Dienstag, 26. Mai 2020

Zeugnis einer mutigen Frau: Ricarda Huchs Brief an die Sektion für Dichtkunst.


Am 14. Februar 1933 hatte Heinrich Mann einen Aufruf zur Bildung einer sozialistischen Einheitsfront aus KPD und SPD zur Bekämpfung der neuen deutschen Regierung Hitler unterzeichnet. Er tat dies als engagierter Schriftsteller, nicht in seiner Funktion des Vorsitzenden der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste, doch lieferte er damit eben jener Regierung den Vorwand, ihn aus dieser Position zu entfernen.
Die Aufsicht über diese - noch junge, erst 1926 gegründete - Institution hatte nämlich, da es sich um eine staatliche Einrichtung handelte, das preußische Kulturministerium, zu diesem Zeitpunkt unter kommissarischer Leitung des Nationalsozialisten Bernhard Rust. Die Mitglieder der Sektion, schon immer gespalten in einen konservativ bis völkischen und einen progressiven, republikanischen Teil, setzten dem Druck von oben, Heinrich Mann zum Rück- und Austritt zu bewegen, den dieser auch vollzog, keine einheitliche Position entgegen, man schwankte zwischen Akzeptanz, Aussitzen und - in der Minderheit - Protest. Die laue Positionierung führte schlußendlich zum Austritt weiterer Mitglieder, darunter Heinrichs Bruder Thomas Mann, ein enormer Verlust für das Ansehen der Akademie. Dass Unterbinden einer scharfen Protestnote ging vor allem auf das Betreiben von Gottfried Benn zurück, der sich auch im Folgenden als die maßgebliche Figur in der vorweggenommenen Gleichschaltung der Sektion für Dichtkunst erwies, dabei unterstützt vom Präsidenten der Gesamtakademie, dem Komponisten Max von Schillings. 
Benn formulierte eine Erklärung in der Art einer Ergebenheitsadresse, die von den verbliebenen Mitgliedern der Sektion einzeln unterzeichnet werden sollte: "Sind Sie bereit, unter Anerkennung der veränderten geschichtlichen Lage weiter ihre Person der Preußischen Akademie der Künste zur Verfügung zu stellen? Eine Bejahung dieser Frage schließt die öffentliche politische Betätigung gegen die Regierung aus und verpflichtet sie zu einer loyalen Mitarbeit an den satzungsgemäß der Akademie zufallenden nationalen kulturellen Aufgaben im Sinne der veränderten geschichtlichen Lage." Der Wortlaut dieser Mischung aus selbstauferlegtem Maulkorb und Anbiederung an das Regime sollte naturgemäß auch dazu dienen, unliebsame Mitglieder möglichst elegant loszuwerden, von denen man im Voraus annehmen konnte, dass sie sich weigern würden, solch eine Erklärung abzugeben. 18 Ja-Antworten trafen ein, manche aus Überzeugung, manche (wenige), in der Hoffnung, damit erst einmal eine erste Phase der Unruhe überstehen zu können, Hermann Bahr war zu krank, um zu antworten, Rudolf Pannwitz und Thomas Mann erklärten ihre Ablehnung und ihren Austritt, Alfons Paquet lehnte ebenfalls ab und wurde daraufhin ausgeschlossen, René Schickele wollte nähere Erläuterungen, trat dann aber ebenfalls aus. Jakob Wassermann hatte wie auch Alfred Döblin - berechtigte - Zweifel, ob seine Mitarbeit aufgrund seiner jüdischen Herkunft überhaupt erwünscht sei, letzterer erklärte die Niederlegung seiner Mitgliedschaft. Dem unschlüssigen Wassermann wurde die Entscheidung abgenommen, als er wie alle anderen verbliebenen jüdischen Mitglieder kurz darauf der Akademie verwiesen wurde. Leonhard Frank, über dessen - ablehnende - Haltung kein Zweifel bestehen konnte, beantwortete das Schreiben nie, worauf man ihn ebenfalls hinauswarf.
Und dann war da noch Ricarda Huch. Sie lehnte die Loyalitätserklärung ebenfalls ab, was die Akademieführung ähnlich schmerzte wie der Abgang Thomas Manns. Anders als bei diesem glaubte man aber bei der tendenziell konservativen, wenn auch in jeder Hinsicht unabhängigen Ricarda Huch, damals fast 70 Jahre alt, womöglich einen Stimmungsumschwung herbeiführen zu können. Akademiepräsident Max von Schillings schrieb ihr dreimal, doch änderte dies nichts an Huchs Haltung. Ihr letzter Brief ist ein großes Zeugnis einer mutigen Denkerin, die sich von niemandem vereinnahmen lassen wollte, und der im Tonfall und im Inhalt nichts an Klarheit zu wünschen übrig ließ. Er steht für eine der wenigen aufrechten Bekenntnisse jener Tage, verfasst am 16. März 1933:                         

"Lassen Sie mich zuerst Ihnen danken für das warme Interesse, das Sie an meinem Verbleiben in der Akademie nehmen. Es liegt mir daran, Ihnen verständlich zu machen, warum ich Ihrem Wunsche nicht entsprechen kann.
Daß ein Deutscher deutsch empfindet, möchte ich fast für selbstverständlich halten; aber was deutsch ist, und wie Deutschtum sich betätigen soll, darüber gibt es verschiedene Meinungen. Was die jetzige Regierung als nationale Gesinnung vorschreibt ist nicht mein Deutschtum. Die Zentralisierung, der Zwang, die brutalen Methoden, die Diffamierung Andersdenkender, das prahlerische Selbstlob halte ich für undeutsch und unheilvoll. Bei einer so sehr von der staatlich vorgeschriebenen abweichenden Auffassung halte ich es für unmöglich, in einer staatlichen Akademie zu bleiben. 
Sie sagen, die mir von der Akademie vorgelegte Erklärung werde mich nicht an der freien Meinungsäußerung hindern. Abgesehen davon, daß 'eine loyale Mitarbeit an den satzungsgemäß der Akademie zufallenden nationalen kulturellen Aufgaben im Sinne der veränderten geschichtlichen Lage' eine Übereinstimmung mit dem Programm der Regierung erfordert, die bei mir nicht vorhanden ist, würde ich keine Zeitung oder Zeitschrift finden, die eine oppositionelle Meinung druckte. Da bleibt das Recht der freien Meinungsäußerung in der Theorie stecken.
Sie erwähnen die Herren Heinrich Mann und Dr. Döblin. Es ist wahr, daß ich mit Herrn Heinrich Mann nicht übereinstimmte, mit Herrn Dr. Döblin tat ich es nicht immer, aber doch in manchen Dingen. Jedenfalls möchte ich wünschen, daß alle nichtjüdischen Deutschen so gewissenhaft suchten, das Richtige zu erkennen und zu tun, so offen, ehrlich und anständig wären, wie ich ihn immer gefunden habe. Meiner Ansicht konnte er angesichts der Judenhetze nicht anders handeln als er getan hat.
Daß mein Verlassen der Akademie keine Sympathiekundgebung für die genannten Herren ist, trotz der besonderen Achtung und Sympathie, die ich für Herrn Dr. Döblin empinde, wird jeder wissen, der mich persönlich aus meinen Büchern kennt. 
Hiermit erkläre ich meinen Austritt aus der Akademie."

