Freitag, 5. Dezember 2014

Rainald Goetz: Kontrolliert. - Ein anderer Blick auf die RAF-Zeit.

Baader ist auch aus München, auch Herr Bachmann, der Attentäter auf Rudi Dutschke. Rainald Goetz monologisiert in dem Roman Kontrolliert von 1988 sein Münchner Studentenleben im Jahr des Deutschen Herbstes und stößt dabei in seinem Gedankenwust immer wieder auf Ambivalenzen wie die genannte, die gemeinsame – örtliche – Herkunft des Links- und des Rechtsextremisten. Was dies über ihre Gemeinsamkeit aussagt? Nichts – aber das ist gerade der Punkt. Aus der Verbindung lässt sich nichts ableiten, der Roman bringt ständig Thesen und Antithesen, oft wild durchmischt, oft undurchschaubar, nur Synthesen gibt es keine.

Hanns-Martin Schleyer: die väterliche Hassfigur

Exemplarisch sind die Kommentare zum entführten Hanns-Martin Schleyer, meist Schleier oder Schiller genannt, auch das schon Distanzierung zur Schwabenlachfigur, damit man nicht das Mitleid kriegt. Immer wieder ruft man sich ins Gedächtnis, dass Schiller die Universität Innsbruck als Untersturmführer der Schutzstaffel von Judenstämmlingen und Miesmachern gereinigt [hat], dann war er Präsident der Arbeiterausbeuter des Staates, eine Hassfigur für den Studenten; Sätze aus Schleyers Videogesprächen und Briefen werden regelmäßig neu gereiht und so in mehrfache Anklagen gedreht, einerseits des Staates, andererseits gegen ihn selbst: Er ist also Opfer der Terroristen und des Staates, doch nicht nur Opfer, denn [w]er einen echten Mensch mit einem Strick aus Zeit erwürgt am Arbeitsband in der Fabrik, der ist ein Mörder. Der ehemalige SSler und spätere Arbeitgeberpräsident ist [g]eschult, prinzipienlos im Augenblick zu tun, was augenblicklich größten Nutzen bringt – also ein karrieristischer Opportunist. Goetz reproduziert hier aber nicht unreflektiert eine Argumentation der RAF er schildert nur seine – damaligen – Gedanken angesichts der aktuellen Bilder; und er bleibt zwiespältig, [i]n den Augen, tief erniedrigt und entkräftet, war ein Flehen, wie er, eher widerwillig, eingesteht, es kostet oft Anstrengung, kein Mitleid aufkommen zu lassen.

Auflehnung gegen den Staat aus Gefühl

Dabei ist für den jungen Studenten im Jahr 1977 die Lage noch eindeutiger, hat die Freude an Schleier mit Politik nicht wirklich viel zu tun gehabt. Die Revolution kommt, das war das Gefühl. Ein lediglich dumpfes Gefühl, kein rationales, das Wissen, daß was herrliches geschieht, möglichst an der Oberfläche gehalten, um nicht ins Grübeln zu geraten, die staatsfeindliche Feindschaft am Leben erhalten zu können, dann wären alle Schweine weg, was man nicht denkt, weil es ausdrücklich gedacht ein Unsinn ist, aber das Gefühl fühlt sich ungefähr so an. Diese Zweifel darf man durch Vertiefung nicht nähren, man gefällt sich in dieser Staatskritik, weil der Schmidtstaat der totalste Staat ist, den man als Deutscher je gesehen hat, Jahrgang vierundfünfzig, der ironische Bruch des Wohlstandskindes wird hier deutlich vorgeführt, das überall der Faschismus lauert ist allgemeiner Konsens, worüber selbstverständlich nicht ein Wort zu reden war, weil alles das eh und sowieso klar war. Nur: Gescheiter als die Leute, die man dauernd agitiert, ist man selber auch nicht.

