als ihm, was allerdings beide nicht schützen wird. Der erwähnte leidenschaftliche Sex mit ihrem Mann wird konterkariert durch die spätere Vergewaltigung, auf die direkt mit der nächsten Szene angespielt wird, die wiederum Argos beim Sex mit seiner Sklavin zeigt, den er auch nicht unterbricht, als er ein „Arbeitsgespräch“ mit der dazukommenden Urbina führt, in dem sie ihm ihre Pläne unterbreitet. Ebensowenig wie sie stößt sie sich hieran, was durch den anschließenden gemeinsamen Geschlechtsverkehr noch bekräftigt und besiegelt wird. Während Argos als Teil seines Auftrags – der andere ist die Bestechung des byzantinischen Botschafters mithilfe seines Silbers zur Beseitigung des Nepos – als verkleidete Goten Tanaris’ Dorf überfällt und seine Frau gefangen nimmt, schließt eben jener ahnungslos feierlich das Bündnis mit dem natürlich ebenfalls ahnungslosen Maximus. Die Partnerschaft scheint perfekt und für beide profitabel. Selbst als der Bischof das Ganze noch aufs Spiel zu setzen scheint, weil er plötzlich kurz vor Abschluss noch den Übertritt von Taranis und seiner Untergebenen zum Christentum fordert, bügelt der sichtlich genervte – ein erster Hinweis auf sein äußerst laxes Verhältnis zur etablierten Staatsreligion – Maximus dies ab. Und dies, obwohl Taranis sich bereits vor dem Bischof in deutlicher Unterwerfungsgeste hingekniet hatte, was das Vertrauensverhältnis zu Maximus noch einmal unterstreicht. Das anschließende orgiastische Fest – man sieht den Bischof sich abwenden – dient einmal mehr zur Kontrastierung des Taranis, der sich einerseits selbst als kein Kriegsherr charakterisiert und andererseits die verführerischen nackten Tänzerinnen aus Treue zu seiner Ehefrau freundlich ablehnt – die im direkten Gegenschnitt gerade entführt wird.
Als die Botschaft von dem Gemetzel im Dorf und der Entführung Gisas mitten in die Feier hineinplatzt, ist es mit dieser, aber vor allem dem Bündnis schnell vorbei. Der verständlicherweise erregte Taranis möchte sich mit einem kleinen Trupp sofort auf die Suche begeben, Maximus, dem er soeben Treue und Gehorsam geschworen hat, hält dies, nicht ohne gute Argumente, für eine emotional überstürzte Reaktion und wegen der geringen Anzahl zur Verfügung stehender Soldaten für zu riskant und verweigert dies. Da Taranis dies nicht einsieht, bezichtigt ihn Maximus der Insubordination und lässt ihn, nach kurzem Schlachtgetümmel in der Residenz in gewohnter Zeitlupenactionmanier wegen des Angriffs auf einen römischen Offizier festnehmen. Bereits jetzt scheinen die Pläne Urbinas Früchte zu tragen und sich vor allem Maximus’ Position zu verschlechtern – von Taranis ganz zu schwierigen, der aber immerhin stets mit offenen Karten im Vertrauen auf die alten Traditionen spielte. Weit gefehlt, Maximus selbst sorgt im Anschluss selbst dafür, sich scheinbar endgültig in die Abhängigkeit von Urbina zu manövrieren.