Ricarda Huch zog sich aus der Öffentlichkeit zurück, blieb aber in Deutschland und überlebte trotz Nöten und Repressalien das "Dritte Reich" und den Krieg. 
Die zurückgetretenen Mitglieder*innen wurden durch völkische, rechtsnationale und konservative Autor*innen ersetzt, die heute alle fast vollständig und zurecht vergessen sind. Nicht nur wegen ihrer damaligen Haltung, sondern vor allem auch wegen ihrer bestenfalls mediokren literarischen Leistungen. Dies gilt nicht für Gottfried Benn, der für seinen intriganten Kurs, seine öffentliche Parteinahme für den Nationalsozialismus und seine lautstarke Verunglimpfung emigrierter Kolleg*innen vom Regime keinewegs, wie erhofft, zur geistigen Führungskraft erkoren, sondern später selbst fallengelassen und als krankhafter Autor geschmäht wurde. Zu ihm hat Klaus Mann letztlich alles gesagt, was zu sagen ist. 
      
Der Brief ist zitiert nach:
Inge Jens: Dichter zwischen rechts und links. Die Geschichte der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste dargestellt nach Dokumenten. München: 1979, S. 211. 
            

Freitag, 15. Mai 2020

Suhrkamps Romane des Jahrhunderts (18): Peter Weiss - Die Ästhetik des Widerstands.




Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands. st 2777

Es gehört zu den Rätseln der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur mit gewissen tragischen Zügen, dass Peter Weiss (1916-1982), der mit Theaterstücken wie „Die Ermittlung“ und „Marat“ die Bühne äußerst erfolgreich revolutioniert hat, dessen Prosaband „Abschied von den Eltern“ zur Schullektüre wurde und der sich gesellschaftlich stark engagierte, im Bewusstsein der Öffentlichkeit anders als seine Zeitgenossen Martin Walser, Günter Grass oder Siegfried Lenz, über einen kleinen Kreis hinaus nicht vorhanden ist. Dies gilt – leider – nicht minder für sein großes Romanprojekt, das in drei Teilbänden 1975, 1979 und kurz vor seinem Tod 1981 erschien: Die Ästhetik des Widerstands. Wer sich von dem zwar etwas spröden, doch zugleich ebenso treffenden wie faszinierenden Titel oder gar dem Umfang von fast exakt 1200 Seiten abschrecken lässt, begeht einen enormen Fehler – die Leser*innen der Ästhetik des Widerstands mögen nur ein kleiner Kreis sein, für sie aber wurde der Roman das, was heute mit dem inflationären Begriff „Kultbuch“ belegt wird. Wenn die Schüler sie fragen würden, ob ein Buch einen Menschen wirklich zum Handeln bringen könne, würde sie all die Bücher aufzählen, die es fertiggebracht hatten, in einem Menschen den Drang nach Handlung zu wecken (1156), eine Hoffnung, die Weiss sicher auch mit seinem Buch verband.
Wie in seinen Theaterstücken auch, leicht macht Weiss den Leser*innen den Zugang nicht. Zwar bedient er sich einer realistischen Erzähltechnik, doch ist der Text absatzlos fortlaufend, nur hin und wieder tritt ein erkennbarer Abschnitt ein, die Dialoge sind äußerlich nicht unterscheidbar von den Beschreibungen. Auch inhaltlich scheint Weiss sofort hohe Hürden aufzubauen, indem er mit einer Diskussion über Kunst und sogenannter Ekphrasis beginnt, detailreicher Beschreibung eines Kunstwerks – natürlich ist dies programmatisch, der Titel muss, in diesem Falle auf dem vorderen Teil betont, immer als Leitmotiv im Gedächtnis bleiben. Trockene Gelehrtenprosa ist Weiss’ Sache gleichwohl nicht, er setzt sofort sein Hauptanliegen in Sprache um, indem er die Auseinandersetzung und Betrachtung um den Pergamon-Fries in Berlin drei junge Arbeiter führen lässt – drei kommunistisch geprägte Männer um die Zwanzig (11), die 1936 aus dem antiken Kunstwerk Rückschlüsse ziehen wollen auf ihre Aufgabe: den Widerstand gegen Nationalsozialismus. Wer dies für eine absurde Verbindung hält, dem wird Weiss vorführen, wie falsch er mit solchem Schnellschluss liegt, wie kurz gedacht solch ein Abtun ist – und er wird es mehrfach, an zahlreichen Kunstwerken, die eben für ihn eine Ästhetik des Widerstandes verkörpern, manchmal mal als der dahinterstehende Künstler, von neuem belegen. Es gehört zu seiner grundlegenden Motivation, die Kunst und Literatur als vermeintlich Elitäres, nur dem Gebildeten, dem Akademiker Zugänglichen aus dieser oft bewusst errichteten Nische herauszuführen, sie der Allgemeinheit zurückzugeben und gegen Vorurteile auch von Seiten der arbeitenden Schichten zu verteidigen – deshalb hat es, wie erwähnt, etwas geradezu Tragisches, dass Weiss selbst, wie man eingestehen muss, es nicht geschafft hat, selbst eine breitere Wirkung zu entfalten.
Einmal hatten wir uns wütend davon losgesagt, dass die Lektüre eines Buchs, der Besuch einer Kunstgalerie, eines Konzertsaals, eines Theaters für uns mit zusätzlichem Schweiß und Kopfzerbrechen verbunden wäre. Inzwischen gehörten die Versuche, der Sprachlosigkeit zu entkommen, zu den Funktionen unsres Daseins, was wir dabei fanden, waren erste Artikulierungen, es waren Grundmuster, von denen aus das Verstummen überwunden und die Schritte in einen kulturellen Bereich vermessen werden konnten (67), durch die Schwere der Arbeit und des Alltags wollen sie sich nicht mehr durch die Eliten – und deren überlegene Möglichkeiten – vom eigenständigen Denken abhalten lassen, sie argumentieren gegen das Klischee vom sinnlosen Beschäftigen mit der Kunst, Kultur wird ihnen zur schwer erkämpften Erkenntnismöglichkeit gegen das Elitäre – um es zu entlarven. Und dies gerade in Zeiten der Bedrohung: Selbst wenn unsere Gespräche dann alltäglich schienen oder sich zu sammeln begannen, immer waren sie beschwert durch die Nähe einer tödlichen Gefahr (33). Gesucht wird das Widerständige auch in scheinbar längst auserklärten, dem Bildungsbürger vertrauten, ihn beruhigenden Klassikern wie dem erwähnten Pergamonfries, dem „Floß der Medusa“ von Géricault oder, einem Leitmotiv des Romans, der Figur des Herakles. Während die Aristokraten ihre Denker zu immer größeren Anstrengungen trieben, um sich die fernen Taten des Herakles zu ihrem Vorteil ausmalen zu lassen, sprachen die Eigentumslosen von ihm als dem ihren (29) – das hohe Reflexionsniveau des Buches, das skeptische Hinterfragen der eigenen Erkenntnisse und Entwicklung, wiederum ein Hauptkennzeichen des Werkes, zeigt sich auch unter anderem daran, dass diese Positionen nicht festgeschrieben werden; steckt unter der Erzählung über Herakles wirklich die Geschichte eines Aufbegehrens oder ist dieser nur ein Inspirator des Kolonialismus (391), ein Ehrgeizling, der den Göttern und Kaufleuten gar zu pass kam, die ihn schließlich aufnahmen beziehungsweise zu ihrem Schutzherrn erkoren? Gestaltet und geschult werden die Fragen aber nicht nur in der Betrachtung vergangener Kunstwerke, sondern – im zweiten Band – auch bei der aktiven Verfertigung, beispielhaft bei der Entstehung eines Stückes von Brecht.
Ein Stück, das nie vollendet werden wird. Weiss lässt keinen Zweifel daran, wie notwendig die Ästhetik des Widerstands ist, dass sie eine Sinngebung für das geistig integere Überleben darstellt – doch ebenso wenig Zweifel lässt er daran, wie ambivalent dieses Vorhaben ist, wie undurchschaubar, teils hoffnungslos und in der Mehrheit der Fälle zum Scheitern verurteilt. Eine genaue Lektüre allein der allerersten Seite des Romans, Beginn der Beschreibung des Pergamonfrieses, offenbart eine Fülle an Wendungen der Verletzbarkeit, des Gebrochenen und Besiegten: zu Fragmenten zersprengt, Torso, geborstnen Hüfte, verschorften Brocken, hier und da ausgelöscht, ein zerschundnes Gesicht, mit klaffenden Rissen, leer starrenden Augen, nah seinem verwitterndem Ende, mürbe Bruchstücke, raue Stümpfe, zu rohem Oval gespaltener Kopf, zerstückelten Hände, im stumpfen Fels ertrinkenden Flügel (alle 9). Dies ist programmatisch. Selbst die drei zugrundeliegenden historischen Ereignisse der jeweiligen Bände spiegeln diese – vermeintliche – Vergeblichkeit wider: die Niederlage gegen den Faschismus im Spanischen Bürgerkrieg, die ständige Bedrohung mit Ausweisung im schwedischen Exil und der Abschluss des Hitler-Stalin-Paktes sowie die Entdeckung der Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“ und die folgende Hinrichtung ihrer Mitglieder – deren Beschreibung uns Weiss in seiner akribischen Manier nicht erspart, ein unglaublich eindringliches Stück Literatur. Zwar Endet der Roman mit der Niederlage der Nazis, wirft aber den Blick voraus auf den Kalten Krieg, billigen Trost spendet er nicht.
Ebenso wenig wie einfache Erklärungen und Denkmuster. Der Einsatz im Spanischen Bürgerkrieg wird nicht geprägt von den äußeren Kämpfen, sondern von den Querelen innerhalb der Internationalen Brigaden. Diese ziehen sich durch den gesamten Text, liegt doch die Schwäche des Widerstandes nicht nur in der geringen Anzahl der Mutigen, sondern auch in deren Uneinigkeit, geprägt durch die Vorgaben aus Moskau, das dem Protagonisten statt Orientierung nur Verwirrung verheißt. Die Stalinschen Säuberungen, die Sabotage der Volksfrontbestrebungen, die Anbiederung an den Hitlerstaat durch den Nichtangriffspakt 1939, die ständige Denunziation verdienter Genossen, deren Verschwinden, Selbstmord oder offenkundige Ermordung, ein Klima der Unfreiheit selbst im kleinen Kreis, Misstrauen musste dem begegnen, dessen Ansichten nicht mit dem bestimmten Muster übereinstimmten (277). So wie Weiss für eine Ästhetik des Widerstandes schreibt, so schreibt er auch gegen die Umdeutung, das Kaschieren und Klittern, was wir festhalten wollten, war bereits von einem dichten Gewebe lügenhafter Geschichtsschreibung umhüllt, die Vorgänge standen im Begriff, zwischen Mythen unterzugehen, und es galt dies für beide Seiten, die unsre und die des Gegners (636). Dem setzt Weiss sein eigenes, subjektives, aber um Objektivität bemühtes dichtes Gewebe entgegen, das uns das Negative nicht erspart, sondern dieses in das Projekt, am Widerstand festzuhalten, mit integriert, denn eines hat immer zu gelten: Allen war die Fähigkeit gegeben nachzudenken (419).


