Jeanine Cummins: American Dirt.
Familienfeier in Acapulco. Alle sind versammelt, von der Großmutter bis zu den Cousins, Nichten und Neffen, überleben werden den Tag nur zwei: Lydia und Luca, Mutter und Sohn, die sich im Bad versteckt haben, während ein Streifkommando des örtlichen Drogenkartells ihre Familie auslöscht. Grund sind die Artikel von Lydias Mann, eines investigativen Journalisten, der über die Machenschaften der Organisation geschrieben hatte. Es ist klar, dass die Narcos ihr Versehen, zwei Personen übriggelassen zu haben, schnellstmöglich werden ausbügeln wollen. Einen Schutz gibt es nicht: Behörden und Polizei sind korrupt, schon vom Tatort aus werden durch Beamte Hinweise an das Kartell über die beiden Überlebenden geschickt. Eine Flucht beginnt, erst aus der Stadt, dann aus dem Land. Mit Hilfe der Güterzüge, die nach Norden fahren, möchte Lydia die USA erreichen, wo Verwandtschaft wohnt. Sie räumt ihr Konto und das ihrer toten Mutter leer und will die Geschehnisse nicht an sich heranlassen, da sie nur noch eine Aufgabe kennt: ihren Sohn zu retten. Denn ihre Verfolgung ist nicht nur eine Frage der Logik des Verbrechens, sondern auch eine persönliche. Lydia, die einen Buchladen führte, befreundete sich mit ihrem besten Kunden an, der sich als das Kartelloberhaupt herausstellte, der Mann, der Acapulco zur Hölle gemacht hatte und über den ihr Mann seine Artikel schrieb. Auf der Flucht erst mit dem Bus, dann dem Zug trifft sie nun auf andere Migranten, auf Helfer und auf die Grenzpatrouillen, die nicht minder korrupt und gewalttätig sind, die ihr das Restgeld rauben und die mit ihnen flüchtenden Mädchen vergewaltigen. Zwar gibt es so etwas wie eine Solidarität der Flüchtenden, zugleich ist aber nie eindeutig, wem zu trauen ist und wem nicht. An der Grenze angekommen, hat Lydia zu wenig Geld übrig, um den Schlepper zu bezahlen. All die Gefahren schienen umsonst gewesen. Und die Verbindungen der heimischen Narcos reichen weit, sehr weit. Sogar bis über die scheinbar rettende Grenze. Jeanine Cummins‘ (geboren 1974) Roman wurde zum Bestseller, da er nah am Zeitgeschehen war und zugleich übliche Lesegewohnheiten bediente. Darin liegt wohl auch das Manko des Buches, das schon in der Aufmachung an einen Thriller erinnert und eben auch wie ein solcher angelegt ist. Dazu gehört auch die enge persönliche Verknüpfung der Hauptpersonen durch die enttäuschte Freundschaft als verstärkendes melodramatisches Motiv, beides tut dem Gesamtanliegen des Romans eher nicht gut. Die Gewaltmotive werden zum Teil des Genres statt wirklich betroffen zu machen, das Migrantendasein verliert sich hinter dem Dr.-Kimble-haften der Flucht, die Spannung drängt das Schicksal der Menschen, die für ein besseres Dasein oder aus Zwang ihr Leben riskieren, in den Hintergrund. Und so legt man das Buch nach der Lektüre beiseite und greift dann zum nächsten Thriller, ohne noch groß darüber nachzudenken.
Ernst Weiß: Der Fall Vukobrankovics.
