Taeko
Kono: Riskante Begierden.
Tokyo
zu Beginn der 1940er Jahre. Japan ist mit dem Deutschen Reich verbündet, in
Kürze eröffnet man den Krieg gegen die USA und tritt, anfangs sehr erfolgreich,
an der Seite der ‚Achsenmächte‘ in das weltweite Kampfgeschehen ein. Außer
einer gewissen Begeisterung für alles Deutsche ist das Leben in der Hauptstadt
jedoch vorerst vom Krieg unberührt, Privates herrscht vor: Die junge Hinako, 19
Jahre, wird den doppelt so alten Masataka heiraten. Es ist ein typisches
Ehearrangement, mit dem jedoch alle betroffenen Seiten sehr zufrieden sein
können. Beide Familien sind althergebrachte Medizinerdynastien, beide Familien
haben Makel. Hinako war bereits einem Cousin, ihrem Adoptivbruder, versprochen,
der sich jedoch umbrachte, Masatakas Mutter ist eine halbe Deutsche,
hervorgegangen aus einem Familienskandal. Sie, wie auch Hinakos Vater, gelten als
exzentrisch und nicht unbedingt vorzeigbar. Dass es nun also zur Heirat kommen
konnte, ist somit ein gelungenes Arrangement, und es verwundert eigentlich
niemand, dass sich das neue Ehepaar erst einmal auf sich zu konzentrieren
scheint. Die Beziehungen zur Familie werden lose, zur Nachbarschaft besteht
kaum Kontakt, Freunde oder Freundinnen sind nicht vorhanden. Hinako ist vor
allem damit beschäftigt, sich in dieses neue Leben einzufinden, sie fühlt sich
naiv gegenüber dem älteren Mann und der unsicheren Situation. Zu Beginn
versucht sie, dies mit einer gewissen Pedanterie, die ihrem neuen Leben
Struktur geben soll, auszugleichen, etwa zeichnet sie akribisch die Nächte auf,
in denen es zum Geschlechtsverkehr kommt. Doch so wie Hinako immer mehr Freude an
ihrem Eheleben und am Sex gewinnt, genauso verliert sie ihre Hemmungen und ihre
Unsicherheit. Nach außen gibt sich Masataka zwar als patriarchalischer Gatte,
doch Hinako hat ihn längst durchschaut und es beginnt ein raffiniertes
masochistisches Spiel zwischen den beiden. Als ihr Haus bei Luftangriffen auf
Tokyo zerstört wird, müssen die beiden aufs Land ziehen, ihre Gemeinschaft wird
enger, ihre Abgeschlossenheit noch größer. Während Japan – wird sind im
Frühjahr 1945 angekommen – ringsumher von Zerstörung bedroht wird, erfüllt
sich Masatakas Traum der ultimativen Demütigung durch Hinako, der Tod. 1990 bei
Erscheinen war der Roman der renommierten Autorin Taeko Kono (1926-2015) ein
Großereignis. Heiß diskutiert und mit Preisen überschüttet, hat er zwar im
Westen auch Aufmerksamkeit erregt, doch einen größeren Bekanntheitsgrad
verhinderte vermutlich die tiefe Eingebundenheit in die japanische Kultur, die
den Zugang für westliche Leser*innen erschwert. Zwar ist das menschliche
Hauptgeschehen, die Beziehung zwischen Hinako und Masataka, universal nachvollziehbar,
allein durch die meisterhaft akribische Schilderung Taekos, viele Nuancen der
komplexen Traditionen, Stimmungen und Anspielungen gehen aber leider verloren,
wenn man nicht gerade weitgehende Kenntnisse über das Land und seine Kultur
mitbringt. Den Roman genießen – und wenigstens einen Teil dieser eigenen
Defizite beseitigen – kann man aber trotzdem.
James
Hawes: Speak for England.