Vorgänger (Teil 17): Max Frisch - Homo Faber.

Mittwoch, 6. Mai 2020

Lektüremonat April 2020.



Boris Pasternak: Doctor Zhivago.

Es ist seltsam, der Name Dr. Schiwago (so in der deutschen Übersetzung, uns liegt der englische Text vor) löst heute eher Schnilf-Schnalf-di-Schnulf-Melodien aus oder Bilder eines Liebespaares mit Pelzmützen in der verschneiten russischen Taiga. Unzweifelhaft hat die Hollywood-Verfilmung den Roman längst überdeckt. Der hat seinem Autor einst Ruhm und Auszeichnungen in der gesamten Welt gebracht und viel Ärger und Demütigung in der russischen Heimat. Bekanntlich dürfte Boris Pasternak (1890-1960) den ihm 1958 verliehenen und von ihm bereits akzeptierten Literaturnobelpreis auf Druck der sowjetischen Regierung nicht annehmen. Dass dem Regime der Roman nicht gefiel, wird keine*n Leser*in überraschen. Zhivago, ein gebildeter, nebenher unter anderem Lyrik schreibender Arzt, der in der zaristischen Armee des Ersten Weltkriegs diente, gerät in vielerlei Hinsicht zwischen die Fronten des ausbrechenden Bürgerkriegs zwischen Roten und Weißen – aber auch in das Dilemma seiner gleichzeitigen Liebe zu Lara und seiner Frau. Trennungen bestimmen fortan sein Leben, Wechsel und Unsicherheiten. Auf der schier endlosen Flucht mit dem Zug aus Moskau nach Sibirien kommt die Familie nur in zähester Langsamkeit voran, die Lage ist oft unklar, erstmals läuft Zhivago Gefahr, von den Sowjets aufgrund seiner bürgerlichen Herkunft erschossen zu werden. Schließlich aber gelangt man auf dem Land bei entfernter Verwandtschaft an. Doch die Sicherheit ist trügerisch. Zhivago wird als Mediziner von einer roten Partisanentruppe zwangsrekrutiert. Wieder werden seine Loyalitäten in Frage gestellt, er versorgt die Roten, tötet sogar feindliche Soldaten, doch entflieht er schließlich und marschiert über Hunderte Kilometer zurück. Statt der Familie trifft er jedoch in der vom Bürgerkrieg verwüsteten, halbverlassenen Gegend Lara wieder. Und auch dieses Zusammenleben hat keinen Bestand. Auch Lara hat mit Loyalitäten zu kämpfen – ihr Ehemann ist ein opportunistischer Kämpfer auf Seiten der Roten, nun, wie der Deserteur Zhivago, in Gefahr durch die Sieger, die einen zweifelhaften Mitwisser loswerden wollen. Zhivago verliert Lara und seine Familie, die nach Frankreich ins Exil abgeschoben wurde. Er kehrt nach Moskau zurück und führt eine kümmerliche Existenz, er findet sich in der neuen Zeit nicht mehr zurecht, geht eine weitere Ehe ein und stirbt durch einen Unfall, kaum noch beachtet. Es ist ein langsames Verschwinden, das dem pessimistischen Roman Pasternaks ein Ende setzt. Die wenig schmeichelhafte Darstellung der Roten Armee, ihrer brutalen Kämpfer und ihrer Verbrechen, der nun gar nicht irgendeinem sozialistischen Heldentypus entsprechende Protagonist und sein Niedergang ohne Wandlung zum Sowjetmenschen mussten die Zensur auf den Plan rufen. 1987 wurde das Verbot in der Sowjetunion aufgehoben, 1989 holte Pasternaks Sohn den Nobelpreis in Stockholm doch noch ab.

Louis Begley: Der Fall Dreyfus.  

Untertitel: Teufelsinsel, Guantánamo, Alptraum der Geschichte. Louis Begley (geboren 1933) vereint seine beiden Berufe des Juristen und Schriftstellers hier einmal nicht zu einem Roman, sondern zu einem historischen Bericht über den Fall des jüdischen Hauptmannes im Generalstab Alfred Dreyfus, der 1894 als angeblicher Spion in mehreren Prozessen dank manipulierten Beweismaterials erst zu lebenslanger Haft auf der karibischen Teufelsinsel, später abgemildert zu mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt wurde. Er wurde nie freigesprochen, sondern begnadigt. Der offensichtliche antisemitische und antirepublikanische Justizskandal, in den höchste Kreise des Militärs verstrickt waren, spaltete die Gesellschaft Frankreichs in Dreyfusards – hauptsächlich Intellektuelle – und Antidreyfusards auf Seiten der Rechten, konservativer Katholiken und des Militärs. Zwar ging die Republik nach zähem Ringen letztlich gestärkt aus der Affäre hervor: der Einfluss des Militärs auf die Politik wurde zurückgedrängt, Kirche und Staat endgültig getrennt, doch saß die Erbitterung auf beiden Seiten tief. Viele Anti-Dreyfusards sahen ihre Ideale später im Vichy-Regime verwirklicht. Begley bereitet den Fall akribisch und gut nachvollziehbar auf, seine juristische Expertise kommt ihm hierbei – und uns Leser*innen – zugute. Das zweite Kapitel, in dem er Parallelen zum Amerika der George-W.-Bush-Jahre zieht, kann dagegen nicht sonderlich überzeugen. Zwar sind seine Argumentationen gegen eine Legitimation von Folter, fragwürdiger Militärgerichtsverfahren, Sondergerichtbarkeiten und Gefängnisse auf zweifelhafter rechtlicher Basis an und für sich nur zu gerechtfertigt, die Verknüpfung mit der Dreyfus-Affäre scheint dafür aber eher künstlich – und ist zudem gar nicht nötig. Am stärksten ist das Buch in der Schilderung der Affäre selbst und ihrer Charaktere und Motive. Das eingeschobene Kapitel über Guantánamo – auf das auch später gar nicht mehr eingegangen wird – wirkt etwas verloren, das abschließende über die literarische Verarbeitung der Affäre etwas bruchstückhaft. Trotzdem sehr lesenswert.   