Bequemlichkeit statt Widerstand

Doch schlussendlich waren wir Sympathisanten, keine Täter, nur in Gedanken, [d]er Zorn redet in einem, meist nicht einmal aus einem raus, schießen tut er nicht, im Park ist man schnell wieder eher von echten poetischen Büchern gefesselt als von der Politik. Der Nichttatmensch analysiert sich selbst noch radikaler als reinen Systemopportunisten: Säße ich heute wirklich als Stammheimer in Haft, wäre das genau so richtig, so wie ich als real existierender sozialistischer Schreiber die Republik verherrlichen würde, wenn ich nicht in Deutschland würde, wo ich lebe, und konsequenterweise demokratisch realistisch Staatskunst mache. Genau genommen liegt darin die Erkenntnis, dass keine Erkenntnis vorliegt – sondern nur Anpassung. Das ist ein resignativer Zug.

Absage an die revolutionäre Gewalt

Denn auf jeden Triumph, die Euphorie, folgt die Einsicht, Macht kaputt, was euch kaputt macht, ist für jeden logisch zu verstehen und vernünftig, hingegen ist der Satz, die Knarre spricht ein Baaderschwachsinn und sonst nichts. Jede mögliche nachvollziehbare Erklärung der RAF, noch so geistig klar geordnet und politisch konsequent, desavouiert sich durch ihre Taten. Das Problem, an dem die ganze raf zerbricht, ist weder der Mercedes, noch der Buback, sondern sein Fahrer Wolfgang Göbel, […] da halfen keine Worte revolutionärer Herrlichkeit und Härte und so werden die Terroristen auch aus Sicht des den Staat verachtenden Erzählers konsequent verurteilt. Es gibt keine revolutionäre Moral, sagt die Geschichte.

Kontrolliert: ein radikales Zeugnis der Selbstbefragung

Rainald Goetz' Geschichte (nicht Roman) ist in ihrer Hypersubjektivität manchmal auf vielerlei Arten schwer erträglich, in der Sprache, in den Parolen, im Umgang mit den Personen und dem Staat, mit seinem Hass, der zu nichts führt und seiner Resignation. Der Erzähler ist manchmal ungerecht, manchmal unverständlich. Aber er hinterfragt sich ständig, seine Skepsis gilt nicht nur dem Staat, den anderen, seine Skepsis gilt vor allen Dingen sich selbst und seinen Ansichten. Das Buch ist sehr ehrlich und bietet deshalb Einsichten. Denen muss man nicht folgen, aber man muss sie respektieren, weil hier nicht zu vertuschen versucht wird. Und das Fazit, das sich an einer Stelle kurz vor Ende des Textes findet, dürfte für jeden nachvollziehbar sein, wo immer seine Sympathien liegen: Nach siebenundsiebzig war nichts mehr wie vorher. Der Staat nicht, die Revolution nicht, die Rolle Deutschlands nicht, und nicht die Stellung des bewaffneten Kampfes im Klassenkrieg, alles war gebrochen.
 
Rainald Goetz: Kontrolliert. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988.
Mehr von Rainald Goetz unter:
http://bene-a-rebours.blogspot.de/2014/11/die-bezahlbarkeit-der-welt-rainald.html
 

Mittwoch, 26. November 2014

Friedrich von Spee: O Heiland, reiß die Himmel auf.

Nahe am Advent ist es durchaus angebracht, sich einmal mit einem Klassiker des Kirchenlieds und dessen Autoren zu beschäftigen. Den dieser, der Jesuit Friedrich von Spee, war weitaus aktiver als nur als Dichter von Messgesängen. Dies zeigt sich exemplarisch in seinem kleinen Meisterstück O Heiland, reiß die Himmel auf:

Der Text des Liedes

O Heiland, reiß die Himmel auf,/Herab, herab, vom Himmel lauf.
Reiß ab vom Himmel Tür und Tor,/Reiß ab, wo Schloß und Riegel für.
O Gott, ein’ Tau vom Himmel gieß,/Im Tau herab, o Heiland, fließ.
Ihr Wolken, brecht und regnet aus/Den König über Jakobs Haus.
O Erd, schlag aus, schlag aus, o Erd,/Dass Berg und Tal grün alles wird.
O Erd, herfür dies Blümlein bring,/O Heiland, aus der Erden spring.
Wo bleibst Du, Trost der ganzen Welt,/Darauf sie all ihr Hoffnung stellt?
O komm, ach komm vom höchsten Saal,/Komm tröst uns hier im Jammertal.
O klare Sonn, du schöner Stern,/Dich wollten wir anschauen gern;
O Sonn, geh auf; ohn Deinen Schein/In Finsternis wir alle sein.
Hier leiden wir die größte Not,/Vor Augen steht der ewig Tod.
Ach komm, führ uns mit starker Hand/Vom Elend zu dem Vaterland.

Ein Klassiker der Adventsmusik

Wer sich zu diesem schlicht erscheinenden Text noch die tiefe und leicht melancholische Melodie hinzudenkt, dem wird das Lied einen tiefen Eindruck hinterlassen. Worin besteht nun die Besonderheit dieses Adventsgesangs, die ihn in eine Reihe stellt mit Tauet, Himmel den Gerechten, Es kommt ein Schiff geladen und dem leider etwas überstrapazierten Macht hoch die Tür’ und ihn doch von diesen völlig unterscheidet?
Mehrerlei Dinge fallen auf. Spees Sprache ist recht drastisch, teilweise gewaltsam, in jedem Falle sehr dynamisch: reiß, brecht, schlag, spring. Kein geruhsames Öffnen von Toren, kein gemächliches Herabtropfen des Taues (eine Metapher für den Gottessohn, vgl. in der römischen Liturgie die so genannten Rorate-Messen), kein Heranfahren eines schwer beladenen Schiffes.

Hexenverfolgung, Pest, Krieg – aber wo ist Gott?

Noch mehr Hintergrund in:
Karl-Jürgen Miesen: Friedrich Spee.
Priester, Dichter, Hexenanwalt.
Düsseldorf: Droste 1987.
Die Welt des Dichters Friedrich Spee von Langenfeld (1591-1635), eines Jesuitenpaters, ist völlig undurchschaubar geworden. Hineingeboren in eine bereits konfessionell völlig verfeindete Gesellschaft, erlebte er die Hochzeit der deutschsprachigen Hexenverfolgung, die ihn zutiefst entsetzte, im Alter von 27 Jahren brach der Dreißigjährige Krieg aus, Spee wird zur Pflege Pestkranker eingesetzt. Der junge Novize wollte diesem Chaos entfliehen, doch seine Gesuche, in der indischen Mission seinem Orden zu dienen, wurden abgelehnt.

Gegen die Hexenverfolger...

Spee stellte sich seinen Aufgaben in der Heimat und hat ein beeindruckendes Werk hinterlassen. Berühmt ist er noch heute für die einflussreichste Schrift wider die Hexenverbrennungen, Cautio Criminalis, anonym veröffentlicht, doch der Autor wurde bald bekannt – nicht gerade zur Freude seiner Vorgesetzten. Der junge Pater hatte selbst den Prozessen beigewohnt, in Würzburg, einer der Metropolen des ausufernden Wahns. Vorsichtig formulierte er, er könne bei keiner der Beschuldigten mit Sicherheit behaupten, er sei von ihren angeblichen Taten überzeugt. Dezidiert sprach er sich gegen die Anwendung der Folter aus.

... aber für die Gegenreformation

Er wurde in eine kleine rheinische Gemeinde versetzt, um dort gegenreformatorisch zu wirken, auch dieser Aufgabe widmete er sich – nicht ohne Härte aus Überzeugung – mit ganzem Einsatz und Erfolg. Hierdurch machte er sich wiederum keine Freunde, auf dem Weg zwischen den Dörfern seiner Pfarrei wird er eines Tages überfallen und schwer verletzt. Für Friedrich Spee gab es letztlich keinen passenderen Tod, als bei der Pflege von Pestkranken in Kriegszeiten sich selbst zu infizieren, er starb im Alter von 44 Jahren in Trier.