Der
Plot verspricht eine spannende Geschichte: Brian Marley, geschiedener
Mittvierziger mit Sohn, Schulden und einer mehr schlecht als recht bezahlten
Anstellung als Sprachlehrer lässt sich überreden, an einer Art verschärftem
Dschungelcamp teilzunehmen. Sechs Wochen in der Wildnis Papua-Neuguineas gilt
es zu überstehen, ohne gefressen, verrückt oder krank zu werden, mehr nicht,
keine Spiele, aber auch keine Hilfe, nur jede Woche einmal die Möglichkeit
auszusteigen. Dem Gewinner winken zwei Millionen Pfund. Brian bleibt
tatsächlich als letzter übrig, doch die Hubschrauber, die ihn abholen sollen,
kollidieren vor seinen Augen. Verirrt im Dschungel und am Rande des Wahnsinns
könnte ihn nur der Abstieg über eine enorme Felswand retten. Doch er rutscht
ab…und wacht inmitten eines Lagers von Überlebenden eines britischen Fluges ab,
der hier 1958 abstürzte. Unter der Führung des Headmasters, eines ehemaligen
Militärs, hat sich nun schon über zwei Generationen eine kleine Gemeinschaft
etabliert, die in strenger Disziplin das englische Leben der 1950er Jahre aufrechterhält
und auf Rückkehr hofft. Dank Brian und der nach ihm eingeleiteten Suche
gelangen sie schließlich in ein Großbritannien zurück, das so gar nicht ihren
Vorstellungen entspricht – der Headmaster macht sich daran, England auf den
richtigen Weg zurückzuführen. James Hawes‘ (geboren 1960) Satire von 2005 stieß
auf großes Echo und ist doch ein unglaublich langweiliges Buch. Das zu konstatieren
ist das eine, die Frage nach dem Warum das andere. Nun, sprachlich ist das Buch
unauffällig in die eine oder andere Richtung. Den militärischen Altherrenjargon
der 50er Jahre zu imitieren ist eher keine Großtat, es sei denn, man zählt eine
gewisse Weitschweifigkeit zu den Stilmitteln der Epoche. Die Dialoge sind
manchmal ganz nett, aber auch nicht zündend, all das liegt an dem Grundfehler
des Buches, den ziemlich voraussehbaren und mit üblen Klischees behafteten
Figuren. Die Medienvertreter: geld- und quotengeile Zyniker, die buchstäblich
über Leichen gehen; die Politiker (von New Labour): inkompetente Sprechblasen
ohne Ideologie, geführt von Spin-Doktoren; das Volk: von beiden verführbar und
dumpf allem hinterherlaufend. Dem setzt Hawes seinen Protagonisten entgegen und
ausgerechnet hier versagt sein Klischee vom liebenswerten Versager. Brian
Marley bleibt eine blasse Figur, von dem man sich eher nicht wundert, warum es
in seinem Leben nicht läuft, was einen aber auch nicht wirklich interessiert.
Wesentlich mit mehr Tiefe zeichnet Hawes den Headmaster, der schließlich das
Amt des Premierministers mit seinen Vorstellungen von Zucht und Ordnung, klarem
Feindbild (die Roten und Franzosen!), Liebe zum Empire und zu England, nicht
Großbritannien, übernimmt. Somit könnte man Hawes immerhin für einen Propheten
halten, der die Sehnsüchte seiner Landsleute nach einer vermeintlich heilen 50er-Jahre-Welt
karikiert, die, wie sich gezeigt hat, tatsächlich in nicht wenigen Teilen der
Bevölkerung vorhanden zu sein scheint. Der Headmaster bedient im Prinzip die spätere
Brexit-Gemeinde, tatsächlich steigt England – anders als Schottland oder Wales
– im Roman ebenfalls aus der EU aus. Doch Hawes selbst hat etwas zu viel Gefallen
an der neuen Politik des Headmasters, nur schwach stellt er, wenn überhaupt,
Gegenargumente bereit. Die zynischen Politiker sind EU-freundliche Vertreter
eines Großbritannien, sprich nicht nur England, Brian ist als Gegenpol sowieso
zu lächerlich, abgesehen davon interessiert er sich nicht für die Vorgänge um sich herum. So gesehen ist er vielleicht doch ein gut gezeichnetes Bild des
Durchschnittsengländers. Doch all dies ist schon zuviel gesagt, als Satire
taugt der Roman nicht und als unterhaltende Lektüre ist er einfach viel zu
langweilig. Verschenkte Lesezeit.
Oswald
Levett: Papilio Mariposa.
Im
Ersten Weltkrieg verwundet, wird ein Hauptmann, im Zivilberuf Jurist, als
Kriegsgerichtsrat auf den
Balkan verschickt. Weil er angeblich zu milde
urteilt, entsendet man ihn als Vorsitzenden eines Standgerichts, das über
einen Fall von Defätismus zu befinden hat. Alles spricht gegen den Beschuldigten:
Die Zusammensetzung des Gerichts, um ein Exempel zu statuieren, die eindeutigen
Belege für seine Äußerungen, vor allem aber auch die schlechte Laune des
Kriegsgerichtsrats, der schon länger nichts mehr von seiner jungen Freundin
gehört hat. Und die Person des Angeklagten selbst: ein jüdischer
Heeresangehöriger mit einem absurd lächerlichen Namen (Naftali Margoschenes) und
noch dazu von geradezu abstoßender Hässlichkeit. Doch während der Verhandlung
trifft der Brief der Geliebten ein, der Kriegsgerichtsrat erinnert sich seiner
üblichen Milde und überredet das Kollegium zu einer Kerkerstrafe statt eines
Todesurteils. Nach dem Krieg begegnet er mehrfach zufällig in Wien dem
ehemaligen Angeklagten wieder, heruntergekommen und gedemütigt durch sein
Aussehen. Doch es waren gar keine Zufälle, eines Tages verabreden sich die
beiden und der Jude offenbart seinem damaligen Retter, dass er inzwischen eine
Erbschaft gemacht habe, dank eines entfernten holländischen Verwandten sei er
zu Reichtum gekommen und habe sich auch einen Namen zugelegt – den des Titels.