Der Schriftsteller Rudolf Leonhard setzte in den 1920er Jahren bei dem Verlag, für den er unter anderem selbst arbeitete, eine Reihe durch, die heute unter dem beliebten Etikett „True crime“ fungieren würde. „Außenseiter der Gesellschaft. Die Verbrechen der Gegenwart“, so der Name der Serie, für die namhafteste Schriftsteller:innen der Zeit um Beiträge gebeten wurden, darunter Alfred Döblin, Egon Erwin Kisch und eben auch Ernst Weiß (1882 bis 1940), die ihre Bücher im Gegensatz zu den ebenfalls engagierten Thomas Mann, Joseph Roth oder Jakob Wassermann auch noch schreiben konnten, bevor das Projekt nach vierzehn erschienen Texten aufgegeben werden musste. Weiß, der meisterliche psychologische Autor, nahm sich die Analyse zweier Gerichtsverhandlungen vor: In der ersten war die Lehrerin Milica Vukobrankovics Ende Oktober 1918, in den letzten Wochen der k.u.k. Monarchie, des Giftmordversuches angeklagt. Die Beschuldigte, die sich selbst als aus hohem balkanischem Adel stammend bezeichnete, hatte bei einer befreundeten Familie Arsen ins Essen gemischt, einen weiteren Versuch mit Hilfe einer Tablette unternommen und nach Aufkommen des Verdachtes den Sohn des Hauses beschuldigt, verantwortlich zu sein. In der Gerichtsverhandlung verteidigte sie sich geschickt, die Geschworenen konnten sich nicht zur Verurteilung durchringen, lediglich wegen der Verleumdung des Jungen wurde sie mit einer Haftstrafe belegt. Fünf Jahre später, 1923, Österreich war inzwischen Republik, stand die Vukobrankovics erneut vor Gericht. Anklagepunkt: Versuchter Giftmord. Das Opfer war diesmal ein Verlagsleiter, für den sie im Büro arbeitete, und dessen Familie, wobei sie diesmal so vorging, dass sie selbst teils von dem vergifteten Essen probierte und dadurch leichte Vergiftungserscheinungen zeigte. Der Prozess war nun, anders als noch 1918, eine Sensation, und wiederum trug die Angeklagte ein Selbstbewusstsein zur Schau, das auf die Presse, aber auch das Gericht Eindruck machte. Wiederum mit einigem Erfolg. Die härtesten Anklagepunkte – tückischer Meuchelmord – wurden fallengelassen, die Täterin zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Weiß seziert die Persönlichkeit der Frau, die in der Haft auch eine kaum verbrämte Geschichte ihres Prozesses zu Papier gebracht hat, aber auch die Mängel des Justizsystems, das ihrem Vorgehen in beiden Fällen nicht Herr wird – und dadurch das zweite Verbrechen erst ermöglicht. Eine spannende Studie und ein für das Werk Weiß‘ außergewöhnliches Seitenstück.
Richard Bachman: Der Fluch.
Der erfolgreiche Anwalt Billy Haleck hat zwar im Beruf keine Probleme – dafür ist er skrupellos genug –, aber mit seinem Gewicht. Er hat einiges an Kilo zuviel, doch ändert sich dies eines Tages nach einer Gerichtsverhandlung, bei der er selbst der Angeklagte war. Bei einem Verkehrsunfall, bei dem er – wie wir im Laufe der Geschichte erfahren – durch Oralverkehr seiner Frau, abgelenkt war, hat er eine ältere Roma-Frau überfahren, die plötzlich die Straße gequert hatte. Doch Haleck ist in seiner Heimatstadt gut vernetzt und die Roma haben ohnehin keine Lobby. Die Polizei sah schon bei der Unfallaufnahme nicht so genau hin, der Richter zeigt sich milde gegenüber seinem Bekannten, Haleck kommt ungeschoren davon. Zumindest juristisch. Am Ausgang erwartet ihn ein greiser Roma, der ihn jedoch nur kurz berührt und das Wort „Dünner“ zuflüstert. Und in der Folge nimmt er ab, rapide. Die Pfunde purzeln, aber was anfangs vielleicht noch angenehm sein mochte, drängt bald den Verdacht einer Krankheit auf. Dass dieser sich nicht bestätigt, ist kaum beruhigend, abgesehen davon, dass die Gewichtsabnahme unweigerlich fortschreitet. Als Billy sowohl den Richter aufsucht, der aber nicht da ist, da er von einer schuppenartigen Hautkrankheit befallen wurde, und schließlich den damals verantwortlichen Polizeichef, der ebenfalls nicht mehr zum Dienst erscheint, da ihn hässliche Eiterbeulen im Gesicht zieren, ist ihm klar: Er wurde mit einem Fluch belegt. Nur der alte Roma kann ihn noch retten. Billy macht sich auf die Suche – inzwischen verfolgt von seiner Frau und seinem Arzt, die ihn für übergeschnappt halten und entmündigt haben. Nach längerer Reise findet Haleck die Roma, doch der Alte, ihr Oberhaupt, weigert sich, den Fluch zurückzunehmen. Nun bleibt dem bereits völlig abgemagerten nur noch ein einziger Verbündeter, ein Mafiosi aus der Großstadt, dem er einst einen Prozess gewonnen hat. Mit dessen Methoden soll der Roma überzeugt werden, den Fluch aufzuheben. Bachman alias Stephen King – der im Buch übrigens selbst namentlich erwähnt, aber falsch geschrieben wird, was entweder ein netter Gag ist oder einfach an der ohnehin holprigen Übersetzung liegt – würde diesen Roman so vermutlich nicht mehr schreiben. Zumindest hofft man das. Natürlich ist das Ganze recht spannend, aber leider strotzt es auch von Klischees, sei es nun über italienische Mafiosi oder schmierige amerikanische Anwälte oder noch viel mehr, über die herumziehenden Roma. Zwar werden diese als von Vorurteilen ins Abseits gedrängte Außenseiter beschrieben, doch dieselben Vorurteile gleichzeitig wieder bedient. Von den zwielichtigen Geschäften bis zur archaischen Hierarchie und Fluchkunst, dazu sind der Alte von enormer Hässlichkeit, die Jüngeren extrem gewalttätig und die Frauen feurige Schönheiten. Umgekehrt kann Haleck unser Herz kaum erwärmen, erst recht nicht, als er schließlich immer mehr seine Frau für sein Unglück verantwortlich macht. Sicher kein Glanzpunkt in Bachmans (geboren 1947) alias Kings Schaffen und dazu noch sehr schlecht gealtert.