Katholische Barockdichtung

Dieser kurze biographische Abriss erhellt die Sprachverwendung eines Dichters, der neben Angelus Silesius als der einzige bedeutende deutschsprachige Barockdichter des Katholizismus gilt, was ihm einen Auftritt in Günter Grass’ Treffen in Telgte verschafft, einer imaginären Zusammenkunft der deutschen Lyriker des Barock. Spee bedient sich einer Sprache der Gewalt, die ihm aus dem Alltag vertraut ist. Doch versucht er sie gerade gegen diese Welt umzukehren, wie ihm überhaupt daran gelegen ist, der momentanen bekannten und zerbrochenen Ordnung einen Entwurf gegenüberzustellen, der jedoch derzeit unerreichbar weit entfernt scheint.

Aus der Zeit der Verzweiflung

Informative Kurzbiographie:
Walter Rupp: Dichter und Kämpfer
gegen den Hexenwahn. Mainz: Topos 2011.
Was an dem Lied so tief berührt, ist die darin spürbare quälende Sehnsucht, auch sie bedingt die starken Verben und die mehrfachen Aus- und Anrufe, besonders eindrücklich das mehrfache ach. Das ist mehr als die Jenseitspose der vielen anderen bekannten Gedichte dieser Zeit. 1622, zur Zeit der Entstehung, herrscht seit fünf Jahren ein Krieg, der seinen Höhepunkt längst noch nicht erreicht hat, Frieden ist nicht abzusehen.
Was Spee so sympathisch macht, ist auch die spürbare Verzweiflung. Hier spricht nicht ein von sich überzeugter Kleriker, der schalen Trost spenden will, besonders in der vierten Strophe ist zu spüren, dass Spee nicht frei war von Gefühlen der Gottverlassenheit, kaum verwunderlich bei den allgemeinen und persönlichen Niederschlägen, die er erleben musste. Beim Lesen und Hören des Liedes hat man oft das Gefühl, der Autor steht auf einer Kippe zwischen absoluter Verzweiflung und einem winzigen Rest von Hoffnung. Der ewig Tod, den er vor Augen sieht, die Angst, ist der Sturz in die ‚Krankheit zum Tode’, wie es Kierkegaard nannte, die Verzweiflung. Spee hofft; vielleicht weil er sich selbst nicht mehr sicher war.
Alle Bewegung geht auf das lyrische Ich zu, gehandelt wird nur von der Seite des angerufenen Gottes – bzw. wird dessen Handeln erwünscht. Das Kommen des Erlösers, es wird nur noch passiv erwartet, in einer Gesellschaft, die versagt hat. Unterschwellig kritisiert Spee auch die Politik, König und Vaterland haben bei ihm nur noch jenseitige Qualität, der Mensch hat sich dieser schutzverheißenden Obrigkeit als nicht würdig erwiesen.

Ein Ausweg?

Friedrich Spee ist einer großen Kleinen, die kaum ins allgemeine Bewusstsein vordringen. Auch die Amtskirche hat daran ihren Anteil: bis heute kam das Seligsprechungsverfahren des Jesuitenpaters nicht zu einem Abschluss. O Heiland, reiß die Himmel auf mit seiner verzweifelten Sehnsucht ist aktueller denn je. Und auch die Antwort, die es geben kann. Wie Spee nicht dem Nihilismus verfallen ist, weil er als gläubiger Katholik darauf vertraute, dass das Versprechen eingelöst wird.

Montag, 24. November 2014

Buchtipp: Kobo Abe "Die Erfindung des R 62".