Denn die folgende Audienz des ostgotischen Botschafters beim Statthalter läuft nach den anfänglichen diplomatischen Freundlichkeiten völlig aus dem Ruder. Der Botschafter, im Bewusstsein der für die Römer äußerst prekären Situation, kleidet eine ganze Anzahl recht unverhohlener und erpresserischer Drohungen nur sehr oberflächlich in süße Worte, die jedoch von Maximus’ in einer äußerst groben und eher unklassischen Sprache erwidert werden. Wenn nicht schon die mehrfachen freizügigen Sex- und Orgienszenen und die überharte Gewalt in den Kämpfen dies rechtfertigen würden, spätestens hier wird jedem die Klassifizierung als FSK 16 nur zu klar. Selten dürfte man in einem Film des Genres – und nicht nur hier – in so kurzer Zeit so viele Wiederholungen der Ausdrücke "Stück Scheiße" und "Ficken" gehört haben, eingebunden in zahlreiche andere blumige Metaphern, wie Captain Kirk das einst einmal genannt  hat. Der Gote zeigt sich dadurch aber weniger beeindruckt als manch Zuschauer*in, hat er doch, wie er meint, diesen Beleidigungen noch einen absoluten Trumpf entgegenzusetzen. Aus einer Kiste zieht er den halb verwesten Kopf von Maximus' Vorgänger als Statthalter Quintus Aurelius. Nur für einen kurzen Augenblick scheint diese warnende Provokation zu verfangen – doch der Botschafter ist offenbar in Unkenntnis von Maximus' mehr als flexiblem Umgang mit Tradition und Christentum. Statt die in Rom hochgehaltene Verletzung der Totenehre als die gewollte niederschmetternde und persönliche Zukunftsdrohung zu akzeptieren, setzt er noch einen drauf, in dem er – in einer äußerst derben Szene – den Kopf ergreift und mit diesem den Botschafter totprügelt; auch dies ein eminenter Verstoß gegen die antike Tradition des Botschafterschutzes. Nach seinem Wutanfall – und es fällt schwer sich diesem Höhepunkt an schwarzen Humor zu entziehen – sieht Maximus allerdings ein, dass er dank seines, so explizit, diplomatischen Ansatzes, nun wohl oder übel auf die Hilfe seiner Frau angewiesen sein wird. Damit erreicht er den Tiefpunkt seiner Handlungsfähigkeit, während Urbina – ohne ihr Zutun – gleichzeitig alle Fäden in dem Machtspiel zugespielt sind. Wie sie ihm im Folgenden auch deutlich zu verstehen gibt.
Dazwischengeschaltet wird eine weitere Szenenfolge, die Urbinas Machtansprüche voranbringt: sie liefert Argos Gisa aus, die er vor ihren Augen, als Zeichen seiner Potenz im doppelten Sinn – seiner Stärke als Verbündeter und seiner Libido als Liebhaber – vergewaltigen soll. Taranis Ehefrau wird hier mehrfach gedemütigt, indem sie, wie es Urbina befiehlt, in der Art einer Hündin von hinten genommen wird, wobei sich Argos, um die Erniedrigung zu erhöhen, nicht anders verhält wie noch vor kurzem beim Sex mit der gallischen Sklavin. Weder zeigt er sich sonderlich leidenschaftlich – es handelt sich schließlich hier um eine weitere „Auftragsarbeit“ – noch widmet er sich seinem Opfer, sondern hält den Blick auf Urbina gerichtet. Zudem wirkt der reale Missbrauch Gisas gleichzeitig wie eine symbolische Vergewaltigung und Unterwerfung durch Rom. Urbina kann also den Stand der Dinge aus ihrer Sicht äußerst positiv resümieren: Maximus ist durch ihre Intrigen, aber insbesondere sein eigenes unbeherrschtes Verhalten völlig von ihr abhängig. Argos durch die Vergewaltigung Gisas und durch zahlreiche Versprechen – Posten in Rom, spätere Heirat – eng an sie gebunden. Der Gote Valemar, dem sie Gisa ausgeliefert, wird Teil ihrer Strategie. Es fällt ihr folglich nicht schwer, sich vordergründig mit Maximus zu versöhnen, der nun ihren Pläne zur Erhebung Cassius’ zum Imperator zustimmen muss. Dieser wünscht sich, kaum zum Anwärter auf die Macht ernannt, nicht mehr Grammatiker – also Bildung –, sondern Gladiatorenkämpfe zu seinem persönlichen Amüsement, womit er den Sadismus seines allerersten Auftritts bestätigt, den Filmemachern aber insbesondere Gelegenheit gibt, eines der Merkmale des römischen Sandalenfilms schlechthin in Szene zu setzen, obwohl die blutigen Spiele zu dieser Zeit in dem christlichen Staat längst verboten sind. Maximus und Cassius ist dies allerdings bewusst – später wird es nämlich explizit erwähnt.