Der ist vielsagend – jede*r darf selbst herausfinden, warum. Eine Freundschaft
entwickelt sich, der Rechtsanwalt übernimmt Mariposas Vermögensverwaltung und
macht ihn auch mit seiner Verlobten bekannt, die anfangs von der Hässlichkeit
des neuen Bekannten angewidert ist, sich aber doch an ihn gewöhnt. Denn er hat
ein freundliches Wesen und ist hochintelligent. Allerdings wird er nicht, wie sein
Freund von ihm erwartet, in der Kunst oder Philosophie Großes leisten, sondern
er zieht sich auf ein einsames Landgut in der Steiermark zurück und widmet sich
dort – äußerst erfolgreich – der Schmetterlingsforschung. Der Kontakt wird
etwas lose, bis Mariposa ankündigt, zu einer langen Entdeckungsreise
aufzubrechen. Der Verlobten, in die er sich wohl selbst heimlich verliebt hat,
sendet er eines Tages ein erstaunlich geflügeltes Tier, eine wissenschaftliche
Sensation, doch lässt er weiterhin nichts von sich hören. Als der Rechtsanwalt
wie versprochen sich bei Gelegenheit mal auf dem Landgut umsieht, kommt ihm das
Verschwinden Mariposas seltsam vor, tatsächlich ergeben seine Nachfragen, dass
dieser das Haus wohl nie verlassen hat. Derweil geht in der Region ein seltsam
geflügeltes Wesen um und reißt den Viehbestand, während andererseits Frauen und
Mädchen auf mysteriöse Weise verschwinden. Mit Hilfe eines Professors, dem
früheren Lehrmeister Mariposas, kommen der Anwalt dessen Geheimnis auf die Spur: in
einem Selbstexperiment hat sich dieser in einen riesigen menschlichen Schmetterling
verwandelt. Doch der Versuch ging schief: das Tier hat einen hohen
Geschlechtstrieb und ist vor allem ein unersättlicher Fleischfresser. Es bleibt
nur, den verwandelten Mariposa zu jagen. Oswald Levett (1884-1942) gehörte
lange zu den großen Rätseln der deutschsprachigen Literatur, nur wenig war über
ihn bekannt. Die Vermutung, ihn mit den Prager Kreisen um Kafka und Brod,
später mit den Wienern, vor allem mit Leo Perutz, dem großen Meister der
Phantastik, zu verbinden, erwies sich als zutreffend. Sein „Papilio Mariposa“,
1935 erschienen, ist – leider – nur eines von zwei überlieferten Werken, aber
es ist eine faszinierende Geschichte mit Parabelcharakter, der Versuch des
ausgestoßenen Juden, sich zu verwandeln, eine neue Identität anzunehmen, der
grausam scheitert. Geschrieben im nüchternen Stil der Neuen Sachlichkeit, mit
vielen Anspielungen – auf Thomas Mann, die Psychoanalyse –, ist der Roman
längst reif für die Wiederentdeckung. Levett wurde 1942 von den Nazis in einem
Lager in Belarus ermordet, es wird Zeit, diesen außergewöhnlichen Romancier für
sein Werk zu ehren.
Alexander
Kluge: 30. April 1945.
„Der
Tag, an dem Hitler sich erschoß und die Westbindung der Deutschen begann“, so
der Untertitel
dieser Chronik eines einzigen Tages, in der typischen Manier der
jüngeren Werke von Alexander Kluge (geboren 1932), als Sammelsurium von quasi-,
halb- oder echt dokumentarischen Episoden, die sich nicht mit den großen
Ereignissen, sondern den Auswirkungen auf den Einzelnen auseinandersetzen. Der
kann durchaus berühmt, bekannt oder völlig nebensächlich sein, aber irgendwie
mit den Geschehen jenes Tages verbunden, aktuell oder auch als Folge, Kluges
Netz spannt sich ausgehend von jenem Datum bis in die unmittelbare Gegenwart.
Die berühmte Frage, was ist hier authentisch, was Fiktion, ist wie stets
irrelevant, den Tatsachen sind die Möglichkeiten mithineingewebt, ein
Verfahren, dass man zum Beispiel schon aus „Die Lücke, die der Teufel lässt“
kennt. Viele der kurzen Berichte sind geprägt von Absurditäten, die ein solcher
später Kriegstag in einem zerfallenden Reich – und nicht nur dort –
unweigerlich mit sich bringt, der noch dazu gleichbedeutend ist mit dem Ende
einer Terrorherrschaft, beides macht jedoch diese Erfahrungen für die Einzelnen
existentiell, das Absurde wird zur lebensgefährlichen Bedrohung. Unterstützung
hat sich Kluge durch Reinhard Jirgl geholt, der in Zwischenepisoden, die sich
durch seinen etwas prätentiösen Stil auszeichnen, weitere Schicksale schildert.
Das macht Kluges Buch zu einer anderen Erfahrung als nur eine weitere
Schilderung eines Untergangszenarios. Aufgelöst in Multiperspektivität ergibt
sich ein neuer, anderer Blick auf das Geschehen an jenem Tag, der einen
Epochenbruch einleitete.
Karine
Tuil: Douce France.