Literatur aus Japan hat es nicht ganz leicht in deutschsprachigen Ländern - abgesehen von der Mangakultur für Jung und Alt und internationalen Autoren wie Kazuo Ishiguro ("Was vom Tage übrigblieb"), die auf Englisch schreiben hat vor allem Haruki Murakami dieses Feld quasi monopolisiert. Selbst ein Nobelpreisträger von 1994 wie Kenzaburo Oe ist nur Eingeweihten bekannt. So verwundert es kaum, dass ein in Japan hochangesehener Schriftsteller wie Kobo Abe bei uns kaum Bekanntheit aufweisen kann, noch dazu, wenn er sich auf ein Genre wie das der Phantastischen Literatur konzentriert. Der Suhrkamp-Verlag hatte 1997 den Versuch unternommen diesen Missstand etwas zu beheben und Abe auch den deutschen Lesern und Leserinnen schmackhaft zu machen und den Erzählband "Die Erfindung des R 62" aufgelegt. Ein kleiner Einblick in das Schaffen Abes.

Die Erfindung des R 62

Ein Ingenieur möchte seinem Leben ein Ende setzen, nachdem er seine Arbeit verloren hat. Doch ein Student hält ihn davon ab, jedoch nicht aus menschlichem Mitgefühl, sondern um ihn zu bitten, sein Leben doch einem Projekt zur Verfügung zu stellen, da er doch gewissermaßen sowieso bereits tot sei. Und so wird aus dem lebensmüden Menschen der Roboter R 62, dessen Aufgabe es sein wird, eine unglaubliche Maschine herzustellen. Das tut er auch, nur in ganz unerwarteter Manier.

Das Ei aus Blei

Ein Mann lässt sich in ein eiförmiges Gebilde einschließen, um darin 100 Jahre lang zu schlafen und anschließend frisch konserviert wiederzukehren. Doch das Ei wird verschüttet und erst nach 800 000 Jahren wiedergefunden. Der Mann lebt noch immer, doch die Menschen dieser Zeit haben sich völlig verändert - sie leben jetzt auf pflanzlicher Basis, durch ihre Adern fließt Chlorophyll, dementsprechend sind sie auch grünfarbig. Essen ist ihnen ebenso ungeheuer wie Arbeit, ihr größter Wunsch ist es, zu sterben, aber das ist ihnen erst nach 500 Jahren erlaubt. Der "Altzeitmensch" findet sich in dieser neuen Welt nicht zurecht - er flieht hinter die große Absperrung in die Welt der "Sklaven"...

Biographie einer Nixe

Ein Berufstaucher findet in einem Wrack eine eingeschlossene Nixe. Völlig fasziniert und in Bann gezogen von ihren hypnotiesierenden Augen will er sie an Land bringen. Dass sie sich offenkundig von Fleisch ernährt, sie hat die Wasserleichen aufgegessen, kommt ihn nicht seltsam, sondern hilfreich vor, denn so lockt er sie ans Ufer, wo er ihnen beiden bereits eine Wohnung gemietet hat. Fortan lebt sie bei ihm in der Badewanne, doch benimmt sich zunehmend seltsam. Und dann taucht da ein Nebenbuhler auf, der dem Taucher wie auf's Auge gleicht.

Menschengleich

Ein Radiomoderator, dessen satirische Sendung "Guten Morgen, Marsianer" von der Absetzung bedroht ist, da die Japaner gerade dabei sind, eine Mission zum roten Planeten erfolgreich umzusetzen, bekommt eines Tages Besuch von einem seiner treuen Zuhörer. Dummerweise hat dessen Frau kurz vorher angerufen, um dem Autor mitzuteilen, dass ihr Mann leider erst aus der Nervenanstalt zurück sei und zu Tobsuchtsanfällen neige. Für den Gastgeber gilt nun, den Besucher möglichst ruhig zu halten, bis dessen Frau ihn abholt. Nicht ganz einfach, denn der Gast ist überzeugt, er sei ein Marsianer. Als der Moderator auf sein Behauptung eingeht, wird der vermeintliche Marsianer erst recht mißtrauisch - womöglich hält man ihn für verrückt? Ein Geduldsspiel beginnt - und die Frau kommt und kommt nicht.

