Martin
Walser: Tassilo – Hilfe kommt aus Bregenz.
Niemand
Geringeres als Bruno Ganz verkörperte Anfang der 1990er Jahre Martin Walsers
(geboren 1927) halbseidenen Friedrichshafener Privatdetektiv Tassilo S. Grübel
in den Verfilmungen des ZDF. Kuriosum dabei, dass die Vorlagen für ein anderes
Medium gedacht waren – und auch dort ausgestrahlt wurden –, denn die
Tassilo-Geschichten waren ursprünglich Hörspiele. So auch „Hilfe kommt aus
Bregenz“, wo es Tassilo gelingt, mit Hilfe einer frustrierten jungen Frau
seinen Intimfeind, dem neureichen Unternehmer James Blickle, der wenig von
Privatdetektiven allgemein und noch weniger von der Friedrichshafener Ausführung im Speziellen hält,
den er gern in aller Öffentlichkeit demütigt, hereinzulegen. So zumindest der
Plan. Er überzeugt die von Männern der Art Blickles enttäuschte Evi, diesen zu
verführen und für ein Wochenende in den Bergen abzulenken, während Tassilo bei
dessen Ehegattin anruft, diese als vermeintlicher Linksterrorist um 55000 DM erpresst,
am Ende wird mit einem noch beteiligten Freund, der die Geldübergabe
inszeniert, geteilt. Tatsächlich läuft die Sache gut an, doch rechnet Tassilo
nicht damit, dass Frau Blickle, soeben selbst von ihm mit verstellter Stimme
erpresst, ausgerechnet bei ihm Hilfe sucht. Die Geldübergabe geht zwar noch
gut, aber dann hat sich Evi auch noch in ihr ‚Opfer‘ Blickle verliebt… Ganz
amüsant, allerdings ohne wirklich so richtig zu zünden.
A.L.
Kennedy: Das blaue Buch.
Ein
junges Pärchen wartet vor einem Kreuzfahrtschiff, für das sie eine Reise
geschenkt bekommen haben, in der sich kaum fortbewegenden Schlange. Ein
Mitpassagier redet sie an, etwas aufdringlich, um ihnen ein paar Zahlentricks
vorzuführen, Spielereien, mit denen er dann auch andere Wartende beglückt. Auf
dem Schiff taucht er scheinbar zufällig wieder in ihrer Nähe auf, überredet sie
zum gemeinsamen Essen. Als Derek, Beths Freund, kurz abwesend ist, spricht der
Fremde, der sich als Arthur Lockwood vorgestellt hatte, sie auf eine äußerst
vulgäre und intime Art an. Derek wird, die See ist stürmisch, kurz darauf
seekrank, er muss in der Kabine bleiben, unleidlich, wenn er nicht gerade
schläft. Beth trifft auf Deck wieder Arthur Lockwood – und es stellt heraus, dass die beiden eine lange gemeinsame
Geschichte haben. Lockwood verdient sein Geld – nicht wenig Geld – als moderner
Spiritist. Früher trat er in Sälen auf, seine stark entwickelte Fähigkeit
nutzend, seine Gegenüber gut einschätzen zu können, aus vagen Andeutungen und
mit suggestiven Fragen Lebensläufe und meist traumatische Ereignisse zu
erschließen. Seine Assistentin und damalige Freundin: Beth. Zwar hatte man sich
vor längerer Zeit getrennt, Lockwood hat seine Methode weiterentwickelt, um
sich Einzelpersonen als eine Art psychologischer Therapeut mit Hilfe des
Jenseits anzudienen, doch nun verfällt Beth bald wieder der Anziehung des
Manipulateurs. Auch sie hat einiges von ihm gelernt und glaubt selbst, Herrin
der Lage zu sein. Ein Ausweichen und Anziehen beginnt. Klingt spannender, als
es ist. A.L. Kennedy (geboren 1965) gestaltet ihre männlichen Figuren so
unsympathisch, dass selbst ihre Protagonistin darunter leidet, weil man sich
fragen muss, was sie wohl an dem betrügerischen, das Leid anderer Menschen
ausnutzenden Arthur – der immerhin so halbe Gewissensbisse entwickelt – oder an
Derek findet, der, auch ohne krank zu sein, mürrisch und egozentrisch ist und
sofort in den übelsten Beschimpfungsjargon wechselt, wenn ihm etwas nicht passt.
Beides sind zudem äußerst larmoyante Personen, insbesondere aber Arthur, stets
wird betont, wie schlecht man füreinander sei, wie man sich Schmerz zufüge,
gerade auf das Ende hin gerät der Ton immer näher ans Kitschige. Dies retten
weder die leicht prätentiösen postmodernen Spielereien (etwa mit den
Seitenzahlen) noch die überraschende – den Titel erklärende – Schlusspointe,
die reichlich unmotiviert daherkommt. Kennedy kann unzweifelhaft auf hohem
Niveau klug und spannend schreiben, aber in diesem Fall war das Talent
verschenkt.
Halldór
Laxness: Das wiedergefundene Paradies.