Die
junge Schriftstellerin zuckt noch jedes Mal zusammen, wenn sie die Worte:
„Polizei. Ausweiskontrolle!“ hört, eine Art genetischer Hinterlassenschaft
ihrer Eltern, die einst als Juden nach Frankreich eingewandert waren. Dabei
haben weder diese noch sie selbst etwas zu befürchten, sie sind längst
eingebürgerte französische Staatsbürger. Und als sie dann doch zufällig in
einem Laden in eine Razzia nach illegalen Einwanderern gerät, hat sie nicht
dieses Angstgefühl, im Gegenteil, ohne recht zu
realisieren warum, gibt sie
sich, nachdem ihre Papiere nicht auffindbar sind, spontan als Rumänin aus (der
Roman wurde vor dem EU-Beitritt Rumäniens geschrieben). Sie wird mit einigen
anderen in ein Abschiebegefängnis nahe am Flughafen abtransportiert. So genau
begreift sie selbst nicht, warum sie dies tut, ist es ihre schriftstellerische
Neugier, eine gewisse Hilflosigkeit, Abenteuerlust? Die Behörden sind
jedenfalls allzu schnell bereit, ihr ihre falsche Geschichte zu glauben. Ein
fehlender Ausweis ist gleichbedeutend mit Nicht-Französin, mit Illegalität und
Millionen von möglichen Geschichten, für die sich niemand interessiert. In
Abschiebehaft wird sie keineswegs schlecht behandelt, sondern gleichgültig,
routiniert, als altbekannter Vorfall. Das Leben dort ist zwar nicht wie in
einem richtigen Gefängnis, aber trotzdem ist die eigene Person dort endgültig
irrelevant geworden. Einschränkungen bürokratischer Art, das Leben auf engem
Raum mit Menschen aller Nationen, die sich nicht gut miteinander verständigen
können oder wollen, und die sich auch nicht unbedingt verstehen, Solidarität
ist keine hilfreiche Eigenschaft. Trotzdem schließt sich die Protagonistin
einem Weißrussen an, weil er ihr hilft – und sie ihm – und weil er sie auch
fasziniert. Erst spät merkt sie, dass hier niemand der ist, der er zu sein
scheint – wie sie selbst ja auch nicht. Lügen und Verstellungen sind Teil,
sogar Notwendigkeit des Überlebensplanes. Die Maschinerie funktioniert dagegen
perfekt: für die vermeintliche Rumänin steht schon ein Platz im
Abschiebeflugzeig bereit. Nun wird ihr das Ganze doch zuviel, sie beruft sich
auf ihre französische Staatsbürgerschaft, was nun natürlich niemand mehr
glauben will. Erst die Kontaktaufnahme mit ihrer Familie hilft ihr aus der
Situation – da ist sie schon in Rumänien. Ihr enttäuschter und verwirrter Vater
stellt natürlich ebenfalls die Kardinalfrage: Warum hast Du das gemacht? Für
die Schriftstellerin brachte die Erfahrung als Kurzzeitillegale ihre eigene
Herkunft als arrivierte Migrantin der zweiten Generation tiefer zu Bewusstsein,
ein nur scheinbar privilegiertes Dasein, dass ihre Eltern mit viel Anpassung,
Zurückhaltung und auch Verleugnung mühsam aufgerichtet haben – und von dem sie
immer noch fürchten, es verlieren zu können (durch Aktionen wie die ihrer
Tochter). Vor allem aber wird ihr klar, dass ihre Berichte aus dem Inneren des
Abschiebegefängnis auf taube Ohren stoßen werden, dass diese Parallelwelt und
ihre Insassen niemand interessiert, dass diese Schicksale akzeptiert werden
können, weil sie allgemein ignoriert werden. Karine Tuils (geboren 1972) Roman
erregte große Aufmerksamkeit in Frankreich, ihre nachfolgenden Bücher wurden
noch größere Erfolge. Basierend auf eigenen Recherchen ist es vor allem der
nüchterne Stil, der den Text auszeichnet und ihn damit vor reiner
gutbürgerlicher Betroffenheitsprosa oder pseudoauthentischer Sozialpornographie
bewahrt, eher schon zeigt sich die eigene Verwirrung über eine unbekannte Welt,
die neben uns existiert und die wir stillschweigend akzeptiert haben. Den
genauen Blick, den Karine Tuil sich hier erlaubt, ersparen wir uns für
gewöhnlich, weil er verstört und wir nicht gestört werden möchten.
Helmut
Eisendle: Exil oder Der braune Salon.
Wieder
einer der kurzen Romane von Helmut Eisendle (1939-2003), wieder hat er wenig zu
tun mit einem klassischen Roman. Oder anders:
„Ich
kenne das Buch und war enttäuscht.
Wieso?
Ja,
diese vier Personen – und das hat mich gestört – sind völlig unwirklich, es
sind gleichsam vier Sprachsysteme, die sich überschneiden, die miteinander in
Kommunikation treten. Nichts geschieht, keine Handlung, keine Entwicklung, es
wird geredet, geredet, erzählt ohne Sinn und Ziel. Das Ganze ist
sprachimmanenter Unsinn, jenseits der Vernunft. Gespräche über den menschlichenVerstand, wobei Verstand eben etwas ist, das nicht zu fassen, nicht zu
definieren ist. Nonsens aus der Flasche. In dem Moment, wo die Figuren
schweigen, gibt es sie nicht mehr. Die Personen haben keine Geschichte, man
erfährt nichts Persönliches über sie, sie sprechen; die Wirklichkeit geht an
ihnen vorbei.“
Eisendle
über Eisendle, oder noch genauer: Eine der genannten geschichtslosen Personen
über den Roman – und andere von Eisendle – und damit über sich selbst. Der
Autor nutzt die literarischen Möglichkeiten, um in ironischer Brechung, wenn
auch zugegeben nicht gerade subtil, der typischen Kritik am avantgardistischen
Schreiben den Wind aus den Segeln zu nehmen. Tatsächlich stimmen die Vorwürfe:
keine Handlung, keine Entwicklung, die vier Protagonisten, die sich im
titelgebenden Braunen Salon zum Billardspielen treffen, stehen nicht für
Individuelles, sondern für verschiedene Denksysteme, die sie anhand bestimmter
Themen, etwa der Utopie, miteinander diskutieren. Leser und Leserin werden
dadurch zum fünften Mit-Denker und das ist das Reizvolle an dem Text, dem es
wie schon in „Jenseits der Vernunft“ gelingt, nicht trockene Theorie in Figuren
hineinzupressen, sondern spannende und lebendige Argumentation zu liefern.