Raffinierte Gedankenwelten mit Überraschungen

Abes Erzählungen bewegen sich zwischen Phantastik und Science Fiction, im Mittelpunkt stehen aber menschliche Konfrontationen. Das eigene Menschsein wird im Aufeinanderteffen mit Robotern, Nixen, Neumenschen und Marsianern plötzlich ungewiss. Obwohl mit feiner Ironie und Liebe zu Skurillem und Groteskem sind Abes Geschichten aber doch geprägt von einem eher pessimistischen Grundgefühl, die überraschenden Wendungen am Ende der Texte haben oft etwas Drastisches. Fast schade, dass man Abe einen westlichen Autor nennen könne, so manches Mal vergisst man gar, dass wir in Japan sind - den Zugang nach Europa hätte ihm dies allerdings erleichtern können. Erleben wird er dies jedoch nicht mehr, Kobo Abe, geboren 1924, starb bereits 1993.

Kobo Abe: Die Erfindung des R 62. Erzählungen. Frankfurt/Main: 1997.

Freitag, 7. November 2014

Die Bezahlbarkeit der Welt: Rainald Goetz' Roman "Johann Holtrop".


Ein Roman von Rainald Goetz, erhältlich in jeder halbwegs gut sortierten Bahnhofsbuchhandlung, jahrzehntelang schien sich dies auszuschließen – knapp dreißig Jahre nach seinem Debüt Irre (1983) war es dann doch so weit, mit Johann Holtrop gelang ihm der unerwartete und relative Bestseller, allseits gelobt als Dokument des Zeitgeistes – was schon absurd genug ist, da sich Goetz immer mit seiner sehr eigenen Kommentierung des Zeitgeistes beschäftigt hat. Einzige Konzession an eine größere Leserschaft seitens des Autors ist allerdings ein etwas konventioneller Realismus – gleichbedeutend mit einem Verzicht auf die ständigen Gedankensprünge und Bewusstseinsströme seiner sonstigen Werke – nicht jedoch die Aufgabe eines unverhohlen subjektiven Standpunkts. Ergo muss der Erfolg des Buches daher rühren, dass Goetz’ Standpunkt derjenige ist, den – derzeit – auch viele Leserinnen und Leser einnehmen.

Wovon handelt dieser laut Untertitel doppeldeutige Abriss der Gesellschaft also? Diese so legitime wie banale Frage ist entweder kurz oder gar nicht zu beantworten. Die drei Abschnitte des Romans berichten aus dem Leben des Konzernchefs Johann Holtrop: erst die Ausübung seiner Macht an der Spitze eines Medienkonglomerats, dann sein plötzliches Scheitern und am Ende im Dauerlauf seinen endgültigen Abstieg. Was er da genau tut, wie es zu all den Dingen, die ihm widerfahren, kommt, wie er sich an der Spitze halten kann und warum er plötzlich abstürzt – ein Rätsel. Selbst eine akribisch-analytische Lektüre würde nicht schlauer machen. Womöglich würde mancher hierdurch frustrierte Leser dies der Inkompetenz des Autors ankreiden, läge damit jedoch völlig daneben.

Goetz bedient sich einer Methode, die schon H.G.Wells in seinem Klassiker The Time Machine gekonnt angewandt hat. Eben jene Zeitmaschine genauestens und mit Heraushebung von Details beschreibend, täuscht Wells raffiniert darüber hinweg, dass er eigentlich gar keine nachvollziehbare Schilderung des gesamten Gerätes liefert. Wie auch? Schließlich existiert die Zeitmaschine nicht. Entsprechend verfährt auch Goetz. Er beschreibt akribisch zahlreiche Vorgänge, Transaktionen, Verschwörungen und Theorien des Geschäftslebens, ohne dass sich ein klares und nachvollziehbares Gesamtbild ergibt. Fügt man die zahlreichen Episoden zusammen, bleiben sie in der Luft hängen. Wie auch nicht? Schließlich existiert hinter all dem Vordergründigen schlicht und einfach nichts. Autor und Leser sind gleich ratlos, wie jeder Laie – und Goetz’ Roman nach selbst die vermeintlichen „Insider“ – angesichts der Vorgänge in einer real nichts produzierenden Wirtschaft.