Wilhelm Hauff: Lichtenstein.

Gemeinsam mit Ludwig Uhland, Gustav Schwab und Justinus Kerner gehörte Wilhelm Hauff (1802-1827) zur sogenannten schwäbischen Romantik, einer spätromantischen Richtung, die sich dem Biedermeierlichen annäherte. Hauff zitiert – bis auf Kerner – diese „Kollegen“ recht eifrig, nur Schiller, ebenfalls ein Landsmann, tritt ähnlich häufig auf, von den klassischen Romantikern dagegen vielsagenderweise keiner. Es ist äußerst reizvoll, den kürzlich vorgestellten letzten Roman von Ludwig Tieck Vittoria Accorombona (1840) mit dem Werk seines jüngeren Zeitgenossen von 1826 zu vergleichen, schließlich gelten ja beide als Romantiker. Zudem handelt es sich bei beiden Texten um historische Romane aus dem 16. Jh., was aber nur eine recht lose Gemeinsamkeit ist. Interessanter ist da schon die literarische Entwicklung, Tieck ist ein „Altmeister“, der die gesamte Epoche durchlebt hat und nun im Alter schreibt, Hauff ist inmitten der Romantik aufgewachsen und noch sehr jung, aber bereits literarisch äußerst erfolgreich – als Tieck Vittoria Accorombona veröffentlicht, ist Hauff allerdings seit 13 Jahren tot. Doch der Unterschied zwischen den beiden beträgt, was Können und Qualität angeht, Welten. Hauffs Roman entspricht einem populäreren und gewissermaßen naiven Verständnis von Romantik – was ihn und die schwäbischen Kollegen, neben anderen Aspekten, über lange Zeit, anders als Novalis, Schlegel oder eben Tieck zu Schulbuchklassikern werden ließ. „Lichtenstein“ ist die Geschichte eines jungen fränkischen Ritters, der seiner heimlichen, aber erwiderten Liebe zum adeligen württembergischen Fräulein von Lichtenstein wegen sich dem Schwäbischen Bund anschließt, der gerade zu einem Feldzug gegen den württembergischen Herzog Ulrich aufbricht. Doch es stellt sich heraus, dass der Vater des Mädchens, den der Ritter beeindrucken wollte, nicht dem Bund, sondern treu dem Herzog anhängt. Ritter Georg wendet sich vom Bund ab, um schließlich über einige Umwege in die Dienste des geschlagenen Herzogs überzutreten. Mit ihm erobert er das Land – kurzzeitig – zurück und langfristig – und dauerhaft – seine große Liebe. Nichts in dem Buch Hauffs überrascht. Wer dreißig Seiten gelesen hat, kann sich den Rest selbst denken. Dasselbe gilt für die Figuren. Es sind festgelegte, gleich beim ersten Auftreten mit wenigen Zügen charakterisierte Personen, die keine Veränderung mehr erfahren. Hauff war bekanntlich auch ein erfolgreicher Märchenautor – und die dort geltenden Prinzipien wendet er auch hier an: unveränderliche Charaktere auf einem vorgezeichneten Plot, der aber nur durch verschiedene Hindernisse zum Ziel führt, darunter die üblichen Verwechslungen und Missverständnisse. Aber es hat einen Grund, warum Märchen zu den literarischen Kurzformen zählen und keine 400 Seiten haben. Hauffs Probleme zeigen sich mehrfach an seiner eigentlichen Hauptfigur, Herzog Ulrich. Er ist der einzige, der zwischenzeitlich eine scheinbare Charakteränderung erfährt (die allerdings schlechtem Einfluss zugesprochen wird, was selbst im Text nicht plausibel ist, weil die Veränderung schon vor der Begegnung mit seinem früheren Kanzler stattfindet). Geschuldet ist dies der historischen Figur des Ulrich, Hauff kommt trotz allem nicht umhin, gewisse Verhaltensweisen des Herzogs beizubehalten, um nicht vollends ungeschichtlich zu werden. Denn seine Wahl, Herzog Ulrich als Vorbild in den Mittelpunkt seines Romans zu stellen, ist der sicher kurioseste Fehlgriff des Romans. Hauff versucht ausgerechnet einen der übelsten Feudalherrscher seiner Zeit quasi zu rehabilitieren, einen, der es mit Verschwendung, Unterdrückung der eigenen Untertanen und Willkür bis hin zu Morden und Angriffen auf die Nachbarstaaten soweit trieb, dass er vom Kaiser abgesetzt und vertrieben wurde. Hauff aber scheint sein lokalpatriotischer Blick völlig die geradezu subversive Ironie verstellt zu haben, dass er einen brutalen autoritären Gewaltherrscher als Staatsoberhaupt empfiehlt, dem absolute Treue zu gelten hat. Im Jahr 1826 eine äußerst loyale und auf Ruhe bedachte Haltung, die sich gegen andere Strömungen wie das Junge Deutschland richtete. Diese Monarchentreue hat naturgemäß ebenfalls dazu beigetragen, dass Hauff aus den Schulbüchern lange nicht wegzudenken war. Jede Nebenfigur in Tiecks Vittoria Accorombona hat mehr Tiefe, ist von undurchschaubarer Ambivalenz, Überraschung wird bei ihm nicht suggeriert – man weiß bei Hauff manchmal nicht, ob er seinen Protagonisten Georg oder seine Leser*innen für die größeren Dumpfbacken hält –, sondern durch literarisches Können hergestellt. Tieck war alt, aber seiner Zeit weit voraus. Hauff war jung, aber seiner Zeit weit hinterher.     

Guy de Maupassant: Le Vagabond – Coco. 

