Montag, 12. Juni 2023

Lektüremonat Mai 2023.


Carmen Posadas: Kleine Infamien.


Es gibt diese Bücher, die äußerst zäh beginnen und deren Charme sich erst langsam beim Lesen entwickelt, die man aber anschließend nur sehr ungern wieder aus der Hand legt. Bei Carmen Posadas' (geboren 1953) Roman „Kleine Infamien“ ist es umgekehrt. Der Einstieg ist verlockend, der Stil leicht ironisch und gut lesbar. Néstor Chaffino, ehemaliger Meisterkoch, der nun einen kleinen exquisiten Catering-Sevice für die gehobene Klasse mit der Spezialität raffinierter Desserts führt, räumt nach einem Auftrag in einem Sommerhaus früh um vier noch schnell ein paar Reste in die Kühlkammer. Da fällt deren Tür ins Schloss. An sich nur ein dummes Versehen, hätte Néstor nicht vergessen, den Sicherheitsriegel vorzulegen, doch es gibt ja noch eine Notklingel. Die ist aber in der Dunkelheit nur schwer zu finden doch waren da draußen nicht Stimmen zu hören? So sehr der Eingesperrte aber auch klopft, schreit und nach der Klingel tastet, am nächsten Morgen wird nur noch seine Leiche gefunden. Ein bedauerlicher Unfall. Vermutlich. Denn es stellt sich heraus, dass sowohl einige Gäste der feinen Gesellschaft, aber auch Hausherr und Hausherrin und selbst Angestellte Néstors womöglich guten Grund hatten, den Koch, der durch seinen Beruf nur allzu viel zu wissen schien, loswerden zu wollen. Dass in seinem Notizbuch mit der Aufschrift ‚Kleine Infamien‘ keineswegs erpresserischer Tratsch aufgelistet wird, sondern Rezepttipps, ist nur eine der vielen falschen Annahmen, die das Leben der Beteiligten beherrschen. Mit der Zeit nimmt das Lesevergnügen an dem Roman immer mehr ab, zwar ist alles recht nett verwoben, aber zugleich voraussehbar, die Auflösung des Kühlkammerunfalls nahezu albern. Man liest das Buch aus Disziplingründen fertig und legt ihn dann sehr gern aus der Hand. 

 

Der Weltraumfriseur. Science-Fiction-Erzählungen aus Polaris 3.

Dieser frühe Band aus Suhrkamps Phantastischer Bibliothek – ein Herausgeber oder eine Herausgeberin werden nicht genannt machte es sich zum Anliegen, unbekanntere SF-Erzählungen zumeist älteren Datums und internationaler Herkunft vorzustellen, die zudem nicht nach üblichen Mustern technisch überfrachteter Raumschiffgeschichten verfahren. Versammelt sind dementsprechend fünf Autoren – es sind nur Autoren – aus Tschechien, Schweden, Rumänien, Deutschland und Ungarn. Leider zündet der Band aber nicht so recht. Der Beginn, Josef Nesvadbas „Die Erfindung gegen sich selbst“, bietet bereits den Höhepunkt – und der ist nicht allzu hoch. Ein ehrgeiziger junger Erfinder konstruiert eine kleine Maschine, die menschliche Arbeit in fast allen Fällen überflüssig macht. Da ihn dieses sich weltweit verbreitende Patent reich zu machen verspricht, bricht er aus seinem bisherigen Leben aus und widmet sich fortan einzig seinem Vergnügen. Nur fällt dies in einer Welt, in der bald niemand mehr arbeitet, somit ohnehin jeder tun und lassen kann, was er will und ohne Löhne jedes Geld wertlos wird, zunehmend schwerer. Wie der Titel verspricht, hat der Erfinder sich selbst ins Abseits gebracht. Kein schlechter Plot, nur gestaltet Nesvadba einerseits seinen Protagonisten derart unsympathisch, dass sich das Mitleid in Grenzen hält, andererseits wird der durchaus interessante Prozess seiner Erkenntnis der Folgen – und diese selbst – aufgrund der Beschränkungen des Erzählformats viel zu eilig abgehandelt. Einigermaßen gelungen ist noch Vladimir Colins Geschichte über ein Mädchen, das unbewusst zum Medium von Pflanzenwesen eines fernen Planeten wird, die Kontakt zur Erde aufnehmen möchten. Doch am Unverständnis der – erwachsenen – Menschen scheitert dieser Versuch. Die anderen Erzählungen, eine parodistische Fortsetzung von Gullivers Reisen, ein Fantasy-Geschwurbel und ein typisches SF-Exemplar, das mit ständigen bizarren Einfällen zu überzeugen versucht, sind nur mühsame Lektüre.    