Peter Huth: Infarkt.
Nach einer Nacht mit einer Zufallsbekanntschaft fühlt sich Peter Huth (geboren 1969), ein bereits in vergleichsweise jungen Jahren enorm erfolgreicher Boulevardjournalist, ziemlich mies, nicht moralisch, sondern körperlich. Irgendetwas stimmt nicht, er ist nicht einmal mehr selbst in der Lage, Hilfe zu holen, was seine Bettgenossin für ihn erledigt und womit sie ihm das Leben rettet. Im Krankenhaus wird festgestellt, dass er gerade einen Herzinfarkt durchmacht, nur durch das schnelle Eingreifen wird Schlimmeres verhindert. Huth kommt in die Reha und hat nun die Möglichkeit, über die Gründe für das für sein Alter doch reichlich ungewöhnliche und lebensbedrohliche Ereignis nachzudenken. Diese sind letztlich offensichtlich: Ein gehetztes Arbeitsleben, ausgeglichen durch ein ähnlich rücksichtloses Freizeitverhalten mit viel Alkohol und Drogen. Wären da nicht Konsequenzen zu ziehen, ein Infarkt mit nicht einmal vierzig Jahren der berühmte Warnschuss? In schnoddrigem Ton liefert Huth seinen Bericht ab, was hin und wieder amüsant zu lesen ist, aber schlussendlich über die tiefliegende Arroganz des gesamten Textes nicht hinwegtäuscht. Nun könnte man es einerseits begrüßen, dass hier nicht der typische vermeintlich hilfreiche Erfahrungsbericht mit Mein-Leben-hat-sich-total-geändert-Pathos abgeliefert wird und die Ehrlichkeit des Buches loben, andererseits verschwindet der schale Beigeschmack des sich selbst einfach nur zu geil findenden Partyhelden, der sein Jetsetleben aufrecht erhalten möchte, egal was es – in jeder Hinsicht – kostet, nie und so verliert sich das Interesse und der Aussagewert des Textes, es sei denn, man interessiert sich aus irgendwelchen Gründen für das ohnehin wenig überraschende Denken und Schnöselleben von Bild-Reportern.
Alan Sillitoe: A Start in Life.