Man wird Guy de Maupassant (1850-1893) sicher nicht vorwerfen können, dass er ein allzu verklärtes Bild von seinen Mitmenschen hatte. Ob in seinen Romanen oder seinen unzähligen Erzählungen, Maupassant hat sein begnadetes schriftstellerisches Talent hauptsächlich dazu genutzt, um zu schildern, wie sich die Menschen oft aus reiner Boshaftigkeit, aus Neid oder schlicht Dummheit das Leben gegenseitig zur Hölle machen. Es gibt wahrscheinlich wenig Autor*innen mit so einer desillusionierten Sicht auf seine Umwelt. Auch die beiden kurzen Geschichten in diesem für den Schulunterricht gedachten Bändchen sind hierfür beredte Beispiele. "Le Vagabond" ist Jacques Randel, ein junger Tischlergeselle aus der Normandie, der wie viele unter der Wirtschaftskrise leidet und, um seiner Familie nicht weiter auf der Tasche zu liegen, einem Hinweis folgt, „im Zentrum des
Landes“ gebe es noch Arbeit. Doch Randel findet dieses verheißungsvolle Zentrum nie. Stück um Stück gibt er seine Hoffnungen auf, erst Arbeit in seinem Beruf, dann überhaupt eine Anstellung zu finden, auch Hilfsarbeiten genügen bald nicht mehr zum Überleben. Als ihn zwei Dorfpolizisten wegen Vagabundierens festnehmen, ist er fast schon heilfroh. Im Gefängnis bekäme er wenigstens Unterkunft und Essen. Doch der Bürgermeister will keine Scherereien, er verweist Randel lediglich aus dem Ort. Als dieser außerhalb an einem Bauernhaus vorbeikommt, riecht er das dort bereitstehende Mittagessen. Die Bewohner sind abwesend in der Kirche, Randel steigt durch ein Fenster ein, isst sich satt und trinkt die Vorräte leer. Durch das üppige Mahl und den Alkohol völlig überdreht, vergewaltigt er eine ihm über den Weg laufende Magd. Wieder bekommt er es mit den beiden Polizisten zu tun… „Coco“ ist ein altes Pferd auf einem Hof, das über Jahre brav seine Dienste geleistet hat, weshalb der Bauer ihm sein Gnadenbrot gönnt. Zuständig ist der junge Stallbursche, der das Tier auf die Weide zu führen und zu versorgen hat. Diese wenig glanzvolle Aufgabe jedoch ist dem Burschen ebenso zuviel wie die dummen Sprüche seiner Kumpane, wenn er mit dem alten Gaul unterwegs ist. Und so quält er das alte Pferd, erst durch Steinewerfen aus Langweile, schließlich, indem er es immer mehr vernachlässigt. Irgendwann setzt er nicht einmal mehr den Pflock auf der Weide um, so dass Coco sehenden Auges auf die saftigen unerreichbaren Gräser elendiglich verhungert und stirbt. Ein altes Pferd stirbt, niemand macht davon Aufhebens. Sonst noch Fragen zum Menschenbild Maupassants?   

Angelus Silesius: Gesammelte Werke. 

Als Barockschriftsteller hat man es heutzutage schwer. Barockdramen sind dem Theaterpublikum kaum noch zuzumuten und schon gar nicht verfilmbar. Der einzige Barockroman, der überhaupt noch Beachtung findet, Grimmelshausens „Simplicissimus“, ist zwar in gut sortierten Buchhandlungen sogar nicht selten vorrätig, aber wie oft er über die Ladentheke geht und dann auch noch wirklich gelesen wird, überlässt man lieber der Phantasie. Barocklyrik gehört zur Pflichtlektüre im Schulunterricht, aber die immergleichen Gryphiusgedichte werden kaum eine*n pubertierende*n Mittelstufler*in zur exzessiven weiteren Lektüre verführen. Nun, es gibt eine bedeutende Ausnahme, in der Barockdichtung tatsächlich noch gut vertreten ist und sogar aktiv genutzt wird: im Kirchengesang. Nicht wenige noch heute in den Gebetbüchern beider Konfessionen zu findene Lieder entstammen der Epoche. Und dort trifft man auch auf Texte von Angelus Silesius (1624-1677), dem neben Friedrich Spee einzigen bedeutenden katholischen Dichter des Barock, wobei Silesius ein Konvertit war. Und von ihm gibt es tatsächlich ein Werk, dass noch heute seine geneigte, wenn auch ebenfalls natürlich überschaubare Leserschaft findet: „Der cherubinische Wandersmann“, eine Sammlung gereimter Aphorismen, das als letztes wichtiges Zeugnis der deutschen Mystik gilt. Darin enthalten sind eher traditionelle Lebensweisheiten oder die Wiederaufnahme früherer Gedankengänge, das Faszinierende an Silesius‘ Mystik sind die Stellen, die an fast ketzterische Paradoxie grenzen, wenn er Gott vom Menschen abhängig macht. Wie soviele seiner Vorgänger und Vorgängerinnen bewegt er sich hier auf dem schmalen Grat zwischen tiefster Einsicht und gefährlicher Häresie. Von öffentlichem Tadel seitens der Kirche blieb Silesius, später selbst Priester, verschont, vielleicht wegen seiner polemischen gegenreformatorischen Seite, die aus unserer Sicht nicht so recht zum sanften kontemplativen mystischen Denker passen will. Eher schon war es ein typisches Schicksal, dass er resigniert und zurückgezogen frühzeitig verstarb. Die gesammelten Werke fassen im ersten Band in etwas kurioser Manier nicht-literarische Dokumente zusammen, wobei nicht zwischen Texten von Silesius und über ihn (Urkunden, Polemiken von Gegnern etc.) unterschieden wird. Am seltsamsten ist vielleicht, dass man seine eigenen Vorworte aus den Werken herausgetrennt und gleich hier veröffentlicht hat. Am Verdienst, all diese Texte zusammengesucht zu haben, soll das natürlich nichts ändern, es ist nur eine etwas bizarre Form der Edition. Band zwei umfasst Jugendwerke und „Die heilige Seelenlust“, Silesius‘ eher traditionelle, aber gekonnte religiöse Lyrik, die vielfach vertont wurde. Im dritten Band dann “Der Cherubinische Wandersmann“ und mit der „Sinnliche[n] Beschreibung der vier letzten Dinge“, die da wären der Tod, das Jüngste Gericht und das Paradies, ein sehr barockes Genre als Vorbereitung auf das Sterben, wobei die ersten drei Betrachtungen an Drastik nichts zu wünschen übrig lassen. Der Herausgeber fand diese übrigens eher abstoßend und deutete sie als Zeichen des Verfalls von Silesius‘ geistiger Schaffenskraft – ein etwas wohl allzusehr vom heutigen Geschmack geprägtes Urteil, dass man keineswegs teilen braucht. Man muss sich in die Barockdichtung hineinfinden, man muss – und wird – auch nicht alles mögen, aber ein Gewinn ist es doch. 