 

Walter Kappacher: Land der roten Steine.


Michael Wessely, Hausarzt im längst nicht mehr mondänen Kurort Bad Gastein, hat sich endlich doch zur Aufgabe seiner Praxis entschlossen und möchte nun keineswegs in die „Pensionsfalle“ tappen, vor der ihn Kollegen und Bekannte gewarnt haben: Sich zu viel vorzunehmen, ohne dies dann wirklich umsetzen zu können und daraufhin in eine Sinnkrise zu geraten. Wessely scheint hierfür allerdings geradezu prädestiniert, einerseits möchte er seinen Traum, die Reise in den US-amerikanischen Nationalpark Canyonlands verwirklichen, andererseits haben sich seine familiären und freundschaftlichen Verbindungen in den letzten Jahren immer mehr gelockert, sei es durch den Tod oder durch geographische und menschliche Entfernung. Die Reise in das menschenleere Wüstengebiet im Süden der USA, das zu den unbekannteren Reservaten des Landes zählt, geprägt von bizarren Felsformationen wie das berühmtere Monument Valley, wird für ihn als Erkenntnishilfe immer mehr mit Bedeutung aufgeladen. Doch die Durchführung erweist sich im Ergebnis als ambivalent: Seine ursprüngliche Reisegruppe reduziert sich letztlich auf ihn und den Führer, einen anfangs wortkargen Indigenen, der noch dazu gesundheitlich nicht auf der Höhe ist, so dass einige der geplanten Wanderungen und Besichtigungen nicht wie gewünscht durchgeführt werden können. Zugleich aber erfüllen sich Wesselys Erwartungen doch, die Natur verfehlt ihre Wirkung auf ihn keineswegs, zudem freundet er sich mit seinem Führer Everett näher an. Zurück in Österreich muss er allerdings feststellen, dass die Reise trotz ihrer tiefen Eindrücke, die sie auf ihn gemacht hatte, nicht den erhofften Wendepunkt oder Aufschluss über seine Zukunft darstellt – wobei in der Zwischenzeit zudem sein Vater verstorben und er damit zum Erben des großen früheren Hotels in Gastein geworden ist. Die Entscheidungen über sein weiteres Leben sind ihm nicht abgenommen, höchstens noch schwieriger geworden. Hier bleiben? Die Nähe seiner Tochter in Kanada, seiner Schwester, einer Äbtissin in Salzburg, suchen? Sich endlich ausgiebig der Literatur – aktiv und passiv – widmen? Wessely bleibt unentschlossen, aber in jedem Falle eines: ein suchender Wanderer. Einer dieser so ruhigen, bedächtigen, aber alles andere als betulichen, sprachlich eleganten Romane, die den Stil Walter Kappachers (geboren 1938) charakterisieren. Große Kunst. 

 

T.S. Eliot: The Family Reunion.

