Barbara Kraus (Hg.): Gestohlene Märchen.
Genaugenommen ist der Titel dieser Anthologie korrekt und falsch zugleich: Denn die Märchen sind nur insofern ‚gestohlen‘, als sie aus verschiedenen Kulturkreisen zusammengetragen sind, aus Afrika und Asien, Europa und Amerika, dazu sind sie angereichert mit Zeitungsmeldungen aus der unmittelbaren Gegenwart – in diesem Falle der 1970er Jahre. Der inhaltliche Zusammenhalt sind Geschichten vom Stehlen, Erzählungen aus 1001 Nacht, von indigenen Völkern Nordamerikas, Fabeln aus Europa und Märchen aus Afrika. Während die erwähnten Kurzmeldungen aus den Zeitungen eher Kuriosa wiedergeben, diebische Polizisten etwa oder spektakuläre Einbrüche, so sind die eigentlichen ‚Märchen‘ deutlich ambivalenter. Nicht selten ist der Dieb der Schlauere, sogar der moralisch Überlegene, der durch seine Taten Not lindert oder Ungerechtigkeiten aufdeckt oder wiedergutmacht. Natürlich gibt es auch den bösartigen Räuber, der dann wiederum durch List überwältigt werden muss oder den sozusagen unschuldigen Verbrecher, der durch die Umstände gezwungen wird, sich zu verschaffen, was ihm zum Überleben notwendig ist. Gerade dies macht die Sammlung so spannend und facettenreich, wie die Diebe eben selbst sind. Vom bösartigen Schurken bis zum eulenspiegelartigen Schelm, der die einfachen Denkschemata überwinden hilft, von der lustigen bis zur tragischen Geschichte, vom Gelegenheitsverbrecher bis hin zum Meisterdieb wird in dem unterhaltsamen Buch alles geboten.
Herbert Rosendorfer: Die Donnerstage des Oberstaatsanwaltes.
Es ist ein Buch für Rosendorfer-Liebhaber:innen, aber erkennbar auch eine Liebhaberei Herbert Rosendorfers (1934 bis 2012) selbst, denn fast scheint es so, als habe er all seine besonderen Fähigkeiten hier noch einmal versammelt oder besser gesagt, kondensiert. Und so erhält man eben einen Rosendorfer in Reinform: Als Vorbereitung zur Hausmusik berichtet der pensionierte Oberstaatsanwalt von kuriosen Fällen aus seiner langjährigen Praxis in verschiedenen Bereichen des Justizwesens, teils selbst erlebt, teils von den Kolleg:innen berichtet. Dies gibt dem Autor nicht nur einmal mehr Gelegenheit von seinem Steckenpferd (und seiner Hauptarbeit, neben der Schriftstellerei, wenn man so möchte) zu berichten, was, wie gewohnt, sowohl Kritik am Gerichtswesen, aber auch an den diversen Klägern und Klägerinnen, beinhaltet. So wie Rosendorfers oft sarkastische Schelten nie einseitig oder eindeutig sind, wird auch die gute Bürgerlichkeit – der die Runde mit ihren Hauskonzerten selbst frönt – mal nostalgisch verklärt wie zugleich als Spießertum verunglimpft und so geht es mit vielen Dingen, die im Text angesprochen werden. Eine zusätzliche Möglichkeit für Spott bieten die stillen Kommentare der Hauskatze, wobei man diese, zugegeben, mögen muss; teilweise drängt sich das Empfinden auf, diese nicht unbedingt für essentiell zu halten. Aber Rosendorfer spielt eben auch mit der Form und es braucht schließlich zusätzliche Erzähler, als der Oberstaatsanwalt unerwartet zu den fixen Terminen am Donnerstag nicht mehr auftaucht. Obwohl oder gerade weil ein Spätwerk, bestens geeignet als Einstieg in das Schaffen Rosendorfers.
Ingeborg Bachmann: Liebe: Dunkler Erdteil.