Eckhard
Henscheid: Maria Schnee.
Dem
Mitglied der Neuen Frankfurter Schule Eckard Henscheid (geboren 1941) haben wir
solche Klassiker wie das Lexikon „Dummdeutsch“ und die „Kulturgeschichte der
Missverständnisse“ (zusammen mit Gerhard Henschel und Brigitte Kronauer) zu
verdanken, abgesehen von ungezählten Satiren und Artikeln natürlich. Eher ein
Nischendasein führt sein rein literarisches Schaffen, obwohl er gerade von
vielen Schriftstellerkolleg*innen hoch geschätzt wird. „Maria Schnee“ hat einen
einfachen Plot: Ein nicht mehr ganz junger Wanderer kommt in einer Kleinstadt
irgendwo im oberpfälzisch-fränkischen Grenzgebiet an, um dort in einem ihm
empfohlenen Gasthaus zu übernachten. In den folgenden 24 Stunden beobachtet er
die Gäste und Wirtsleute – und die ihm begegnenden Tiere. Geprägt ist sein
Aufenthalt von einer ständigen Unsicherheit: Was ist von den diversen Gästen zu
halten, warum sind die Gasthausbesitzer so unerklärlich nett zu ihm? Ist es
wirklich eine gute Idee, hier zu übernachten, wäre es nicht besser, noch
weiterzulaufen? Wird der Club durch die verschiedenen Abgänge in der nächsten
Saison in Abstiegsgefahr geraten? Dass unser Protagonist, mit dem viel geredet
wird, obwohl er selbst kaum spricht, leicht paranoid ist, wird gleich eingangs
klar, da er sich aus uns unbekannten Gründen vor einem blau gekleideten Mann
fürchtet und überhaupt hat die Atmosphäre des Gasthauses, obwohl dort kaum für
eine solche Gastwirtschaft auf dem Land Atypisches passiert, etwas
Beklemmendes. Dass er dort bleibt, aber nicht übernachtet, was wiederum niemand
bemerkt, gehört zu den leisen Ironien des Textes, ebenso wie der Ausbruch aus
dem Dorf, der nur durch einen ebenso kuriosen wie plötzlichen Vorfall ermöglicht
wird. Eine Art Gaststubenkammerspiel mit einem eigenen Stil irgendwo zwischen
einem Thomas-Bernhard-Roman in der nüchternen Sprache Kafkas, an den auch die
kleinen grotesken Einbrüche in das banale Alltagsgeschehen erinnern, das
unmotivierte, nie erklärte Verhalten der Personen. Erstaunlich, wie schnell man
in diesen quasi ereignislosen Roman hineingezogen wird.
Don
DeLillo: Falling Man.
Nimmt
man die us-amerikanische Taschenbuchausgabe zur Hand, dann beginnt diese mit –
was nicht ungewöhnlich ist – ganzen zehn Seiten an Zitaten aus positiven
Rezensionen mehr oder minder
bekannter Presseorgane des Landes. Diese – oder
zumindest die ausgewählten Ausschnitte – feiern geradezu enthusiastisch Don DeLillos (geboren 1936) Roman über den 11.September 2001, den er 2006
verfasst hatte. Nun, so nah noch am Geschehen über dieses ein fiktionales Werk zu
schreiben, ist immer auch ein Wagnis, andererseits wird dies wiederum von einem
bestimmten Publikum erwartet, eher dem Feuilleton, denn der Leserschaft, möchte
man vermuten, und die genannten Kritiken spiegeln dies wohl nur zu deutlich
wider. DeLillo, der hier seine übliche äußerst verschachtelte und komplexe Art
des Schreibens stark zurücknimmt – auch dies ein Indiz für die Ausrichtung auf
ein breiteres Publikum – schildert am Anfang und Ende Ereignisse aus dem
Inneren der zusammenbrechenden Türme, dazwischen anhand eines Pärchens und
einiger Nebenfiguren die Auswirkungen der Terroranschläge auf den und die
Einzelne*n. Er, Keith, war im Büro und entkam, wobei sein Verhalten während und
auch nach den Ereignissen von vielen Momenten der Irrationalität geprägt ist –
dazu gehört auch, dass er spontan zu seiner Frau, Lianne, von der er längst
getrennt lebt, zurückkehrt. Plötzlich bildet sich wieder so etwas wie eine,
wenn auch äußerst fragile, Familie. Lianne versucht die Ereignisse indirekt in
der von ihr geleiteten Schreibgruppe zu verarbeiten und in Diskussionen mit
ihrer Mutter und deren Freund, einem deutschen Kunstagenten mit
undurchschaubarer Vergangenheit. Eingeblendet werden zudem noch Einblicke in
das Denken der Terroristen selbst. Das Schließen der Wunde durch Neubildung der
Familie gelingt jedoch nicht, jedenfalls nicht dauerhaft. Keith wird kein
komplett neuer Mensch, er betrügt seine Frau mit einer ebenfalls dem Inferno
entkommenen Kollegin, der Sohn ergeht sich in verdrängenden Spielen, letztlich
wird Keith ein leidenschaftlicher und mittelmäßiger Pokerspieler und Lianne
entdeckt die Religion wieder für sich. Das überbordende Lob für den Roman
erklärt sich, wie angedeutet, wohl hauptsächlich aus dem Verlangen nach den
Worten eines der großen amerikanischen Gegenwartsautoren, und der
Erleichterung, mit DeLillos Text diese nun vorliegen zu haben. Der Roman selbst
bleibt in vielem banal, zwar liegt der Verdienst darin, sich auf einzelne
Personen zu konzentrieren und deren Verhalten nach dem 11. September zu
beleuchten – die großen politischen Auswirkungen kommen nur immer wieder mal
am Rande vor – aber die Erkenntnisse, die daraus gewonnen werden, sind kaum
überraschend. Keith lebt in dem Gefühl nichts mehr zu verlieren zu haben und
wird deshalb endgültig zum Spieler in einer On/Off-Familienbeziehung. Nun gut.