Zum Geburtstag von Lady Monchensay, Witwe, residierend auf dem Landsitz der Familie, werden von deren Schwestern, ihren Schwagern und einer weiteren entfernten Verwandten, einer Ziehtochter, die drei Söhne der Hausherrin erwartet – womit die noch vorhandenen Mitglieder komplett versammelt werden. Neben dem festlichen Anlass gibt es so einiges zu regeln – und reden. Denn Lady Monchensay möchte aufgrund ihres Alters endlich vom Familienvorsitz zurücktreten und diesen mitsamt dem Landsitz an ihren ältesten Sohn Harry übergeben. Dieser hatte nach einer – zumindest von ihm so empfundenen wenig glücklichen – Kindheit, das Haus einst verlassen, und kehrt nun nach vielen Jahren wieder zurück, nicht gerade glücklicher, kam seine Frau doch vor kurzem bei einem Schiffsunfall ums Leben. So die offizielle Version. Der verstört wirkende Harry überrascht nämlich seine Familie nach Eintreffen mit dem Eingeständnis, seine Gattin über die Reling gestoßen zu haben. Erwartbarer benehmen sich seine beiden Brüder: Beide treffen nicht verspätet, sondern gar nicht ein. Der eine hat einen Autounfall, der andere Probleme mit der Justiz. Der herbeigerufene Hausarzt der Familie ebenso wie eine Befragung von Harrys altem Diener und Faktotum Downing, tragen wenig zur Erhellung über Harrys Zustand bei, das Rätselraten über seine Fähigkeiten zur Übernahme des Familienvorstands geht weiter. Nur Mary, Spielgefährtin der Kindheit und Außenseiterin am Hofe der Lady, aus Gnade und zur Unterhaltung einst hier aufgezogen, bringt Verständnis für ihn auf, der sich offensichtlich verfolgt fühlt von Ereignissen in der Vergangenheit, wie seine Visionen der Eumeniden, der antiken Rachegöttinnen, belegen. Unklar aber bleibt, ob es seine eigene Schuld ist oder tiefer in der Familie liegende Vorgänge, die unweigerlich nach oben drängen. Harry wird nicht bleiben – und gewissermaßen erneut flüchten. Ein Schock für Lady Monchensay. Klassiker von T.S. Eliot (1888 bis 1965), in Ibsenscher Manier, aber mit mehr formaler Strenge – Versmaßen und Chorkommentar – zum nie versiegenden Thema der zerstörerischen Familiengeheimnisse.   

 

einzlkind: Billy.

Unter dem etwas albernen Pseudonym einzlkind, eher nach einem dieser drittklassigen deutschen Hiphopper klingend, wird uns ein Roman präsentiert, der sich an die Originalität dieses Versteckspieles anschließt. Billy, aufgewachsen in Schottland unter von Gewalt geprägten, aber zugleich vom hausbacken philosophierenden Onkel beeinflussten Verhältnissen, wird von diesem in das Familienunternehmen eingeweiht und integriert. Gegen Bezahlung wird nach umfassender Recherche – diese gehört bereits zum Firmenangebot – eines der Mitglieder losgeschickt, um den Gesuchten oder die Gesuchte zu töten. Sozusagen „Murders Inc.“ zu Beginn des 21.Jahrhunderts. Einerseits wird klargestellt, dass man sich deshalb nicht für etwas Besseres hält – Motiv ist das Geld –, andererseits wird aber trotzdem, wenn auch nicht unbedingt moralisch argumentiert, so doch Wert daraufgelegt, dass man lediglich ein moralisches Defizit ausgleiche, da nur nicht ermittelte Mörder dem eigenen Verdikt verfallen, die zudem bewusst Unschuldige getötet haben. Nach Anfangsschwierigkeiten hat Billy es zu einer anerkannten Professionalität gebracht und ist nun nach erledigter Aufgabe unterwegs nach Las Vegas zum nächsten Termin. Dort holt ihn ein Fehler der Vergangenheit ein. Zugegeben, das Buch wirkt nicht provinziell – sieht man von der ständigen Erwähnung von Musiktiteln ab –, wenig mehr Positives lässt sich darüber allerdings auch nicht sagen, geschrieben ist es flüssig, bewegt sich ansonsten aber ständig im Bereich des Erwartbaren, einem Hang zum billig Grotesken – rollstuhlfahrender Elvis in Las Vegas, Bingo-Abend mit skurrilen Personen – und der pseudophilosophischen Rechtfertigung des unmoralischen Handelns, von der ständig betont wird, dass sie natürlich keine Rechtfertigung ist, naturgemäß ist Nietzsche dann der Lieblingsphilosoph. Etc. pp. Leider kein einzlroman.    

 


Marie Luise Kaschnitz: Beschreibung eines Dorfes.