Der nur schmale Band versammelt „Gedichte aus den Jahren 1942-1967“, so der Untertitel, die zu Lebzeiten Ingeborg Bachmanns (1926 bis 1973) nur einzeln oder gar nicht veröffentlicht wurden. Das Buch dient folglich als Ergänzung der Gesamtausgabe, dementsprechend sind die Texte auch mit Nachweisen und kurzen Erklärungen zu eventuellen Versionen versehen – dies nur für die Expert:innen unter der Leserschaft. Von ersten Versuchen der noch jugendlichen Schriftstellerin bis zu Gedichten aus der Hochphase ihrer Bekanntheit reicht somit das Spektrum des Gebotenen, wobei man keineswegs eine einfache Entwicklung von einer eher traditionellen zu einer eigenständigeren, teils auch hermetischen Lyrik ausgehen darf. So wechselt Bachmann zwischen Formen mit und ohne Reime, erstere schien sie eher im mittleren Zeitraum zu bevorzugen, aber festlegen ließ sie sich ohnehin nicht. Nicht ganz unerwartet kann man auch in diesem Band erfreulich Großartiges entdecken, das den Status Ingeborg Bachmanns als herausragende Lyrikerin nur einmal mehr bestätigt. Bedauerlich dagegen ist, dass die Entdeckungsreise nur so kurz ist. Aber man kann ja wieder von vorne anfangen…
Dörte Hansen: Altes Land.
Der Roman war einer der Besteller – außerhalb der Reihe der üblichen Verdächtigen – und wurde deshalb gerne mit dem Zusatz ‚Überraschung‘ versehen, noch dazu, weil es sich um einen Erstling handelte. Viel Lob ergoss sich über Buch und Autorin, die Tourismusbehörden des Alten Landes werden es wohlwollend zur Kenntnis genommen haben, besonders im Süden der Republik hatte man sich diese Landschaft wohl bislang kaum erschlossen. Es ist stets müßig – wir haben das Thema schon des öfteren angerissen – den plötzlichen Erfolg eines Buches erklären zu wollen. Nimmt man die Großbestseller mit einem gewissen literarischen Anspruch der letzten Jahrzehnte – Süskinds „Parfüm“, Schneiders „Schlafes Bruder“, Schlinks „Vorleser“, Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“ – haben sie alle gemein, traditionell zu erzählen, sprachlich nicht allzu anspruchsvoll zu sein, zu historisieren, im Mittelpunkt steht ein außergewöhnlicher (männlicher) Protagonist. Nur die ersten beiden Punkte treffen auf Hansens (geboren 1964) „Altes Land“ zu, historisierend ist es in Teilen, wenn die Geschichte der Flucht von 1945 und die Ankunft in der neuen Heimat erzählt wird. Die Hauptcharaktere sind jedoch Frauen, das liegt zwar im Trend der Zeit, tut dem Buch aber trotzdem gut, vor allem, weil diese, wenn auch eher die Seitenfiguren, ambivalent gestaltet sind. Der Roman lebt von den Personen, weniger – anders als es der Titel vermuten lässt – von der Landschaftszeichnung, selbst das spärlich verwendete Platt markiert an sich nur ‚norddeutsch‘. Die Beziehungsgeschichten machen die Stärke des Romans aus, die Schwäche ist das wohlfeile Herabschauen auf die hippen Städter, ihre Achtsamkeitsmacken und ihre aus Hochglanzzeitschriften zusammengeklaubten Vorstellungen vom Landleben. Diese zu oft gehörte Kritik, vom Feuilleton gerne aufgegriffen, schadet dem Roman eher, ist sie doch selbst längst klischeehaft. Und sie dürfte ziemlich sicher auf sehr viele Leser:innen und erst recht Journalist:innen zurückfallen, die sich somit auf Kosten ihrer selbst, ohne dies einzugestehen, amüsieren. Diesen offenkundig unerkannten Selbsthass ignorierend, kann man das Buch mit Vergnügen lesen, ob man danach den Drang verspürt, sofort ins Alte Land zu reisen, darf dann jede:r selbst entscheiden.
John Steinbeck: Tortilla Flat.