Derweil trifft Argos als Botschafter des neuen Imperators in einer von den Ostgoten eroberten Stadt ein, die eher mittelalterlich wirkt, insbesondere die domartige Kirche – in der Valemar sein Hauptquartier errichtet hat. Das Gotteshaus als entsakralisierter Herrschaftssitz und Ort zahlreicher Gewalttaten ist nur eines der zahlreichen Kennzeichen, das die Ostgoten als komplette Barbaren stigmatisiert: sie essen mit den Fingern, sind verdreckt wie ihre gesamte Umgebung und tragen ungewaschene Fellkleidung, sie üben Gewalt ungeniert vor Kleinkindern aus, frönen der Vielehe – und natürlich darf der Tierschädel über Valemars Thron nicht fehlen. Ein Kuriosum ist der links hinter Valemars Thron sitzende Schwarzafrikaner, der funktions- und sprachlos als reines Dekor zu dienen scheint, in jedem Fall ist sein Vorhandensein am Hof der Goten schwer erklärbar, es sei denn, er solle eine Art Symbol sein für den Abfall der Völker von Rom; gleichwohl ist ein Bündnis afrikanischer Rebellen mit Ostgoten an der Donau eher unwahrscheinlich und historisch reichlich dünn belegt. Valemars Auftreten ähnelt dem seines Botschafters, er kann sich selbstbewusste Arroganz leisten, da er sich in einer hervorragenden Ausgangsposition befindet: dementsprechend stellt er Argos auch die blasphemische Frage, ob sich der christliche Gott wohl rächen werde, weil er – Valemar – ihm sein Haus weggenommen habe. Diese Unverfrorenheit hätte im klassischen Sandalenfilm nicht konsequenzlos bleiben können – zu späterem Zeitpunkt wäre solch eine Aussage entweder tatsächlich gerächt worden oder hätte zu Reue und Bekehrung geführt. Beides wird ausbleiben – und Argos ist ohnehin nicht der Mann, sich auf die hierzu notwendige theologische Argumentation einzulassen. Er unterbreitet Valemar Urbinas Pläne – die hier zusätzlich die explizit ausgesprochene Ermordung Maximus’ mit umfassen – und überreicht zur Bekräftigung Gisa als Geisel, da er Taranis zum Mörder des Botschafters erklärt hat. In einer netten historischen Anspielung reicht Valemar sie an seinen Neffen Theoderich weiter; ansonsten bleibt er in Bezug auf die Pläne skeptisch, zeigt sich aber willig, sollte binnen sechs Wochen sichtbarer Erfolg auf Seiten der Römer eingetreten sein – in Form der Ermordung des regierenden Kaisers Nepos.
Cassius beginnt derweil mit der Vorbereitung seiner Regierungsarbeit. Im Gefängnis bietet er Taranis an, als Gladiator um seine Freiheit zu kämpfen, um am Vorabend seiner Inthronisation ein Spektakel bieten zu können. Einmal mehr tritt Taranis in die Rolle des klassischen Helden, gehört doch der Einzelkampf um das eigene Leben zu den Hauptmotiven des Sandalenfilms. Taranis unterstreicht diese Position noch, indem er edelmütig fordert, als erster kämpfen zu dürfen, um dadurch für alle seine Männer die Freiheit erlangen zu können. Da Cassius ohnehin nicht davon ausgeht, dass Taranis – gegen zwei aus Ravenna herbeigeholte Profis – überleben wird, gesteht er ihm dies zu, er erlaubt ihm sogar die Suche nach seiner Frau Gisa mit römischer Unterstützung. Der Plan zur Einsetzung Cassius’ ist inzwischen angelaufen, Nepos’ wurde aus Ravenna verrtieben und versteckt sich in Dalmatien – was wieder einmal historisch korrekt ist, aber auch das erste kleinere Anzeichen, dass der Ablauf der Intrigen nicht gänzlich den Vorstellungen entspricht. Nepos’ ist zwar vorerst ausgeschaltet, tot, wie vorgesehen, ist er jedoch nicht. Zwar scheint dies nur ein nebensächlicher Makel in Urbinas Masterplan, Maximus’ Zweifel an Aristes’, dem byzantinischen Botschafter, deuten aber bereits in die Zukunft voraus: Gekaufte Verbündete können auch bestochene Verbündete werden.
