Die Lyrikern
Karin Boye ist außerhalb ihres Landes nicht sehr bekannt, doch auch um ihr
Prosawerk ist es nicht – mehr – allzu gut bestellt, was die Aufmerksamkeit
angeht. Dabei ist Astarte, ihr erster
kurzer Roman aus dem Jahr 1931, ein beunruhigendes Buch; seltsam mutet es an,
wie unverbraucht und erschreckend zeitgenössisch ihre neusachliche Schilderung
der jungen schwedischen Generation für den heutigen Leser daherkommt. Astarte,
die einst mächtige dämonische Göttin, ist nur noch Vorlage für eine neue
Schaufensterpuppe, deren Hüften auf Anordnung der Reklamefachleute allerdings
den Models der Kleidungsfirma angepasst werden müssen. Verbreitet wird die Mode
und das Frauenbild der Zeit durch Zeitschriften mit Namen à la „Die Welt des
Heimes“ und „Der heimische Herd“, was nicht sehr viel anders klingt als
„Schöner Wohnen“ oder der gesamte „Landhaus/-freund“-Blätterwald. Zuständig für
die Anfertigung der Kleidung sind kleine Kinder in...China. Karin Boye beweist
hier bereits einen ernüchterten Blick auf ihr Umfeld, mit ironischen Zügen, hinter
denen aber auch eine gewisse Abscheu durchscheint. Keine elitäre Verachtung,
sondern Verachtung für das vermeintlich Elitäre.
Eine ganz andere
als die modisch-oberflächliche Gesellschaft der Dreißiger Jahre schildert sie
knapp zehn Jahre später (1940) in ihrem Roman
aus dem 21.Jahrhundert (so der Untertitel): Kallocain. Das Buch gilt manchem als Klassiker der Dystopie neben
Orwells 1984, Huxleys Brave New World oder Samjatins Wir. Es ist Karin Boyes berühmtestes
Werk und es verdient, noch – oder wieder – viel berühmter zu werden.
Schließlich sind wir ja inzwischen längst in diesem 21.Jahrhundert angekommen.
Das Ende bleibt
offen, der Weltstaat, oder zumindest die Stadt, in der Kall wohnte, werden vom
Feind erobert, bevor die Wirkung des Kallocain die Gesellschaft gänzlich
unterhöhlt. Welch unreife und sinnlose
Forderung, einen Menschen für sich zu wollen, auf den man sich in jedem Falle,
was auch immer er tun möge, verlassen kann! hat sich Kall einst empört, der
am Ende von allen verlassen ist – und der durch das Kallocain erkennen musste,
das seine engste Umgebung, seine Frau und sein Chef (den er der Hinrichtung
ausgeliefert hat) viel weiter waren in ihren Sehnsüchten nach Freiheit.
Zwar ist ihm
dies bewusst geworden, doch als ihm der Feind anbietet, in Gefangenschaft seine
Erfindung nun für die andere Seite zu produzieren, greift er ohne längere
Überlegung zu. Das Kallocain wird somit weiterexistieren. Kall, der
Ich-Erzähler – das Buch ist ein fingiertes Manuskript – dient seinen neuen
Herren noch Jahre nach seinem Tod (in einer abschließenden Notiz des Zensors)
als abschreckendes Beispiel eines verkommenen Menschen aus dem korrupten Land
des Feindes. Hinter diesen Worten verbirgt sich – ein weiteres Mal – die böse, aber
auch schon resignierte Ironie der Karin Boye. Das feige Verhalten Kalls, der
den Samen gesetzt hat zur Zerstörung tausender Menschen und letztlich seiner
gesamten Gesellschaft, der aber auch erkannt hat, welche Möglichkeiten sich
hinter der totalitären Fassade verbergen, der am Ende bereits befreit wirkt,
ist zu schwach, ist tatsächlich korrupt und verkommen, und lebt in unwürdiger
Existenz, nur um passiv weiter die Leben anderer zu zerstören.
Dieses Buch, das ich jetzt zu schreiben
beginne, muss vielen sinnlos erscheinen, lautet der fulminante erste Satz
von Kallocain. Möglicherweise
kommentierte sich Karin Boye, wiederum ironisch gebrochen, indem sie diese
Worte Leo Kall in den Mund legt, hier selbst – es steht zu hoffen, das sie
damit nicht recht hat. Peter Weiss, selbst Emigrant in Schweden, hat die ihm
bekannte Schriftstellerin in seinem eigenen Meisterwerk verewigt. Dessen Titel
passt gut zu ihrem Leben und ihren Büchern: Die
Ästhetik des Widerstands.
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