Eines
Tages wirft die Stute des Bauern Steinar vollkommen unerwartet ein
wunderschönes graues Pony, von solcher Vollkommenheit, dass die Familie
dahinter höhere Machte vermutet. Das Tier ist nicht nur der Liebling seiner
beiden Kinder, sondern auch bald begehrtes Objekt der bessergestellten Elite.
Doch Bauer Steinar lehnt das Angebot des liberalen Bezirksvorstehers ebenso ab
wie das des reichsten Mannes der Region, Björn von Leirur. Er hat anderes mit
dem Tier vor. Wie viele Isländer, selbst wenn sie nur, wie er, verarmte Bauern
sind, ist er stolz auf seine vermeintlich hohe Abkunft von halbmystischen Königen
und ehrt die Traditionen, noch dazu ist Steinar jemand, der hinter seiner
scheinbar naiven Unfähigkeit, ja oder nein zu sagen, doch genau weiß, wonach er
strebt. So reist er mit dem Pferd zu einem Empfang des dänischen Königs auf
Island, der die Insel in jener Zeit – wir sind in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts – beherrscht. Auf dem Weg dorthin trifft er auf einen
Mormonenprediger, der von den Einheimischen nicht angehört, sondern verprügelt
wird. Für Steinar ist das nur eine Episode, zwar gelingt es ihm tatsächlich,
zum König vorzudringen und diesem das Pferd zu schenken, doch außer
freundlichem Dank erwächst hieraus vorerst nichts. Auch als er ein
geheimnisvolles Kästchen mit versteckten Fächern und kaum zu öffnenden
Schließmechanismen baut, das er auf Einladung des Königs in Kopenhagen
vorführt, geht sein Plan nicht auf. In seiner Vorstellung, geprägt von uralten
Mythen, hätte ihm der Herrscher hierfür mindestens große Menge Land und den
Grafentitel schenken müssen. Doch Steinar trifft nur den Mormonenprediger
wieder und schließt sich diesem an, um letztlich in dessen verheißenen
gottgewollten Staat das Glück in den USA zu finden. Seiner Familie gibt er nur
Bescheid, dass sich seine Rückkehr verzögert. Mit fatalen Folgen. Björn von
Leirur ruiniert seinen Hof und schwängert seine Tochter. Tochter, Sohn und Frau
sinken verstreut in der Region zu Gemeindearmen herab. Steinar etabliert sich
zwar in Utah als Ziegelbauer, doch muss er feststellen, dass auch hier
keineswegs das vollendete Paradies herrscht, bedroht vom säkularen Staat außen
und Zwistigkeiten im Inneren. Er holt die Reste seiner Familie herüber
– seine Frau stirbt auf der Überfahrt – doch selbst reist er als Prediger
zurück nach Island. Um dort vor den überwachsenen Grundmauern seines einstigen
Hofes zu stehen. Ein klassischer Laxness (1902-1998): Der Nobelpreisträger
verknüpft wahre Ereignisse der isländischen Geschichte in ganz eigener, leicht
altertümelnder, aber unangestrengt schöner Sprache mit den großen Themen der
Heimatlosigkeit, der Verankerung in und der Lähmung durch die Tradition, der
Religion und der Toleranz, die man für sich erhofft und anderen nicht gönnt.
Anni
Ernaux: Die Jahre.
Mit
etwas Verzögerung wurde Annie Ernaux (geboren 1940), vorher nur Liebhaber*innen
der zeitgenössischen französischen Literatur bekannt, aber bei diesen längst ein
Geheimtipp, nun auch der breiten deutschsprachigen Öffentlichkeit bekannt. Der
‚Türöffner‘ war erstaunlicherweise ein sehr französisches Buch, „Die Jahre“,
eine Autobiographie vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklungen
unseres Nachbarlandes aus der Alltagssicht einer Frau. Man könnte meinen, dass
solch ein Buch, das nun mal zumindest halbwegs profunde Kenntnisse der
französischen Innenpolitik, von hierzulande kaum bekannten Personen und auch
der von der deutschen sehr verschiedenen Pop- und Konsumkultur voraussetzt, nur
bedingt – bei besagten, immerhin doch recht zahlreichen Frankophilen – auf
breiteres Interesse stößt, sowie in Frankreich vermutlich kaum jemand die
beklemmend steife Atmosphäre der Adenauer-Jahre
genauer nachvollziehe könnte. Doch stellt man einerseits beim Lesen schnell
fest, dass die Unterschiede oft weit oberflächlicher sind, vor allem aber
andererseits, was Ernaux immer wieder betont, wiederum eine solche Oberfläche
existiert, die ein tieferes Nachdenken oft gar nicht erlaubt. Die Ereignisse
kommen und sie erscheinen uns im Nachhinein wichtig und bedeutend, aber in der
damaligen Wahrnehmung herrscht anderes vor, was das Geschichtsbuch als großen
Einschnitt und Umbruch festhält, wird privat kurz oder gar nicht registriert und
verschwindet dann wieder, mitsamt dem dazugehörigen Engagement. Und dies ist
schließlich kein Frankreich-spezifisches Phänomen. In ihrer Nüchternheit,
ausgedrückt durch das distanziert verallgemeinernde „man“ oder das von sich
selbst Abstand nehmende „sie“ beim Betrachten von Aufnahmen, die sie selbst
zeigen, hält Ernaux insbesondere am Anfang und Ende ihres Textes
Erinnerungsfetzen und -sätze fest, die für sie Bedeutung haben, Bruchstücke,
die zumeist äußerlich banal sind. Nostalgie ist ein zwiespältiges Gefühl, es
verklärt oder deprimiert, und für gewöhnlich wertet es die Gegenwart ab.