Vorerst jedoch gestalten sich die Abläufe weiterhin perfekt in Urbinas Sinn: Maximus verkündet vor dem versammelten Volk die Einsetzung Cassius' als neuer Imperator. Seine Rede weist einige Seltsamkeiten auf: so spricht Maximus von eurem Herrn Jesus Christus, als ob er nicht selbst dazugehöre, was durch die Legitimierung Cassius' aufgrund der Stimme Ricimers, die aus dem Grabe zu ihnen gesprochen habe, also einer eindeutig heidnischen Rechtfertigung, noch untermauert wird. Es verwundert folglich ebenso wenig, dass Maximus – und Cassius – wenig Skrupel haben, einen öffentlichen Gladiatorenkampf noch dazu mit der Bemerkung zu präsentieren, dieses Vergnügen sei seit vielen Jahren verboten, sondern dass von ihnen im Anschluss – nicht nur in dieser Szene – vom Wohlwollen der Götter oder den Augen Jupiters die Rede ist. Dass das Christentum besonders tief in den beiden verankert gewesen sei, konnte ohnehin niemand vermuten. Der anschließende Kampf verläuft nach den üblichem Muster und mit wenig überraschendem Ausgang: Taranis gewinnt und erhält die versprochene Befreiung für sich und seine Männer. Einzig bemerkenswert ist eine schöne Detailaufnahme während des Kampfes, die zwei im Sand steckende Schwerter groß im Vordergrund zeigt, die beide deutliche Scharten und Gebrauchsspuren aufweisen – ein Sonderlob an dieser Stelle für den Ausstatter!


Nun kann endlich die langerwartete Zeremonie zur Einsetzung Cassius’ als neuer Imperator des Weströmischen Reiches stattfinden, durchgeführt von Maximus, der hier auch bildlich bereits wieder die zentrale Position einnimmt, Urbina ist links hinter ihm sitzend von dem hinter ihr stehenden Argos beschirmt, der Bischof dagegen beispielsweise nur eine komplette Randfigur. Vor der Inthronisation hat Maximus an seinen Stiefsohn Cassius, der bereits vor ihm kniet, noch eine letzte ungewöhnliche Bitte: dieser möge ihn als Sohn annehmen. Naturgemäß zeichnet sich hier für den halbwegs intelligenten Zuschauer eine ersichtliche Finte ab, noch dazu, da Maximus’ Begründungen mehr als logisch holprig sind – Damit ich euch besser dienen kann, eine Pflicht im Namen des Imperiums – doch Cassius’ überraschter Argwohn bezieht sich vor allem auf Maximus’ Alter und die sich daraus ergebende seltsame Konstellation, doch stimmt er, nicht gerade ein Zeichen seines Scharfblicks, so kurz vor der Vollendung seines Kaisertums vielleicht geblendet, schließlich zu. In einer eher unhistorischen Schwertleite erklärt Maximus ihn zum neuen Imperator, nachdem er sich versichert hat, dass die Adoption schriftlich protokolliert wurde – und eben diese formale Tradition lässt ihn Cassius im folgenden Moment mit eben diesem Schwert vor aller Augen ermorden. Als nunmehr Sohn des Imperators ist er der logische und legitime Nachfolger. Das einzig wirklich Überraschende an dieser Aktion nach dem seltsamen Begehren Maximus’ – es ist klar, dass an diesem Punkt Urbinas sich scheinbar soeben vollendender Plan bereits durch einen neuen des Maximus abgelöst wird – Sohn seines Stiefsohns zu werden, ist Argos’ lächelndes Gesicht beim Tod des Jungen, das nicht nur die Zuschauer*innen, sondern vor allem auch Urbina verwundern dürfte.
Doch die Gesamtsituation klärt sich nun ohnehin auf: Argos ist längst zu Maximus übergelaufen – man erinnere sich an dessen Diktum von den bestechlichen Verbündeten –, der ihm Besseres zu bieten hatte – das Leben – er bekommt zudem die von ihm langersehnte jungfräuliche Sklavin und als Dreingabe Urbina zum Ficken, wobei er jedoch bevorzugt, letztere in die Silberminen zu schicken, um ihre Schulden abzubauen. Taranis wird, wie versprochen, freigelassen, von Maximus aber zudem als Botschafter bei Valemar bestimmt, was jedoch eine der offenkundigen zynischen Bemerkungen Maximus’ ist, den Taranis erscheint kurz darauf vor Valemar in Fesseln. In jedem Falle ist Maximus zu diesem Zeitpunkt, obwohl er lange wie der sichere Verlierer aussah, der absolute Triumphator und in einer wesentlich besseren Ausgangslage als noch zu Beginn des Films.