Die Moral der Bewohner:innen von Tortilla Flat, einer Siedlung im kalifornischen Monterey, ist die Verweigerung, was im leistungsorientierten US-Amerika schon einen Skandal an sich darstellt, erst recht aber in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als der Laissez-Faire-Kapitalismus noch einmal eine Hochblüte erlebte, bevor ihm die Weltwirtschaftskrise (vorerst) den Garaus machte. Danny und seine Kumpels haben eigentlich nur aus Ratlosigkeit ihrem Land im Krieg gedient, im Anschluss haben sie noch weniger Lust, sich für irgendetwas zu engagieren, jedenfalls ganz sicher nicht für Arbeit. Es gibt nur ein einziges Ziel im Leben der Freunde und das ist der Alkohol – wie man sich diesen oder das dafür nötige Geld besorgt, ist zweitrangig, sei es durch Diebstahl, Betrug oder den Verkauf oder Tausch von Gegenständen, die einem nicht unbedingt selbst gehören müssen. Doch es ist eine Frage der Ehre, nicht ohne guten Grund zum Alkohol zu greifen oder auch zum Besitz des Nächsten oder seiner Frau, gerade wenn dieser Nächste doch der beste Freund ist. Eine der Hauptaktivitäten der Paisanos, der Bewohner von Tortilla Flat, ist folglich, durch raffinierte Erzählungen und obskure Erklärungen das eigene Selbstbild zu retten und jegliches noch so verwerfliche Handeln in eine nicht nur gerechtfertigte, sondern letztlich sogar unweigerlich notwendige Tat umzudeuten, worin sie zu wahrer Meisterschaft gelangen. Wem es gelingt, sein an sich verachtenswertes Tun, etwa den Betrug eines hilfreichen Freundes mithilfe einer auch noch so weit hergeholten, aber einwandfrei logischen Begründung zu kaschieren, dem ist selbst der Respekt des Betrogenen sicher. So sind die Paisanos zugleich selbstlos und bis auf die Knochen egoistisch, zerstören gedankenlos Eigentum ihrer besten Kumpane und zerreißen sich wiederum, um diesen in deren Angelegenheiten zu helfen, ja bringen das größte aller Opfer, sie gehen – wenigstens zeitweise – zur Arbeit. John Steinbecks (1902 bis 1968) Schilderung dieses Menschenschlages wird gern als liebevoll bezeichnet, ob dem wirklich so ist, ob dieser Blick auf jene so ganz untypischen Amerikaner nicht doch, bei aller Ironie einen Hauch von Herabwürdigung besitzt, diese Frage darf man ruhig stellen. Vielleicht sind die Paisanos aber tatsächlich nur umgedrehte Klischee-US-Amerikaner: Geben diese sich selbstlos, um letztlich im Zweifelsfall lieber dem Profit zu folgen, suchen erstere nur den Profit, um selbstlos sein zu können.
Stewart Home: Purer Wahnsinn.
Es ist das – bewusst – gleiche Rezept, das wir schon von Homes (geboren 1962) Roman „Stellungskrieg“ kennen: Pornographie, Gewalt, Zeitgeist, Musik. Kein Wunder, gehört es doch zum erklärten Prinzip sowohl innerhalb des Buches als auch von Home selbst, möglichst viel Geklautes neu zu kombinieren – und da kann man schließlich gleich bei sich selbst anfangen. Zum Beispiel wenn sich der Schundautor im Text ein Pseudonym sucht, das dem Realnamen Homes (denn dieser Name ist wiederum ein Pseudonym) ziemlich ähnlich ist, was naturgemäß passt, da jene Figur eine Art alter ego ist. Unter seinem Drittnamen Chickenfeed managt er eine anarchistische Post-Punkband, denen er zudem die Texte schreibt und deren Erfolg er mit allen Mitteln – und wirklich allen – orchestriert, dafür ruhig auch den Tod von Freunden, von Fans sowieso in Kauf nehmend, solang es der Publicity und damit dem Geldbeutel dient. Das vordergründig anarchistisch-kommunistische Image ist also nichts anderes als clever verbrämter Turbokapitalismus in Reinform, Chickenfeed ein astreiner Zyniker. Dumm nur, dass es Menschen gibt, die noch gewiefter sind als er. Und was sagt das eigentlich über dessen Vorbild Stewart Homes aus, außer dass dieser über genügend Selbstironie verfügt? Wie erwähnt überrascht der Roman in vielem nicht, es gibt extrem expliziten Sex in allen Varianten, brutale Gewalt und vertrackte Beziehungen, dazu Konflikte mit Nazis, Vegetariern, abgelebten Musikern der Vorgängergeneration, natürlich der Polizei und innerhalb der Szenen. So weit, so Home, der, sonst wäre er nicht er, dieses Prinzip gleich selbst herausstellt, in dem er oft kurzerhand die gleichen Redewendungen und Versatzstücke mehrfach wiederholend verwendet. Es gibt nach einiger Zeit beim Lesen den Punkt, wo einen diese Durchschaubarkeit etwas nervt, aber es gelingt Home immerhin, die Spannung soweit aufrecht zu erhalten, dass man bis zum Ende weiterliest.