In gewissem Sinne ist Marie Luise Kaschnitz‘(1901 bis 1974) „Beschreibung eines Dorfes“ ein wortwörtlicher Essay. Denn vordergründig, so möchte sie uns glauben machen, ist ihr Gang durch den Ort – Bollschweil bei Freiburg, ihr langjähriger Wohnort – nur ein Gedankenexperiment, eine Vorbereitung auf noch zu Schreibendes. An 21 Tagen, so leitet sie den Text und jedes einzelne Kapitel neu ein, würde sie sich einen bestimmten Aspekt des Dorfes vornehmen, um diesen genauer zu beschreiben. Was sie folglich niederschreibt, sind an sich nur Notizen für einen Plan. Der sich allerdings mit dieser Niederschrift bereits – womöglich – verwirklicht. Die genaue Beobachterin bleibt naturgemäß subjektiv, sowohl in der Auswahl des Präsentierten als auch in der Wahrnehmung, die sich über mehr als nur das Sehen erstreckt. Düfte und Geräusche nehmen eigene Kapitel ein, die Geschichte von Menschen und Bauten, aber auch Arbeitsvorgänge, Verlorenes und Hinzugewonnenes, weite Landschaft und exakte Details. Nur Idyll ist das nicht, mag manche Aneinanderreihung von Pflanzen- und Handwerksbeschreibung an die verdrängende Lyrik der 1950er Jahre anderer erinnern, so weicht die Kaschnitz nicht den bitteren Erlebnissen der länger zurückliegenden, aber auch der jüngeren Vergangenheit nicht aus. Zudem pflegt sie keine reine Nostalgie, wenn sie verschwundene Merkmale des Dorfes oder untergegangene Tätigkeiten erwähnt, mal schwingt Bedauern mit, mal Neugier, mal Erleichterung über Verbesserungen. Schönes Spätwerk einer Autorin, auf die das Etikett Dichterin noch im besten Sinne zutraf.    

 

Haruki Murakami: Tony Takitani.

Eine kurze Erzählung Murakamis (geboren 1949), aufgrund ihrer Verfilmung als Sonderband mit Aufnahmen aus Jun Ichikawas Adaption versehen. Tony Takitani ist der Sohn des japanischen Jazzmusikers Shozaburo Takitani, der den Krieg in Lokalen Shanghais und die anschließende Haft übersteht, nach der Rückkehr in die Heimat, wo sein Elternhaus zerstört und sämtliche engere Verwandtschaft umgekommen ist, schließlich eine entfernte Cousine heiratet. Diese stirbt bei der Geburt des Sohnes, der überforderte Vater benennt diesen nach einem Freund, Major der amerikanischen Besatzungsmacht, und geht ansonsten bald wieder seiner früheren Beschäftigung als Musiker und Lebemann nach. Tony wird erst von einer Haushälterin versorgt, später versorgt er sich selbst. Dies und sein Vorname, der ihn als vermeintliches Mischlingskind zum Außenseiter abstempelt, führen früh einerseits zu einer großen Ungebundenheit und Selbstständigkeit, andererseits zu einer andauernden Bindungslosig- und Einsamkeit. Als Graphiker arbeitend scheint sein Leben nicht allzu verschieden von dem seines Vaters, mit dem ihn ansonsten wenig verbindet. Doch die Begegnung mit einem jüngeren Mädchen scheint einiges zu ändern, es ist mehr als die übliche flüchtige Bekanntschaft. Was Tony anfangs so fasziniert hat, ihr kaum zu bändigendes Verlangen nach Mode, wird allerdings zunehmend zum Problem. Nach der Heirat wird der Kleider- und Schuhschrank immer riesiger, doch ausgerechnet der Entschluss, fortan zurückhaltender zu sein, hat fatale Folgen: Auf dem Weg zum Rücktausch in einem Kleidergeschäft wird Tonys Frau bei einem Verkehrsunfall getötet. Sein Versuch, die Trauer auf ungewöhnliche Weise einzudämmen, indem er eine Sekretärin anstellt, die die Kleider seiner Frau tragen soll, scheitert. Tony lässt alle Kleider und Schuhe abholen, kurz darauf verkauft er auch die wertvolle Plattensammlung seines kürzlich verstorbenen Vaters. Er bleibt vollkommen allein zurück.    

 

Marceline Loridan-Ivens: Und du bist nicht zurückgekommen.


