Sonntag, 9. Februar 2014

Schwedin des Tages: Karin Boye.


 Auch Karin Boye hat den Literaturnobelpreis nicht bekommen, obwohl sie zu den wichtigsten schwedischen Lyrikerinnen des 20.Jahrhunderts gezählt wird. Mit dem Anfang eben dieses Säkulums 1900 (am 26.Oktober) in Göteborg zur Welt gekommen, ging sie, könnte man sagen, auch an dessen Krankheiten vorzeitig zugrunde. Schon mit 25 eine radikale Pazifistin (sie hatte eine führende Position in der Clarté-Bewegung des französischen Schriftstellers Henri Barbusse), erkannte sie nach einer ernüchternden Reise in die Sowjetunion die Gefahren des Parteikommunismus, fürchtete und verachtete aber noch mehr die aufsteigende faschistische Bewegung im benachbarten Deutschland. Der Beginn eines Zweiten Weltkriegs gerade einmal gut zwanzig Jahre nach dem Ende des Ersten dürfte ihr Vertrauen in die Menschheit und deren Zukunft zusätzlich schwer enttäuscht haben. Für sich persönlich sah sie mit vierzig Jahren keine mehr, nach mehreren gescheiterten Versuchen beging sie 1941 endgültig Selbstmord. 


Die Lyrikern Karin Boye ist außerhalb ihres Landes nicht sehr bekannt, doch auch um ihr Prosawerk ist es nicht – mehr – allzu gut bestellt, was die Aufmerksamkeit angeht. Dabei ist Astarte, ihr erster kurzer Roman aus dem Jahr 1931, ein beunruhigendes Buch; seltsam mutet es an, wie unverbraucht und erschreckend zeitgenössisch ihre neusachliche Schilderung der jungen schwedischen Generation für den heutigen Leser daherkommt. Astarte, die einst mächtige dämonische Göttin, ist nur noch Vorlage für eine neue Schaufensterpuppe, deren Hüften auf Anordnung der Reklamefachleute allerdings den Models der Kleidungsfirma angepasst werden müssen. Verbreitet wird die Mode und das Frauenbild der Zeit durch Zeitschriften mit Namen à la „Die Welt des Heimes“ und „Der heimische Herd“, was nicht sehr viel anders klingt als „Schöner Wohnen“ oder der gesamte „Landhaus/-freund“-Blätterwald. Zuständig für die Anfertigung der Kleidung sind kleine Kinder in...China. Karin Boye beweist hier bereits einen ernüchterten Blick auf ihr Umfeld, mit ironischen Zügen, hinter denen aber auch eine gewisse Abscheu durchscheint. Keine elitäre Verachtung, sondern Verachtung für das vermeintlich Elitäre.   

Eine ganz andere als die modisch-oberflächliche Gesellschaft der Dreißiger Jahre schildert sie knapp zehn Jahre später (1940) in ihrem Roman aus dem 21.Jahrhundert (so der Untertitel): Kallocain. Das Buch gilt manchem als Klassiker der Dystopie neben Orwells 1984, Huxleys Brave New World oder Samjatins Wir. Es ist Karin Boyes berühmtestes Werk und es verdient, noch – oder wieder – viel berühmter zu werden. Schließlich sind wir ja inzwischen längst in diesem 21.Jahrhundert angekommen. 

Leo Kall, ein Chemiker in Diensten des Weltstaates, einem von zwei totalitären Gebilden, die die Erde unter sich aufgeteilt haben, erfindet eine Art Wahrheitsserum. Einmal verabreicht, ist der damit infizierte für einige Minuten ohne jegliche Hemmungen bereit, sich zu seinen tiefsten Gefühlen und innersten Gedanken zu bekennen. Das Kallocain muss in den Augen des Überwachungsstaates wie ein Heilmittel für alle Probleme wirken, naturgemäß hat die Polizei größtes Interesse an Kall und seinem Geniestreich. Dieser, linientreu wie er ist, hat hiermit keinerlei Problem, im Gegenteil, er setzt große Hoffnungen für seine Karriere in die Zusammenarbeit mit den Behörden. Gerade weil in ihm stets unterdrückte Zweifel auftauchen, gebärdet er sich umso eifriger, Experimente an Menschen durchzuführen, die auch gelingen, und sich hiermit weiter oben anzubiedern. Der Satz des örtlichen Polizeichefs Jeder könnte aufgrund von Kallocain verurteilt werden, der so und in anderer Form immer wieder auftaucht, zeichnet die Gefahr nur zu deutlich an die Wand. Als die Anwendung offiziell ausgeweitet und durch strengere Gesetze zum Mittel für Massenverhöre werden kann, geschieht, was geschehen muss. Keiner kann unschuldig bleiben – die Menschen aus Kalls Umgebung verschwinden als Verurteilte nach ihren Geständnissen.

Das Ende bleibt offen, der Weltstaat, oder zumindest die Stadt, in der Kall wohnte, werden vom Feind erobert, bevor die Wirkung des Kallocain die Gesellschaft gänzlich unterhöhlt. Welch unreife und sinnlose Forderung, einen Menschen für sich zu wollen, auf den man sich in jedem Falle, was auch immer er tun möge, verlassen kann! hat sich Kall einst empört, der am Ende von allen verlassen ist – und der durch das Kallocain erkennen musste, das seine engste Umgebung, seine Frau und sein Chef (den er der Hinrichtung ausgeliefert hat) viel weiter waren in ihren Sehnsüchten nach Freiheit.

Zwar ist ihm dies bewusst geworden, doch als ihm der Feind anbietet, in Gefangenschaft seine Erfindung nun für die andere Seite zu produzieren, greift er ohne längere Überlegung zu. Das Kallocain wird somit weiterexistieren. Kall, der Ich-Erzähler – das Buch ist ein fingiertes Manuskript – dient seinen neuen Herren noch Jahre nach seinem Tod (in einer abschließenden Notiz des Zensors) als abschreckendes Beispiel eines verkommenen Menschen aus dem korrupten Land des Feindes. Hinter diesen Worten verbirgt sich – ein weiteres Mal – die böse, aber auch schon resignierte Ironie der Karin Boye. Das feige Verhalten Kalls, der den Samen gesetzt hat zur Zerstörung tausender Menschen und letztlich seiner gesamten Gesellschaft, der aber auch erkannt hat, welche Möglichkeiten sich hinter der totalitären Fassade verbergen, der am Ende bereits befreit wirkt, ist zu schwach, ist tatsächlich korrupt und verkommen, und lebt in unwürdiger Existenz, nur um passiv weiter die Leben anderer zu zerstören.
 

Dieses Buch, das ich jetzt zu schreiben beginne, muss vielen sinnlos erscheinen, lautet der fulminante erste Satz von Kallocain. Möglicherweise kommentierte sich Karin Boye, wiederum ironisch gebrochen, indem sie diese Worte Leo Kall in den Mund legt, hier selbst – es steht zu hoffen, das sie damit nicht recht hat. Peter Weiss, selbst Emigrant in Schweden, hat die ihm bekannte Schriftstellerin in seinem eigenen Meisterwerk verewigt. Dessen Titel passt gut zu ihrem Leben und ihren Büchern: Die Ästhetik des Widerstands.                       

 

 

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