Die Logik des Genres würde nun nach einem letzten klärenden Moment verlangen, in dem Taranis im Mittelpunkt steht. Dem äußeren Anschein nach ist dies auch der Fall. Vor Valemar kann er diesen über die Intrigen und Vorgänge am Hof aufklären – und somit auch von seiner eigenen Unschuld überzeugen, stand er doch im Verdacht, den gotischen Botschafter getötet zu haben –, die letztlich auch Valemars Pläne scheitern lassen, zudem erfährt umgekehrt Taranis, dass nicht die Goten, sondern Argos sein Dorf überfallen, seine Frau entführt und später an Valemar übergeben haben. Hier ist somit der Punkt erreicht, an dem das Schema des klassischen Sandalenfilmes die Wiederherstellung der Verhältnisse verlangen würde: der unschuldige Taranis müsste seine Frau zurückerhalten. Tatsächlich wird sie ihm vorgeführt – und als Frau des Theoderich vorgestellt – doch zu einer Wiedervereinigung kommt es nicht. Sie lehnt sie ab. Ihr Argument der König bot mir ein Leben an wird von Taranis mit der Replik und ich gab Dir Liebe nur noch hilflos beantwortet, das frühere Leben ist vorbei wie ihre Liebe, sie trägt bereits das Kind Theoderichs im Körper. Taranis bleibt zwar der stets Integre – er beschwört sogar noch, Gisa auch weiterhin zu lieben – aber auch der vollends Gescheiterte, ganz im Kontrast zu den zweifelhafteren Charakteren Maximus und Argos. Valemar bleibt nur noch, sich als besserer Römer zu erweisen und Taranis wie ein gerechter König aufgrund seiner Unschuld freizulassen. Mit dem Bild des geschlagenen Helden endet der Film.
Und dies macht ihn so ungewöhnlich. Sicher, trotz ihrer oft sehr überraschenden Wendungen ist die zugrundeliegende Geschichte kein Jahrhundertwurf, auch die schauspielerischen Leistungen erreichen nicht gerade Burgtheaterniveau, doch kann man dem Film vor allem nach der eingangs erwähnten und ziemlich gut fundierten Skepsis einerseits das Gelingen einer sehenswerten Erzählung nicht absprechen, auch nicht, dass er dem Genre, mag man dies begrüßen oder nicht, gerade sprachlich einiges Neues hinzufügt, was die Derbheit weit jenseits des Lateinunterrichts angeht, vor allem aber muss man andererseits anerkennen, dass er die vom Sandalenfilm geprägten Sehgewohnheiten am Ende gerade durch sein Spiel mit typischen Motiven klar und gekonnt unterläuft. Dass der mit allen Merkmalen des Helden ausgestattete Taranis schlussendlich in allen Belangen unterliegt und sogar von seiner Frau verstoßen wird, ohne jegliche eigene Schuld zu tragen, ist mehr als überraschend, insbesondere wenn dazu noch die „bösen“ Charaktere wie Maximus, Argos und – bedingt – auch Valemar als kontrastierende Gewinner aus dem Geschehen entlassen werden. Weder den Zuschauer*innen mit dem historischen Wissen, dass mit dem Folgejahr 476 das gesamte Weströmische Reich ohnehin enden wird, noch Taranis kann dies ein Trost sein, da auch dies seine Position ganz sicher nicht mehr verbessern wird.                                      
                                             
 


Vorgänger in dieser Serie: Katharina von Alexandrien.

Samstag, 11. April 2020

Lektüremonat März 2020.



Roberto Bolano: Die wilden Detektive. 