Der Vater Marceline Loridan-Ivens (geboren 1928) war einst von Polen nach Frankreich gekommen, ein Land, das er für toleranter und fortgeschrittener hielt, wo er keine Furcht vor Pogromen mehr zu haben brauchte. Und vordergründig schien sein Traum sogar in Erfüllung zu gehen, als er sich ein Schloss kaufte, einen kleinen Ansitz in der Provinz. Seine Tochter aber spürt bereits das zwiespältige dieser für ihren Vater so wichtigen Erwerbung: Würde eine solche Behausung nicht eher noch die Isolation oder den Neid verstärken? Dass der Antisemitismus auch in Frankreich längst kein historisches Phänomen ist, wird spätestens klar, als die Kollaborateure des Vichy-Regimes nur allzu freiwillig die nicht-französischen Juden den Nazis zum Abtransport abliefern. Es ist ein französischer Milizionär, der sie und ihren Vater bei der Flucht aus dem Schloss festnimmt. Via Gefängnis und dem Sammellager Drancy geht es für beide in Richtung Polen. Die Prophezeiung des Vaters ist düster und gräbt sich tief in das Gedächtnis des 15jährigen Mädchens ein: Sie werde aufgrund ihrer Jugend vielleicht überleben, er dagegen nicht. Vor den Toren Auschwitz‘ trennen sich gewaltsam ihre Wege: Er kommt ins Hauptlager, sie nach Birkenau. Einmal begegnen sie sich kurz noch, berühren sich, sie wird dafür geschlagen und bestraft. Ein zweites Zusammentreffen gelingt nur noch stumm über die Ferne. Doch ihr Vater lässt ihr auf einem Zettel eine kurze Botschaft in die Baracke schmuggeln: ein lebensgefährliches Wagnis. Marcelines Trauma der Abwesenheit des Vaters, der nie mehr wiederkehren wird, manifestiert sich im Vergessen dieses Textes – bis auf die Anrede und Unterschrift –, diese Leerstelle wird nie mehr gefüllt werden wie die des Platzes ihres Vaters in der Familie. Beides bestimmt ihr Leben in der Nachkriegszeit, ein vordergründig durchaus erfolgreiches – gemeinsam mit ihrem zweiten Mann wird sie zu einer sehr bekannten politischen Filmregisseurin – und der Text, lesbar als Gespräch mit oder Brief an den Vater, ist eine der Folgen dieser untergründigen Unruhe und Sehnsucht. Steht für sich, braucht keinerlei Kommentar.      

 

Christa Wolf: Unter den Linden.  

Dass es sich um eine frühe Erzählung Christa Wolfs (1929 bis 2011) handelt, wird einem schnell bewusst, als sie beim Spaziergang ihrer Hauptfigur den – schieflaufenden – Wachwechsel Unter den Linden erwähnt, ein seltsames Überbleibsel preußischer Tradition, auf die sich ausgerechnet die sozialistische DDR-Diktatur gern berief. Was vermutlich auch viel verrät über diesen Staat. Die Erzählerin jedenfalls liebt diese Straße oder zumindest das Flanieren auf ihr, aber nur wenn sie hierbei allein ist. So groß ist ihre Sehnsucht, dass sie die Spaziergänge sogar in ihren Träumen fortsetzt, wobei bald nicht mehr klar zu unterscheiden ist, in welcher Sphäre sie sich gerade bewegt – obwohl die Traumschilderungen überwiegen dürften. Ins Groteske verzehren diese sich nur in Details, womöglich auch, weil die Wirklichkeit in manchem nicht weniger grotesk oder sogar noch unwirklicher wirkt, eine angenehme Atmosphäre herrscht dort nur bedingt, Kontrollen werden durchgeführt, alte Bekannte getroffen, von denen man nicht jeden wiedersehen wollte, ständig belästigt einen das Mädchen vom Land, was einen selbst etwas überheblich macht. Es ist also weniger ein Portrait des Boulevards als der eigenen Innenwelt, dementsprechend nicht gerade eine Nebenher- oder Flanierlektüre, eher etwas für Christa-Wolf-Hardcore-Fans.

 

John Irving: Garp und wie er die Welt sah.