Und Lianne entdeckt irgendwie am Ende – den christlichen – Gott. Das wäre eine
kontraproduktive Ironie der Anschläge, die aber nicht eingetreten ist. Dem
französischen Autor Frédéric Beigbeder, der schon zwei Jahre nach dem Angriff
mit „Windows on the World“ einen Roman über diese veröffentlicht hat, wurde
unter anderem wegen einer Szene, in der ein Pärchen im Turm während des Moments
des Einschlags bewusst Sex hat, Geschmacklosigkeit vorgeworfen, worüber man
durchaus trefflich streiten kann, DeLillo bringt tatsächlich Sätze wie die
eines der Opfer, dass durch die einsetzende Sprinkleranlage durchnässt wurde
und dies entgeistert mit „I was wet all through“ beschreibt, in Verbindung mit
sexuellen Phantasien, was definitiv geschmacklos und ziemlich peinlich ist. Vorweggenommen
reflektiert er sein Vorgehen aber bereits selbst in der Titelfigur, dem
„Falling Man“, einem Performance-Künstler, der sich fast ungesichert in
Büroklamotten kopfüber an Stellen herunterhängen lässt, die möglichst abrupt in
der Wahrnehmung der Zuschauer*innen auftauchen sollen, etwa an einer
Bahnstrecke. Ist das eine adäquate Erinnerung an die sich aus den Türmen
stürzenden Menschen? Ist es plumpe Aufmerksamkeitserregung? Oder eben eine
zynische Geschmacklosigkeit? Das dürfen sich auch die Leser*innen des Romans
fragen.
Max
Hermann-Neiße: Schattenhafte Lockung.
„Ein
deutscher Dichter bin ich einst gewesen/Nun ist mein Leben Staub wie mein
Gedicht“, so lautet eine Zeile aus einem späten Werk Max Hermann-Neißes
(1886-1941), geschrieben bereits im Exil – und leider immer noch wahr. Ein
typischer Vertreter der Zwischenkriegszeit, in der Weimarer Republik mit großen
Erfolgen, wurde der Lyriker nach der Vertreibung, Ausbürgerung und der damit
einhergehenden künstlerischen Isolation so gut wie vergessen. Obwohl immer
wieder Versuche unternommen wurden, sein Werk wieder in den Fokus der
Aufmerksamkeit zu rücken, etwa durch die Gesamtausgabe, der auch unser Band entstammt,
ist dies, anders etwa als bei der poetisch nicht ganz unverwandten Mascha
Kaléko bislang jedoch nicht gelungen. Es wäre wünschenswert, wenn das zumindest
zwischenzeitlich vorhandene Interesse an den 1920er Jahren, hervorgerufen durch
die Fernsehserie „Babylon Berlin“, hier eine Veränderung herbeiführen würde.