Einmal mehr präsentiert uns Alan Sillitoe (1928 bis 2010) in seinem Roman von 1970 einen für seine frühen Werke typischen Helden: Michael Cullen, aufgezogen von seiner alleinerziehenden Mutter, nachdem sein Vater, ein Soldat kurz vor Einrücken in den Weltkrieg, nie mehr aufgetaucht ist, kann nicht anders, als zu konfabulieren, also nicht nur sehr flexibel mit der Wahrheit umgehen, sondern auch anlasslos seiner Fantasie freien Lauf lassen. Dahinter steckt nicht einmal immer irgendeine, geschweige denn eine böse Absicht, es ist einfach Teil von Michaels Naturell. Die Konsequenzen sind zwiespältig, auch wenn diese Eigenschaft ihm hilft, Mädchen zu beeindrucken und Jobs zu ergattern, muss er sie letztlich anschließend ständig einsetzen, um die Probleme, die er sich mit seinen Geschichten einfängt, wieder auszubügeln, seien es nun parallele Liebschaften oder Geschäftspraktiken, die im Allgemeinen als Betrug angesehenen werden. Der Ausweg scheint ihm, für junge Menschen nicht unüblich, die Großstadt, weg aus Nottingham und ab nach London. Doch schon der Weg dorthin im ersten eigenen Auto ist beschwerlich, weniger wegen der beiden Anhalter, die er mitnimmt, sondern weil sich das Gefährt auf der Fahrt nach und nach auflöst. Es ist erstaunlich, wie Sillitoe es schafft, diesen an sich abgehalfterten Slapstick – und zwar über etliche Seiten – amüsant aufzubereiten, so wie man es ihm dank seiner Erzählkunst nicht übelnimmt, dass er Michael in dessen Londoner Zeit ständig die gleichen Personen per Zufall über den Weg führt. Denn in der City geht es holprig weiter, zweifelhafte und zwielichtige Jobs reihen sich aneinander, neue parallele Liebschaften kommen hinzu, plus familiäre Verwicklungen und schließlich die Auseinandersetzung zweier Unterweltgrößen, die für Michael bedrohliche Ausmaße annimmt, steht er doch am Ende zwischen den beiden. Natürlich ist Michael ein Zeitgenosse, dem man nicht gerne begegnen würde, ein unzuverlässiges Großmaul, doch steckt dahinter ein gutmütiger Junge, der sich trotz allem an gewisse Maßstäbe hält, die er sich selbst gesetzt hat. Moralische Flexibilität hat viele und weitaus scheußlichere Seiten, wie viele der Figuren zeigen, denen Michael begegnet. Unbedingt lesenswert.
Elke Kahlert: Vorsicht, Gespenster!
Endlich mal wieder ein Band aus der „Rotfuchs“-Serie und er hält, was man sich von der Jugendreihe verspricht: Vorgestellt werden uns zu Beginn eine Art WG an Spukgestalten, die in einer alten unterfränkischen Burg hausen. Jede der Figuren hat nicht nur ihren epochenspezifischen Hintergrund – eine gut genutzte Möglichkeit, um unaufdringlich historisches Wissen einfließen zu lassen – vom Bauernkrieg über Hexenverfolgungen bis zum Dienst im preußischen Heer, sondern auch ihre Eigenheiten, der eine schnuppert gern an Essen, die andere trägt ihren Kopf lieber im Arm, der nächste liebt es, zu befehlen oder Sport zu treiben. Allen aber ist daran gelegen, ihre Künste zu verfeinern, mit anderen Worten, sich auf dem Gebiet des Spukens fortzubilden, varietas delectat eben auch auf dem schwierigen Feld des gediegenen Erschreckens. Tagsüber, so verpflichtet der Ehrenkodex, hält man sich jedoch zurück, dann gehört die Burg den Besuchern und Fremdenführern. Zu ersteren gehört auch Steffi. Gezwungenermaßen, da ihre Eltern mal wieder Gäste haben und sich mit ihnen auf die Sehenswürdigkeit des Ortes begeben. Nicht gerade der Traum eines jungen Mädchens, auch wenn es dieses Mal zu einigen Zwischenfällen kommt – nicht durch Gespenster, sondern zwei männliche Besucher verursacht, die sich nicht in die Regeln halten. Interessant wird das Gemäuer für Steffi erst, als sie eines Nachts im Lager ihres Vaters – er vertickt allerlei Gebrauchtwaren – Geräusche hört und sich prompt mit Schlag Mitternacht eine Horde Geister manifestiert, die ausgerechnet einen alten Fernseher klauen, Ergebnis einer heißen Diskussionsrunde der unsichtbaren Schlossbewohner, die den Anschluss an die Moderne nicht komplett verpassen wollen. So freundet sich Steffi mit den Untoten an, denen sie großzügig das alte TV-Gerät überlässt. Fortan ist sie nicht nur gern Gast auf der und um die Burg, wo sie auf ihre einige Jahrhunderte ältere neue Freundin Melanie trifft, sondern sie engagiert sich zudem für den Erhalt des Ansitzes. Durchsetzen kann sie sich allerdings erst, als die beiden Männer von neulich auftauchen, um sie zu entführen. Hierfür verstecken sie Steffi ausgerechnet im alten Burgverlies. An sich keine schlechte Wahl, nur hat die Entführte dort ein paar illustre Verbündete mit ganz eigenen Möglichkeiten. Die Krimihandlung ist angesichts der liebevollen, aber auch sehr klugen Gestaltung der Gespenstertruppe mit ihren vielen subtilen Seitenhieben fast schon überflüssig, werden wir doch zudem ohnehin schon mit den Zeichnungen einer der besten Jugendbuchillustratorinnen ihrer Generation verwöhnt: Amelie Glienke. Das Buch ist ab Neun, danach ist die Altersgrenze offen.
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