Garp schrieb drei Romane – und stirbt. John Irving (geboren 1942) veröffentlichte einen vierten, „Garp“, schuf damit einen Welterfolg und lebt zum Glück immer noch. Und schuf weitere Welterfolge. Damit ist schon ein Widerspruch geschaffen, der jegliche autobiographische Deutungen ad absurdum führen sollte, die Garp im Roman – und Irving im Nachwort und auch sonst – dezidiert ablehnen, nach denen aber trotzdem immer wieder gesucht wird, dank oberflächlicher Parallelen. Aber wer mehr über diese Diskussion erfahren will, der braucht nur den Roman selbst zu lesen, denn einer der vielen Seitenaspekte ist die Frage nach dem „richtigen“ Schreiben, einem der Ziele Garps, nachdem er sich in der Schule vorgenommen hat, die Tochter seines Sportlehrers zu heiraten, die allerdings nur einen Schriftsteller ehelichen will – und zwar einen guten. Garp ist der Sohn einer alleinerziehenden Mutter, die, weil sie diese Form des Lebens als ideal ansah – Mutterschaft ohne einen Vater – in ihrer Funktion als Krankenschwester einst heimlich Sex mit einem bereits debilen, sterbenden Patienten hatte, um jegliches Aufsehen, aber auch die von ihr verachtete Lust zu vermeiden. Der Plan ging auf, Garp wächst unter der Obhut seiner exzentrischen, ihn behütenden Mutter, die nun das Krankenrevier einer Jungenschule unter sich hat, heran, wird Ringer und Schriftsteller, so dass er Helen, seine Auserwählte, tatsächlich heiraten kann. Aus ihrer – Helens – Sicht erst einmal mehr oder weniger aus Pragmatismus, doch aus der Ehe entstehen eine liebevolle Beziehung und letztlich drei Kinder. Während Garps Mutter durch Veröffentlichung ihrer Autobiographie zur feministischen Ikone wird, ein halbes Missverständnis, das sie aber zu nutzen weiß, indem sie anderen Frauen hilft, etabliert sich Garp als Autor, wobei er anfangs im Schatten seiner nun berühmten Mutter bleibt. Kleinere Affären und eine Art Beziehungstausch à la „Die Wahlverwandtschaften“ stören das Verhältnis der Eheleute nicht, bis eine der Liebschaften doch eine Katastrophe herbeiführt, die allerdings die Familie noch stärker zusammenschweißt. Zumindest die Teile, die noch leben. Dem Sog weiterer Katastrophen entgeht sie allerdings nicht. Diese sehr nüchterne und kurze Zusammenfassung ignoriert natürlich Hunderte der erwähnten Seitenstränge, die endlosen Einfälle Irvings am Rande des Grotesken, seine einmalige Kunst, Humor und Schrecken so zu verbinden, dass dadurch weder zynische schwarze Komödien noch sensationslüsterne oder verzweifelt depressive Texte entstehen. Irving eben, längst ein Klassiker, immer etwas zulange, immer mit den ein oder anderen Überdrehungen, die etwas zu viel sind, aber insgesamt ein „richtiger“ Schriftsteller, der die vermeintliche Leichtigkeit seiner Romane streng erarbeitet. Natürlich ein Klassiker.     

 

George Bernard Shaw: Heiraten.

Einmal mehr ein Gesellschaftsstück von George Bernard Shaw (1856 bis 1950), hier in der deutschen Übersetzung von Dieter Hildebrandt. Wie so oft, gerade bei kontroversen Themen, denen sich der streitlustige Shaw besonders gern widmete, schrieb er für die Buchausgabe ein ausführliches Vorwort, dessen Titel natürlich nicht minder – wenn nicht noch mehr – provokativ auf die britischen Gemüter wirkte: „Der Aufstand gegen die Ehe“. Böse geht Shaw mit dem damaligen Eherecht auf der Insel und überhaupt den zeitgenössischen Ansichten ins Gericht, das beziehungsweise die er nicht nur für völlig veraltet, sondern auch kontraproduktiv – es geht ihm unter anderem um den Kampf gegen den Bevölkerungsschwund – hält, sondern auch förderlich für Gewalt in der Ehe, Selbstmord, Armut und viel anderes Leid. Sein Vorschlag ist eine wesentlich vereinfachtere Möglichkeit zur Scheidung. Interessant ist, dass sowohl Shaw selbst in einer zwanzig Jahre später geschriebenen Ergänzung als auch sein Übersetzer Hildebrandt in den 1980er Jahren das Thema trotz zwischenzeitlicher Reform für weiterhin im Großen und Ganzen ungelöst halten. Liest man den Text heute, so wirkt nicht nur der vorangestellte Essay wesentlich spannender, sondern das Stück selbst, das den bezeichnenden Untertitel „Eine Debatte“ trägt wie eine auf die Bühne gebrachte Illustrierung des vorher Gesagten – was natürlich nicht verkehrt ist, aber für die Zuschauer:innen erst einmal so nicht ersichtlich war. Gepflegter Humor, eher – wie ebenfalls oft bei Shaw – ein Lesedrama, mit der Pointe, dass der Vertreter des liberalen Standpunkts ein Bischof der anglikanischen Kirche ist. Er hat seine Lehren aus der Verheiratung seiner zahlreichen Töchter gezogen.    

 

Max Dauthendey: Die acht Gesichter am Biwasee.