Denn Max Hermann-Neiße ist, wie erwähnt, ein klassischer Vertreter dieser
Epoche. Erstaunlicherweise schien er schon ein Lyriker der Neuen Sachlichkeit
zu sein, als diese noch lange nicht absehbar war. „Schattenhafte Lockung“
versammelt verstreute, ursprünglich nicht in Buchform veröffentlichte Gedichte
der Jahre 1900 bis 1923. Schon die frühesten Verse klingen wie aus den 20er
Jahren, der Jüngling Max Hermann, der seine haßgeliebte Heimatstadt in seinen
Namen mit aufnahm, schrieb keine modische Dekadenzlyrik, sondern nüchterne,
unpathetische Beschreibungen, wie sie später in der Nachkriegszeit Allgemeingut
wurden. Erst mit dem Krieg kommen stärkere Einflüsse des Expressionismus zum
Tragen, persönlichere Gefühle wie Todessehnsucht und religiöse Verzweiflung,
bevor dann wieder stärker das sarkastisch-bittere Beschreiben in den
Vordergrund tritt – nun sozusagen auf der Höhe der Zeit, die er längst
vorweggenommen hatte. Max Hermann-Neißes Spießbürgerportraits, seine
unsentimentalen, schonungslosen, manchmal ironischen Schilderungen des
Städtelebens, die erotischen Sehnsüchte und Karikaturen auf die Republikfeinde,
all das in oft klassischen, eingängigen Formen wie dem Sonett, aber auch für
Kabaretts als Gesangseinlagen geschrieben, sind noch immer mit großem Gewinn zu
lesen. Gerade, dass ihnen das Überdramatische der Lyrik des frühen 20. Jhs
fehlt, dass sie die einfache Form bevorzugen, um ihre Kritik zu üben und
dadurch eine hohe Eingängigkeit und Lesbarkeit erreichen, sollte ihnen und
ihrem Autor eigentlich viele Leser*innen verschaffen. Die Hoffnung besteht ja
noch immer.
Italo
Calvino: Der geteilte Visconte.
Der
junge Visconte Medardo di Terralba zieht mit Enthusiasmus zur Unterstützung der
kaiserlichen Truppen in den Türkenkrieg,
dabei die zahlreichen bösen Vorzeichen missachtend. Es kommt, wie es kommen
musste: Der unerfahrene Medardo wird bei einem Frontalangriff auf eine Artilleriestellung
von einer Kanonenkugel komplett zerrissen. Und das buchstäblich. Als die
Feldscher seine Überreste einsammeln wollen, stellen sie mit Erstaunen fest,
dass er noch lebt. Die Ärzte des Feldlagers setzen alles daran, ihn zu retten –
oder besser: das, was von ihm übrig ist. Und das ist buchstäblich nur die Hälfte.
Und zwar die rechte. Einbeinig, einarmig, einäugig kommt Medardo in seine
heimatliche Herrschaft zurück und hinterlässt nicht nur überall seltsame
Zeichen – stets säuberlich vorhandene Hälften an Obst, Gemüse, Tieren etc. –
sondern es stellt sich leider auch heraus, dass es nicht die bessere Hälfte
war, die zurückkehrte. Medardo ist von bösartiger Grausamkeit, er terrorisiert
seine Untertanen, seine Familie. Hat Freude nur an aufwendigen – und oft
genutzten – Galgenkonstruktionen, an grausamen Spielchen und am Zündeln. Selbst
das Mädchen, in das er sich verliebt, möchte er nur haben, um sie einsperren zu
können. Wer kann, entflieht seinen Quälereien, bis er sich eines Tages
urplötzlich gewandelt zu haben scheint: von geradezu übermenschlicher Güte und
Freundlichkeit, ist Medardo überall da zur Stelle, wo Hilfe benötigt wird. Bald
löst sich das Rätsel, es wird klar, auch die andere, die bessere Hälfte hat
überlebt. Doch gemeinsam können sie nicht herrschen, der linke Medardo ist
sogar zu gutmütig, um ein bereits ausgereiftes Komplott zum Sturz seiner
anderen Hälfte zu unterstützen, prompt werden die Verschwörer vom bösen Medardo
hingerichtet. Lösung kann nur Pamela, das von beiden begehrte Mädchen, bringen.
Es kommt zum Duell zwischen den beiden halben Medardos. Eine der typischen
absurden Parabeln Italo Calvinos (1923-1985), die Märchenhaftes mit
Realistischem und Humor vereinen und dadurch menschliche Konflikte auf sehr leicht
zugängliche Art, aber keineswegs oberflächlich schildern. Ein italienischer
Klassiker.
Ian
McEwan: Kindeswohl.
Vor
einiger Zeit haben wir einen Band Erzählungen aus der Frühzeit Ian McEwans
(geboren 1948) vorgestellt, als er noch ein junger Provokateur und nicht der
angesehene Großschriftsteller unserer Tage war. Nun, in diese letztgenannte
Phase fällt der Roman „Kindeswohl“, anno 2015 erschienen. Fiona Maye ist eine
hohe Richterin am Familiengericht, die sich mit den oft bitterbös geführten
Prozessen von Menschen beschäftigen muss, die sich eigentlich nahestehen oder
-standen. Die juristische Kunst liegt hier vor allem darin, sich in die
Gefühlswelten der diversen Parteien hineinzuversetzen und sich gleichzeitig aus
ihnen herauszuhalten, was Maye bislang erfolgreich gelungen ist, sie genießt
hohes Ansehen für ihre ausgewogenen Urteile. Das liegt auch daran, dass sie
stets ihre Distanz wahrt, ohne dadurch unempathisch zu sein, aber auch an der
Ruhe ihres Privatlebens als gewissermaßen sicherer Alternative. Diese gerät nun
ins Schwanken, als ihr Ehemann mit ihrem Wissen eine Affäre beginnen möchte. Plötzlich
ist eine unerwartete Ehekrise vorhanden, auf die sie kaum anders reagiert als
die oft zerstrittenen Parteien vor ihrem Richterinnenstuhl. Dabei muss sie sich
andererseits auf den schwierigen Fall eines fast volljährigen Jungen
konzentrieren, der an Leukämie erkrankt aus religiösen Gründen die
lebensrettende Bluttransfusion verweigert. Faye scheint es zu gelingen, den
Jungen und letztlich auch ihre Ehe zu retten. Scheint. Ein äußerst unbefriedigendes
Buch. McEwan schreibt gewohnt routiniert, vermutlich zu routiniert, gut zu
lesen, alles nachvollziehbar und in sich logisch, aber trotzdem schal. Die
Richterin entscheidet in den diffizilen Fällen stets genauso, wie man es mit
den Gründen der Vernunft erwarten würde. Dass ist in einem Zeitalter, in dem
längst nicht mehr von allen die Vernunft als Maßstab anerkannt wird, zwar
äußerst tröstlich und muss vielleicht inzwischen extra betont werden, aber es
ist auch erwartbar und reichlich unkontrovers. Die sympathische Richterin fällt
sympathische Urteile, wie beruhigend. Dazu passt auch die geschilderte private
Krise. Wer bitte soll das alberne Motiv des Ehemanns, er möchte, mit
Einverständnis seiner Gattin, einfach noch einmal eine leidenschaftliche Affäre
mit einer jüngeren Frau erleben, nur so zwischendurch, ohne weitere
Konsequenzen, nur Sex, als nachvollziehbar und eben nicht als plumpen Egoismus gutheißen?