Natürlich ist in dem Roman von Roberto Bolano (1953-2003) nichts so, wie es scheint und erst recht werden uns hierfür keinerlei Erklärungen geliefert. Anfangs handelt es sich offenbar um die Geschichte eines jungen Mannes, 17 Jahre, der in Mexico City versucht, sich einem Kreis avantgardistischer Dichter und Dichterinnen anzuschließen, die sich nach einer früheren literarischen Bewegung der 1920er Jahre „Realviszeralisten“ nennt. Doch so genau erfahren wir nie, worin deren Innovation besteht, wie und was sie schreiben, und auch wer dazugehört, ist nie so genau klar, selbst den eigenen Mitgliedern nicht – auch die Mitgliedschaft des jungen 17jährigen wird hunderte Seiten später bezweifelt. Nur die beiden führenden Köpfe, Arturo Belano und Ulises Lima sind die unangefochtenen Köpfe der Gruppe, aber worin besteht eigentlich ihr Führungsanspruch? Der – vermeintliche – Protagonist wird in jedem Falle durch seine neuen Bekanntschaften in eine üble Geschichte hineingezogen, eine Freundin seiner Geliebten wird von ihrem Zuhälter bedroht und verfolgt, weshalb er überhastet mit ihr, Belano und Lima aus der Hauptstadt fliehen muss. Hier endet der erste Teil des Buches. Der zweite verfolgt in vielen Einzelgesprächen das Schicksal der verschiedenen Realviszeralisten, das nur selten mit Literatur zu tun hat, Bruchstücke von meist wenig erfreulichen Biographien tun sich auf, in denen schließlich auch immer nebelhaft die beiden ehemaligen Anführer Belano und Lima auftauchen. Schließlich springt der Roman im dritten Abschnitt wieder zum Fluchtgeschehen zurück, das jedoch gleichzeitig die Suche nach einer Dichterin der ersten Realviszeralisten ist – beides endet in einer Katastrophe. Bolano eröffnet ein riesiges Panoptikum, in der ein gesamtes Weltwissen einfließt, das weit über die lateinamerikanische Literatur hinausgeht. Gleichzeitig verschwindet darin unser Wissen über die Personen. So wie die Figuren im Buch oft auf der Suche nach anderen sind, Dichter*innen, Freund*innen, im Großen wie im Kleinen, lässt sich trotz der vielen Angaben kein zusammenhängendes Leben erkennen, so detektivisch man vorgehen möchte. Und die einzig erfolgreiche Suche hat fatale Folgen. Ein Bolano-Roman in Reinkultur, wie immer großartig.      

Ludwig Tieck: Vittoria Accorombona.

Er ist ein Klassiker, war unglaublich produktiv, extrem einflussreich und in allen literarischen Genres bewandert, durchlebte alle Stufen der deutschen Romantik und war seiner Zeit in manchem sehr weit voraus, insbesondere in seinen Bühnenstücken, die die Postmoderne bereits vorwegnahmen – und er wird bis heute gelesen, jeder kennt zum Beispiel „Der gestiefelte Kater“. Und doch ist Ludwig Tieck (1773-1853) außerhalb von Fachkreisen im öffentlichen Bewusstsein kaum verankert. Sein letzter Roman „Vittoria Accorombona“ von 1840 war ein Bestseller und wurde sofort in mehrere Sprachen übersetzt. Die Geschichte der schönen Vittoria aus altem Geschlecht, gleichzeitig junge Dichterin, die ins Intrigengeflecht des Italiens der Spätrenaissance gerät – und darin umkommt – beruht auf historischen Fakten. Das zerfledderte, unabgeschlossene und mit Gedichten durchsetzte Romanschreiben, einst von Tieck selbst mitetabliert, hat er nun – gut fünfzig Jahre nach seinen ersten Texten – hinter sich gelassen, auch der sprachliche Enthusiasmus der Frühzeit ist gedämpfter. Zwar ist der Plot am Anfang etwas schwerfällig, aber Tieck überzeugt vor allem durch die Charakterisierung seiner Figuren, die äußerst ambivalent sind. Hier sucht letztlich jeder seinen eigenen Vorteil, der ihm den Aufstieg sichert. Wechselnde Koalitionen, ziemlich skrupellose Beseitigung des Gegners, heute oben, morgen am Galgen, all das ist Alltag und kann ganz schnell geschehen. Auch Vittorio Accombona, ziemlich forsch auftretende junge Dame, ist davon nicht frei – sie wahrt sich ihre Eigenheiten und ihre Distanz, heiratet aber aus Berechnung, doch immerhin mit edlen Motiven – einen ungeliebten Ehemann, der unter mysteriösen Umständen getötet wird, was ihr ermöglicht, sich mit ihrem Geliebten, einem Herzog, zu verloben – der hatte, weitaus weniger mysteriös vorher eigenhändig seine Frau erwürgt. Auch das Desinteresse Vittorias am Schicksal ihrer Mutter, die, von ihren Kindern nach derem Aufstieg undankbar gemieden, dem Wahnsinn verfällt, macht sie nicht unbedingt sympathisch, auch wenn Tieck viel daran gelegen ist, sie als selbstwusste Frau in feindlicher Umgebung darzustellen. Nimmt nur langsam Fahrt auf, bleibt aber ein lesenswerter Roman.                  