Eigentlich könnte man Verdacht hegen, hier auf reichlich verstaubte Literatur zu treffen: Symbolismus der Jahrhundertwende, angesiedelt in ‚exotischem‘ Ambiente, Geschichten von tragischer Liebe. Noch dazu ist kaum noch jemand der Name des Dichters – und er war ein Dichter, nicht einfach nur Schriftsteller – Max Dauthendey (1867 bis 1918), geboren in Würzburg, außerhalb intimster Kennerkreise geläufig. Immerhin, einige wenige seiner Werke werden noch immer aufgelegt, in renommierten Verlagen, dieses Büchlein etwa in der Bibliothek Suhrkamp. Wer Jugendstil-Schwulst, überkandidelte Sprache und Kitschneigung vermutet, der oder die wird jedoch enttäuscht werden. Dauthendeys „Acht Gesichter am Biwasee“ – mit Gesichter sind so etwas wie Visionen gemeint, obwohl die Geschichten ein realistisches Milieu aufweisen, natürlich nur im Rahmen des erwähnten Symbolismus – sind eine Sammlung japanischer Erzählungen, die sich heute des Vorwurfs kultureller Aneignung ausgesetzt sähen, so sehr versetzt sich der Autor in den Stil des Landes, bis hin zu einer gewissen Europaskepsis. Doch Dauthendey ist intelligent genug – und seiner Zeit somit gewissermaßen voraus – würde er nicht auch das thematisieren, so in der letzten Geschichte, die von der Heirat eines japanischen Künstlers mit einer Deutschen handelt. Natürlich muss sich Dauthendey trotzdem den Vorwurf eines möglicherweise naiven Exotismus gefallen lassen, aber vor allem sind seine Erzählungen geprägt von einem großen Respekt vor der japanischen Kultur, Geschichte und den jahrhundertealten Mythen. Zugleich sind sie für damalige Verhältnisse recht freizügig, was ihm später nicht wenig Kritik einbrachte – die Nazis hassten seine Bücher, was stets ein schönes Lob ist. Letztlich lässt sich einfach eines sagen: „Die acht Gesichter am Biwasee“ sind sprachlich wunderschön, es sind kluge, tragische Liebesgeschichten mit viel Hintergrund, gänzlich unverstaubt und noch immer ein großes Leseerlebnis.        

 

Kazimierz Brandys: Die Art zu leben.

Es ist ein Bühnenstück, allerdings ein sogenanntes Prosadrama. Nur ein einziger Mann monologisiert vor sich hin, auch wenn Kazimierz Brandys (1916 bis 2000) empfiehlt, diesen durch drei Schauspieler darstellen zulassen – die allerdings nicht unbedingt verschiedene Alter repräsentieren müssen, denn der zu überschauende Zeitraum ist nicht gar nicht so groß, dass er jugendliche oder greisenhafte Episoden umfasste. Der Protagonist, in der polnischen Verwaltung der Nachkriegszeit tätig, klagt uns sein Leid: Er ist von seiner Frau verlassen worden ausgerechnet zugunsten eines Kollegen, der mit ihm einst die Qualen des Lagers durchstanden hatte. Somit scheint die jammernde Eifersucht des betrogenen Ehemanns erst einmal durchaus berechtigt, die wie ein doppelter Verrat erscheint. Aber aus seinen Reden wird bald klar, dass von einer vorbildlichen und liebevollen Ehe scheinbar ebenfalls kaum gesprochen werden kann, entlarvt sich das vermeintliche Opfer nicht selbst und wird das Verhalten der Frau dadurch nicht wiederum nachvollziehbarer? Als Zuschauer:innen gerät man ins Schwanken zwischen Empörung über die Frau und den Freund, aber zunehmend auch über das Selbstmitleid des Redners, der nicht unbedingt einsichtig und sympathisch wirkt. Aber hat er nicht auch viel, darunter Schreckliches mitgemacht? War seine Untreue nicht von seiner Frau akzeptiert? Und bleibt das Verhalten des Kollegen, der ihm die Gattin ausspannt, nicht trotzdem eine Art Verrat? Vor allem aber: Kommt in der Jammerei des Mannes nicht untergründig seine große Liebe zu der Frau ans Licht? Und apropos Licht: Am Ende erhält er ein Schreiben, eine Bitte um Verzeihung. Womöglich ein Happy End?                                       

                     

                                                  

                                                                                                 

 

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