Das ist nicht nur schlecht motiviert, sondern ebenfalls kein Konflikt, der zu
einer inneren Abwägung, zu einer offenen Diskussion führen kann. Die
Schlusspointe, dass auch gutgemeintes Handeln zu schlimmen Konsequenzen führen
kann, ist dann schließlich auch eher banal. Liest man so durch und stellt es
dann mit einem Achselzucken ins Regal.
Caught
Between Cultures: Colonial and Postcolonial Stories.
Der
Band mit Erzählungen versammelt, für den Unterricht an Schulen und
Universitäten, in drei Abschnitten Erlebnisse aus und nach dem Britischen
Empire. Der erste Bereich widmet sich den Erfahrungen der Kolonisten zu Zeiten
des späten Empire, Autor*innen sind hier Vertreter*innen der weißen Schicht,
ohne Ausnahme Klassiker: Joseph Conrad, William Somerset Maugham, George Orwell
und Doris Lessing, alle mit direktem Hintergrundwissen, sei es im aktiven
Dienst für die Kolonialbehörden, als Siedler oder als Reisender. Ihre Geschichten
offenbaren vor allem die grundsätzliche Sinnlosigkeit des Unternehmens
Kolonisierung: es ist ein System, das beidseitig nur Leid verursacht. Dass dies
für die unterworfenen und ausgebeuteten Völkern gilt, ist – entgegen alter und
manch neuer Propaganda – ohnehin unzweifelhaft. Dass aber auch die weiße
„Herrenschicht“ in dieser Ordnung nur sich selbst zugrunde richtet, in der
fremden, unwirtlichen Gegend, in der man sich die örtliche Bevölkerung zum
Feind gemacht hat, in der man stets darauf achten muss, keine Zweifel an der
eigenen Überlegenheit aufkommen lassen zu dürfen, was im Notfall nur mit
Brutalität gelingt, all das zeigen die Erzählungen vom Scheitern dieser
Repräsentant*innen einer vermeintlich höheren Kultur – sei es indirekt oder,
wie bei Orwell, das eigene Handeln reflektierend. Im zweiten Abschnitt sind es
Autor*innen ehemaliger Kolonien, R.K. Narayan, Chinua Achebe und Ngugi wa
Thion’go, die – teils buchstäblich – vom Vorbeireden und Unverständnis der
aufeinandertreffenden Kulturen berichten, aber auch vom fatalen Einfluss, den
das aufgepropfte „höhere Wissen“ und die neue Religion des Christentums haben
konnten. Im letzten Abschnitt widmen sich Muriel Spark, Qaisra Shahraz, Hanif
Kureishi und Salman Rushdie den Folgen der Kolonisation lange nach deren
Aufhebung – sei es im ehemaligen „Mutterland“ Großbritannien, sei es in den
früheren Ländern des Empire. Hier ist es vor allem der Konflikt zwischen
angepasster Integration und Bewahrung des eigenen kulturellen Erbes, selbst in
den nachfolgenden Generationen – und
damit sind wir bei einem der brennenden Probleme der Gegenwart angekommen. Der
Band verschafft einen breiten und auch für das anvisierte Publikum – aber nicht
nur dieses – gut lesbaren Überblick, hat aber gleichwohl ein Manko. Er präsentiert
keinen literarischen Vertreter, der sich positiv(er) zur Kolonisation äußert,
wie etwa Rudyard Kipling. Das wäre wünschenswert gewesen, natürlich nicht, um
im Nachhinein Verklärung zu betreiben, sondern um an solch einem Text die
Argumentation der Befürworter kritisch aufzeigen zu können, die es schließlich
bis hin zu den Intellektuellen ebenfalls gab. Gerade an der Verführbarkeit
durch solche vermeintlichen Vorteile der Kolonisation und der Herausstellung
des eigenen überlegenen Standpunktes lassen sich ja die Gefahren durch diese
Art des Denkens am besten aufzeigen – und entlarven.