Ernaux‘ Buch ist natürlich nostalgisch, aber auf eine sehr ungewöhnliche,
ständig reflektierte Weise, eine Sehnsucht nach der Vergangenheit entsteht
nicht, allenfalls der Versuch, einzelne Momente festzuhalten, die persönliche
Bedeutung haben. Die Frage – für jede*n – bleibt dann, was man mit diesen
anfängt. Ein großartiges Buch, jetzt schon ein Klassiker.
Rolf
Dieter Brinkmann: Westwärts 1&2.
Ein
Gedichtband vom Anfang der 1970er Jahre aus der Feder des sicherlich
bedeutendsten Lyrikers jenes Jahrzehnts, Rolf Dieter Brinkmann (1940-1975), der
seine Meisterschaft auch mit diesem Band noch einmal, kurz vor seinem Tod, mehr
als untermauerte. Brinkmann war streng in der Form und hat sie doch aufgelöst.
Das kurze Gedicht war seine Sache nicht, seitenlang gehen oft die Strophen, die
auch untereinander auseinanderfallen, formal und inhaltlich. Das
zugrundeliegende Thema fächert sich auf in scheinbar Unzusammenhängendes, auf
den ersten Blick Disparates wird kombiniert, Fetzen zusammengestellt, was dann
wiederum die sich verzweigende Form widerspiegelt. Wörter fallen auseinander
wie Satzenden – und doch sind die Gedichte von klarer Struktur. Cut-Up steht
neben schönen vierzeiligen Strophen. Auch die Titel sind oft so banal wie
paradigmatisch: „Ein Gedicht“, „Bruchstück Nr.3“, „Eine Komposition“. Aber
allein das erwähnte „Gedicht“ ist von so überwältigender Großartigkeit in dem
Versuch, kein Gedicht zu sein, dass allein dieses Brinkmanns Gedächtnis
gesichert hätte. Brinkmanns Lyrik ist manchmal – wie er es im Vorwort gewünscht
hat – sehr eingängig, ohne anbiedernd zu sein, manchmal sehr hermetisch,
anstrengend, allerdings auf angenehme Art, die einen doch in den Sog der Texte
hineinzieht. Hinzugefügt hat Brinkmann dem Band eigene Fotos von ähnlicher
Natur: banal und doch geheimnisvoll, unzusammenhängend und doch verwandt. Noch
einmal ein Höhepunkt deutscher Lyrik.
Hubert
Selby: Letzte Ausfahrt Brooklyn.
Es
ist kein Roman, sondern eine Reihung sehr unterschiedlich langer Erzählungen,
die lose durch den Ort – ein ‚Problemviertel‘ in Brooklyn – und einige Personen
verbunden sind, 1964 erstmals erschienen, in einigen Ländern, darunter
Großbritannien, umgehend verboten, heute ein Klassiker. Eine fast typische
Geschichte. Allerdings hat „Letzte Ausfahrt Brooklyn“ von seinem
Skandalcharakter kaum verloren, es gehört nicht zu den Büchern, wo man sich im
Nachhinein wundert, was die Menschen einst so aufgeregt hat. Möglicherweise
haben wir uns inzwischen an Selbys (1928-2004) unverblümte Ausdrucksweise
gewöhnt, vielleicht, aber hoffentlich eher nicht, auch an die ungeschönte
Darstellung von Brutalität, verstörend bleibt die äußerst nüchterne, sich
völlig der Wertung enthaltende Erzählweise, in der Jugendliche aus Langeweile
Menschen zusammenschlagen, das Interesse der Männer oft nur auf den nächsten
Sex konzentriert ist, Kinder nichts als schwer erträglicher Ballast zu sein
scheinen, moralische, aber auch die ganz banale Korruptheit Alltag ist, aus dem
auch niemand so recht den Willen aufbringt, auszusteigen. Dass Selby solche
Gegenwelten ohne jegliche Romantisierung – darunter das homosexuelle
Transvestitenmilieu oder seine Schilderung des Innenlebens von Sozialwohnungen
– in die Literatur eingeführt hat, brachte ihm das Lob der
Schriftstellerkollegen ein und den Hass der bürgerlichen Kritik. Verfilmt wurde
das Buch übrigens Ende der 1980er Jahre unter deutscher Regie (Uli Edel),
produziert von Bernd Eichinger. Der Erfolg war überschaubar, ganz anders als
beim späteren Selby-Klassiker „Requiem for a Dream“ (2000, Darren Aronfosky),
in beiden Adaptionen hatte der Autor einen kurzen Auftritt. Nicht unbedingt das
Buch für einen gemütlichen Winterabend, aber unbedingt lesenswert.