Helmut Eisendle: Jenseits der Vernunft oder Gespräche über den menschlichen Verstand.

Wer weiß, dass Helmut Eisendle (1939-2003) zu den Grazer Schriftstellern gehörte – er war sogar gebürtiger Grazer – und dann sein Vorwort liest, der wird, nimmt er oder sie gar noch den sperrigen Titel hinzu, sich auf ein ebenso schwieriges, um nicht zu sagen, eher zähes Buch vorbereiten. Nun, ganz falsch ist das nicht, wie Eisendle selbst frühzeitig ankündigt – oder warnt – weder Handlung noch übliche Strukturen solle man von seinem Roman erwarten. So voreingestellt wird das sehr kurze Buch dann doch überraschen. Ja, es gibt eigentlich keine Handlung und nichts entwickelt sich, zwei Freunde führen bei viel Getränk oder bei Spaziergängen Gespräche. Die sind erwartungsgemäß alles andere als banal – der Titel fasst gewissermaßen den Inhalt zusammen, der vor allem anhand des urösterreichischen Themas der Sprachkritik verhandelt wird. Wittgenstein wird schon früh, Mauthner etwas später angeführt. Dabei repräsentieren die beiden Protagonisten eine skeptisch-pessimistischere und eine idealistischere Sicht der Dinge, ohne dass dies plump wirkt, wie es Eisendle überhaupt gelingt, alles andere als trocken zu schreiben, ohne dabei anbiedernd zu simplifizieren. Und er hat auch das richtige Gefühl dafür, dass eine solch komplexe Konstruktion nicht breitgetreten werden kann, daher die überschaubare Länge des Textes. Zeit für eine ironische Pointe am Ende hat er aber allemal. Es hat etwas zugleich Beruhigendes wie auch nostalgisch Trauriges, dass Bücher dieser Art einst in einem großen Verlag gedruckt werden konnten. Sicher, Österreicher*innen waren damals als Autor*innen gerade sehr gefragt, und dann schafft es Eisendle gar noch die ‚landestypischen‘ Themen Sprachkritik und Tod zu verknüpfen, aber es war gerade dank solcher Schriftsteller eine glückliche Zeit für die Literatur.  

Thomas Brussig: Am kürzeren Ende der Sonnenallee. 

…leben die Bewohner der Straße, die in ein sehr langes westliches und eben ein sehr kurzes östliches
Stück erst durch die Grenzziehung, dann zusätzlich die Mauer geteilt wurde. Und dazu gehört auch Micha mit seiner Clique und der großen Schulliebe Miriam, sie alle teilen das Leben direkt an Grenzübergang und Todesstreifen. Onkel Heinz aus dem Westen kommt und schmuggelt unter, wie er meint, Lebensgefahr, allerhand ohnehin legale Produkte ein, der Abschnittsbevollmächtige versaut sich erst selbst die Karriere, lässt dies dann an den – daran tatsächlich nicht ganz unschuldigen – Jugendlichen aus und Michas Mutter verfolgt mit allerlei Mitteln ihren Plan, ihren Sohn zum Kaderstudium nach Moskau zu bringen. Den interessiert eine elitäre Kaderkarriere eher wenig, jedenfalls viel, viel weniger als Miriam, die allseits Bestaunte. Ganz chancenlos scheint er trotz einiger Blamagen nicht, auch wenn die Angebetete lieber mit Westlern knutscht. Auch dank der Verfilmung durch Leander Haußmann wurde die „Sonnenallee“ zum Publikumserfolg. Das ist verständlich und unverständlich zugleich. Das Buch – es gibt sich nicht offiziell als Roman aus – ist gut lesbar geschrieben, amüsant und lässt für manche*n wohl eigene Erinnerungen aufleben. Es enthält aber auch sprachliche Klopse, die keine Grundschullehrerin durchgehen lassen würde und die auch nicht als literarische Eigenheiten gelten können. Dazu kommt der leidliche Humor, der manchmal gelingt, manchmal überrascht, aber oft auch wiederum nicht – nichts Schlimmeres als ein flacher Treppenwitz, der ist erstens ein Paradox und zweitens kommt er leider immer wieder. Der Diskussion um die mögliche Verharmlosung des Unrechtsstaates DDR versucht Brussig am Ende selbst einen Riegel vorzuschieben mit einem Poesiealbum-Satz – „Glückliche Menschen haben ein schlechtes Gedächtnis und reiche Erfahrungen“ –, der natürlich sofort als Klappentext verwendet wurde. Gegenüber Büchern wie Thommie Bayers „Das Herz ist eine miese Gegend“ oder Sven Regeners Lehmann-Romanen kann die „Sonnenallee“ nicht mithalten, es ist eine nette Lektüre, nicht mehr, nicht weniger. 

Michela Murgia: Accabadora. 