Claude Berri: Le vieil homme et l’enfant.

Das französische Nachkriegskino vom anspruchsvollen Filmschaffen der Nouvelle Vague – zu dem er
selbst als Regisseur beitrug – bis hin zu den großen kommerziellen und oft auch internationalen Erfolgen von "Willkommen bei den „Sch’tis“ bis „Asterix“ war ohne Claude Berri (1934-2009) nicht denkbar. Und er war ein Multitalent: Regisseur, Schauspieler, Drehbuchautor und insbesondere Produzent. „Le vieil homme et l’enfant“ enthält nicht nur das Drehbuch zum gleichnamigen Film von 1967, sondern auch eine einführende autobiographische Erzählung aus der Feder Berris – der Grundlage zum Film, der davon in einigen Punkten leicht abweicht. Der kleine Claude ist zwar kein aufmüpfiger Junge, aber einer, der seine Eltern trotzdem immer wieder in Verlegenheiten bringt. Zwar sind die Missetaten des 9jährigen eigentlich keine außergewöhnlichen, aber die Situation macht sie gefährlich. Denn Claude und seine Eltern sind Juden im Frankreich des Zweiten Weltkriegs – es ist äußerst unklug, auffällig zu werden. Und so bringt jeder Dummejungenstreich die Familie in Gefahr, nur scheint, was den Papa zur Verzweiflung bringt, der Nachwuchs dies nicht zu verstehen. Als die äußere Situation immer bedrängender wird, entschließen sich Claudes Eltern schweren Herzens, ihn unter falscher – katholischer – Identität bei den Eltern einer Bekannten unterzubringen, in einem einsamen Bergdorf. Die übernehmen die Aufgabe gerne, der Junge bringt Leben in das Häuschen der beiden herzlichen Alten, die nicht wissen, dass es sich dabei um einen Juden handelt. Denn der nette Opa Pépé, ehemaliger Weltkriegsoffizier, ist leidenschaftlicher Anhänger Pétains und vor allem überzeugter Antisemit, überall erkennt er auf den ersten Blick die Feinde Frankreichs: Engländer, Kommunisten, de Gaulle und natürlich die Juden. Anfangs unsicher, versteht Claude selbstbewusst mit der Situation umzugehen, indem er Pépé immer wieder dazu bringt, sich über die Juden auszulassen und ihn scheinbar ängstlich fragt, wie man diese erkennt und was sie alles so Gefährliches tun. Der Junge fühlt sich sichtlich wohl, beide albern miteinander herum, es folgt ein schwerer Abschied, als der Junge nach Kriegsende wiederabgeholt wird. Berri verzichtet auf die allzu naheliegende Pointe, Pépé am Ende aufzuklären über den Jungen. Ein liebenswerter Antisemit, geradezu das Ideal des netten Großvaters, noch dazu verkörpert von einer Ikone des französischen Kinos, Michel Simon? Das könnte man bedenklich finden, ist aber ein sehr wirksames Mittel, schließlich führt nichts mehr als die absurden Ansichten Pépés, die in den versichernden Worten gegenüber des ihn mit angeblichen Ängsten provozierenden Claude gipfeln, dass dieser ganz gewiss kein Jude ist, weil er keine von deren leicht erkennbaren Merkmalen besäße, dazu, diese Ansichten als Humbug zu entlarven. Und dass diese Ansichten aus dem Mund eines an und für sich netten Menschen stammen, rückt nur das immer noch hochaktuelle Dilemma in den Fokus, dass es eben nicht nur totalverbohrte, widerwärtige und geistesschwache Spinner sind, die solche gefährlichen totalverbohrten, widerwärtigen und geistesschwachen Dinge von sich geben, sonst würden sich diese ja nicht weiterhin verbreiten. Berris Film zeigt nicht, dass Antisemiten nett sind, sondern dass auch Nette Antisemiten sein können – und dass dies unsere Aufmerksamkeit und den Mut zum Widerspruch erfordert.  