Jeffrey Eugenides: Die Liebeshandlung.
Man darf sich einmal mehr fragen, ob die deutsche Titelgebung sonderlich geglückt ist, was allein dadurch in Zweifel zu ziehen wäre, dass man sich selbst bei deren erstem Hören oder Lesen wohl fragt, was eine Liebeshandlung wohl sein soll. Nachdem sich herausgestellt hat, dass es sich nicht um einen Laden handelt, sondern um den Plot in viktorianischen Romanen – im Original heißt der Roman dementsprechend „The Marriage Plot“ –, wird man jedenfalls Überlegungen anstellen, ob man dies nicht hätte besser lösen können. Wie auch immer, Eugenides (geboren 1960) versucht folglich, seinen eigenen Liebesroman mit komplizierter Heiratsgeschichte zu entwerfen, nicht im viktorianischen England, sondern in den USA der 1980er Jahre. Heraus kommt zu Beginn ein eher klassischer Collegeroman, es geht um die Liebesirrungen der Studierenden, kauzige Professoren, seltsame Zimmergenoss:innen, Partys und die angesagten theoretischen Diskussionen jener Tage inner- und außerhalb der Lehrstunden. Soweit, so altbekannt, so nett. Für Liebhaber:innen dieses sehr amerikanischen Genres und ansonsten für Akademiker sicher ein Vergnügen, ansonsten Geschmackssache. Am Abschlusstag verkompliziert sich alles, als Madeleine erfährt, dass ihr Ex-Freund in der psychiatrischen Klinik untergekommen ist, er leidet unter manisch-depressiven Schüben. Sie lässt die Feierlichkeiten sausen und eilt zu ihm. Ihre alten Pläne werden wieder aufgenommen, Madeleine kümmert sich um ihn, hofft auf Genesung, aber der Erfolg bleibt aus. In einem überstürzten Moment der vermeintlichen Besserung willigt Madeleine ein, Leonard zu heiraten. Doch sie gerät zunehmend in das Dilemma, Leonard nicht eigentlich helfen zu können und sich immer mehr von ihm zu entfernen. Bis er eines Tages tatsächlich komplett verschwindet. Dagegen taucht Mitchell wieder auf, eine Collegefreundschaft, die aus anderen Gründen problematisch war, insbesondere, weil Mitchell sich stets mehr erhoffte als nur Freundschaft. Nun, nach einer längeren Sinnsuche, könnte er unerwartet vor dem Erreichen seines langgehegten Traumes stehen. Der Roman lebt vor allem von den Charakteren – deren unterschiedliche Perspektiven er wechselnd einnimmt – und der Erzählkunst Eugenides, wobei durchaus zu fragen ist, ob die Zeichnung der Krankheit Leonards als gelungen anzusehen ist, da er oft eher unsympathisch großkotzig, egoistisch und besserwisserisch wirkt, wobei unklar ist, inwiefern dies Anzeichen der Krankheit oder nur Verstärkung seines Charakters durch diese sein soll. Wirklich Verständnis für diese wird dadurch jedenfalls nicht erzeugt.
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