Nachkriegsjahre auf dem Dorf in Sardinien: das Mädchen Maria, 6 Jahre alt, wird von ihrer Mutter an die 60jährige Bonaria übergeben, einer wohlhabenden Schneiderin. Marias Mutter ist nach dem Tod ihres Mannes alleinerziehend, und hat noch drei weitere Töchter, sie ist froh, als Bonaria ihr das Angebot macht, das überflüssige Anhängsel Maria bei sich aufzunehmen, dabei einem alten Brauch folgend, der eine – offiziell nicht anerkannte – Adoption darstellt, ohne dass die sogenannte fill‘e anima dadurch den Kontakt zu ihrer „echten“ Familie aufzugeben braucht. Maria hat kein Problem, dieses Arrangement zu akzeptieren, statt der Nichtbeachtung durch ihre Mutter erfährt sie nun eine zwar nicht offen herzliche, aber liebevolle Erziehung durch Bonaria, manchmal streng, aber stets gutmütig. Obwohl der Brauch selbst im Dorf kein Aufsehen erregt, rätseln und spötteln die
Mitbewohner*innen doch über die Gründe der alten Frau. Maria wächst bei ihr auf, erzielt Erfolge in der Schule – worauf Bonaria immer streng achtet – und hilft gelegentlich bei ihrer Familie oder den Nachbarn mit. Von ihrer Ziehmutter erlernt sie zudem das Schneiderhandwerk. Doch Bonaria verbirgt ein Geheimnis, das Maria anfangs erahnt, dann vergisst und schließlich in katastrophaler Zuspitzung erfährt. Nachdem eines der Felder der Nachbarn durch den Anrainer mittels einer Grenzverletzung – er ließ heimlich ein Mäuerchen verschieben – verkleinert worden war, was nicht nachzuweisen ist, beschließt der impulsive Sohn, sich zu rächen. Doch sein Plan geht schief, er wird bei dem Versuch, das Anwesen des Bauern anzuzünden, von einer Gewehrkugel getroffen, ihm muss ein Bein amputiert werden. Damit kommt der Junge nicht zurecht. Er sieht ein sinnloses Dasein als Krüppel vor sich und will sein Leben beenden. Und es gibt auf Sardinien hierfür eine weitere Institution: die Accabadora, eine Frau, die schwer leidenden Sterbenden – nach eingehender vorheriger Prüfung und auf Bitten der Familie – den vorzeitigen sanften Tod bringt. Bonaria – denn niemand anders ist die Accabadora des Dorfes – folgt nach vielen Zweifeln auch dem Wunsch des Jungen, ihn heimlich zu töten. Als Maria dies durch Zufall erfährt, ist sie entsetzt. Sie packt noch in derselben Nacht ihre Koffer und verschwindet aufs Festland. Erst viel später kommt sie zurück, auf die Nachricht hin, dass Bonaria nach einem Schlaganfall hilflos dahinsiecht, und übernimmt ihre Pflege. Bonaria Zustand verschlechtert sich zusehends, doch sie stirbt nicht, sondern quält sich von Tag zu Tag. Maria steht vor einer Entscheidung. Michela Murgias (geboren 1972) Roman war ein literarischer Überraschungserfolg – und dies verdientermaßen. Er ist in seiner sanften Erzählweise sprachlich schön, seine Dorfschilderung erinnert an die großen italienischen Traditionen Carlo Levis und Ignazio Silones und die Beziehung der beiden Frauen ist mit erkennbarer Zuneigung für die Figuren gezeichnet, die sich schnell auf die Leser*innen überträgt. Ein wunderbares Buch.   

Charles Baudelaire: Die Blumen des Bösen.

Man muss eigentlich nichts mehr zu Baudelaires (1821-1867) Klassiker sagen. Es ist unzweifelhaft der bedeutendste Lyrikband der modernen Literatur, es gibt Gedichte vor „Den Blumen des Bösen“ und es gibt Gedicht nach ihnen, selten lässt sich ein kulturhistorischer Einschnitt so genau festlegen. Das war schon bei Erscheinen klar – auch den Gerichten, die gegen die Veröffentlichung vorging und zwischenzeitlich das Verbot einiger Texte erreichten. Selbst nach über 150 Jahren haben die Gedichte nichts von ihrer Wirkung verloren – Meisterwerke wie „An eine, die vorüberging“, „Ein Aas“ oder „Der Vampir“. Diese Ausgabe ist – wie es sich gehört – zweisprachig, allerdings hat sie sich der Methode des linearen Übersetzens verschrieben, das heißt, einer nicht-lyrischen, die den Inhalt wiedergibt. Es ist naturgemäß immer ein Abwägen, welche Form man bei Lyrik wählt, der schwierigsten Textart für Übersetzer*innen. Die gewählte Methode hätte den Vorteil der Texttreue – und den Nachteil, dass die lyrischen Elemente größtenteils verlorengehen –, so dass der Inhalt im Vordergrund steht und die Form zurücktritt. Es ist allerdings, so wird man schnell feststellen, etwa wenn man den Vergleich mit anderen zweisprachigen Ausgaben heranzieht, trotzdem ein Vorgehen, dass den „Blumen des Bösen“ eher abträglich ist. Noch dazu ist der eigentliche Gewinn, die Textnähe, leider nicht immer gegeben, da dann doch immer versucht wird, besonders poetisch zu sein, wenn schon nicht in der Form, dann eben in der Sprache. Das ist inkonsequent und so ist man noch mehr geneigt, eine andere Ausgabe vorzuziehen. Denn lesen sollte man die „Blumen“ immer und immer wieder.            

Niklas Stiller: Der Tod und das Flugzeug.

Eine kleine Sammlung an „Prosa, Essays, Gedichte[n]“ (so der Untertitel) von Niklas Stiller (geboren 1947), Arzt und Schriftsteller, erschienen einst in der legendären Rowohlt-Reihe „das neue Buch“, einer Fundgrube außergewöhnlicher, avantgardistischer und manchmal randständiger Literatur. Die Medizin prägt auch das Schaffen Stillers, fast ausschließlich geht es um Fragen der ärztlichen Ethik im Alltag, über den ewigen Feind des Mediziners, den Tod – wenn er denn ein Feind ist? – und immer dann sind Stillers Texte auch am besten. Gerahmt werden die restlichen Beiträge von einem „Requiem für Dich“, der nüchternen Schilderung eines Todesfalls vom Auffinden in der Wohnung, Sterben im Krankenhaus über die Obduktion bis zur Beerdigung, verfasst in der 2. Person Singular. Der fast wortgleiche Text, nun als „Ein Requiem“, kehrt als Abschluss wieder – geändert hat sich nur das Pronomen und damit die Perspektive: nun ist es die 1. Person Singular, Leser und Leser*in ‚erlebt‘ – oder eben gerade nicht – seinen oder ihren Tod mit. Am interessantesten ist allerdings der quasidokumentarische Text „Die Einsamkeit des Diensthabenden“, die eine Nachtschicht in einem kleinen Krankenhaus schildert und zugleich kritisch reflektiert. Es sind die Zustände Ende der 1970er Jahre – man wird kaum davon ausgehen, dass sich die Nöte junger Ärzte und der anderen Diensttuenden nach den mehrfachen neoliberalen Gesundheitsreformen verringert haben. Ein gut lesbarer, spannender Einblick ohne den üblichen Arztkittelkitsch und verklärende Medizinromantik.