Jean Laborde: Des Teufels schwache Seite.              
    
Wir steigen mit einer seltsamen Szene mitten ins Geschehen ein: Zwei junge Frauen rangeln in einem Zimmer miteinander, dabei zerbricht eine Ampulle. Im Nebenzimmer stirbt derweil der Industrielle Paul Dupré, seit längerem bettlägerig aufgrund einer Herzschwäche. Die eine Frau, seine Krankenschwester, kann nur noch seinen Tod feststellen, die andere, seine Gattin, ruft einen Arzt, der dies bestätigt. Wegen der unklaren Todesursache muss er den Vorfall melden, Mme Dupré ruft sofort ihren Anwalt zuhilfe. Dieser, M. Cassidis, ist der Star der Pariser Juristenszene, berühmt und bewundert, gefürchtet und geachtet von Freund und Feind, ein unbestrittener Meister seines Fachs. Als es zu einer Untersuchung kommt, geführt von dem skeptischen und von seinen Kollegen als Freigeist nicht unbedingt geschätzten Ermittlungsrichter Gaudet, stellt sich ein Gleichgewicht an Verdacht ein, der sowohl die Witwe, von der sich Dupré angeblich trennen wollte, als auch die Krankenschwester trifft, vermeintliche Geliebte des Kranken. Immer neue Wendungen treten auf: ein Testament zugunsten der Krankenschwester, das sich jedoch als Fälschung erweist, die Weigerung der Frau, ihre Liebschaft zuzugeben, was sich als Lüge erweist. Und doch erfahren wir Leser*innen, dass Mme Dupré die Mörderin ist – sie gesteht es freimütig Cassidis, der ihr inzwischen sexuell verfallen ist. Der ist weniger schockiert, im Gegenteil sieht er es als höchste Herausforderung, eine Schuldige vor Gericht freizubekommen, dass dafür einer Unschuldigne der Tod droht – wir sind im Frankreich der 1960er Jahre – ist zweitrangig. Cassidis kann alle Anschuldigungen, Belastungszeugen und Verdachtsmomente so umkehren, dass sie ein schlechtes Licht auf die Krankenschwester werfen. Gaudet, zur Objektivität verpflichtet, sucht nach einem Ausweg, um das Verfahren möglichst lange in der Schwebe zu halten und es ausgeglichener zu gestalten, da er zunehmend von der Unschuld der Pflegerin überzeugt ist. Doch die objektiven Indizien, die er in seiner Akte anlegen muss, spielen stets Cassidis in die Hände. Gaudet gibt den Fall ab, tritt unvermutet selbst als Zeuge im Prozess auf, er will verhindern, dass der brillante Anwalt eine Unschuldige hinter Gitter bringt. Jean Laborde (1918-2007), selbst gelernter Jurist, schuf eine Mischung aus Kammerspiel und Justizkrimi, die eine zutiefst pessimistische Sicht seiner Zunft widerspiegelt, ohne in das sensationsheischende Zerrbild von Juristen zu verfallen, dass schlechte Krimis insbesondere im TV so gerne bedienen. Laborde geht mehr in die Tiefe rechtsphilosophischer Fragen. Der Ausgang des Textes ist dementsprechend überraschend. Verklagen sollte man allerdings den deutschen Verlag für den schwachsinnigen, vom Inhalt völlig abgekoppelten Titel. Das Original heißt so schlicht wie passend: „Les bonnes causes“.