Der Protagonist jedenfalls hat selbst nie wirklich den Durchblick – bei nichts. Ihn leitet einige Zeit der Instinkt und zynische Skrupellosigkeit. Letztere besitzen allerdings alle seine Geschäftspartner und Kollegen, ersterer ist etwas, das sich naturgemäß nicht konservieren lässt. Irgendwann dreht sich der Wind, Holtrop bekommt dies nicht mit – was ihm nicht vorzuwerfen ist, da es hierfür keinen ausmachbaren Grund gibt – und aus der Präzisionsmaschine wird ein Absteiger, der am Ende so aus dem Tritt gerät, dass er versehentlich Selbstmord begeht; nur konsequent in einer Welt, in der jede absurde Folge eintreten kann.

Wie immer hat Goetz überhaupt keine Lust, so zu tun, als würde er objektiv beschreiben. Schon auf der ersten Seite wird durch die Charakterisierung des Unternehmens klar, wie wenig er von dieser ökonomisch geprägten Kultur hält, so kaputt wie Deutschland in diesen Jahren, so hysterisch kalt und verblödet [...] wie die Macher, die hier ihre Schreibtische hatten, sich die Welt vorstellten, weil sie selber so waren, gesteuert von Gier, der Gier, sich dauernd einen Vorteil zu verschaffen. Dieser Beschreibung der Jahre 1998 bis 2010 stimmen inzwischen viele zu, viele, denen dies – im Gegensatz zu Goetz – vorher nicht auffiel. Dieser war schon immer polemisch, nun könnten sich zahlreiche seiner Sätze auch in diversen Manifesten finden; nur nicht in dieser Schönheit. Herausgestellt sei lediglich ein Beispiel von vielen für Goetz’ Beherrschung der Sprache – darum ist dies auch Literatur und kein Pamphlet: „Gott sei mit denen, die ihn brauchen“, sagte Binz, „und so auch mit mir. Das war Binz’ Schnellnovene an den Gott der Frankfurter Börse. Präziser – und auch lustiger – kann man ethische Pervertierung kaum zusammenfassen; dass solch eine sich selbst widersprechende Schnellnovene zu nichts führt, ist so klar wie tröstlich.

Goetz nutzt auch das alberne Idiom der Wirtschaftseliten, krude Anglizismen, Platitüden mit Sehnsucht nach Tiefgang, ebenso unverständliche wie inhaltsleere Wissenschaftlichkeitsanmutung, geht darüber sogar noch eine Ebene hinaus. In der Literaturwissenschaft gibt es den Begriff des Fiktionsvertrages, das heißt der stillen Übereinkunft zwischen Autor und Leser, das Geschriebene nicht für die Beschreibung des empirisch Realen zu halten. Weniger kompliziert ausgedrückt, wer Johann Holtrop im Telefonverzeichnis sucht oder den Firmensitz Krölpa vergeblich googelt, ist offenbar ungeeignet, Fiktion und Fakten zu unterscheiden. Auch Goetz schließt naturgemäß diesen Fiktionsvertrag, nimmt dies jedoch noch buchstäblicher. An nicht gerade auffälliger Stelle findet sich nämlich eine sehr, sehr kleingedruckte Schutzschrift noch vor Beginn des Romans und sie ist für den Leser ähnlich kryptisch wie manche Vertragsklausel: Natürlich basiert dieser Roman auf der Realität des Lebens auch wirklicher Menschen. Aber es ist ein Roman, Fiktion, fiktiv in jeder Figur, alles hier Erzählte auch: Werk der Literatur. Dies entspricht einer alten Literaturtradition, ist zugleich tatsächlich Schutz vor einer allzu plumpen Lesart als Schlüsselroman; dass in die Figuren des Buches Personen der Zeitgeschichte – manche mit ihren echten Namen – eingeflossen sind, dürfte auch dem oberflächlichsten Querleser bald auffallen. Der Stolperstein dieser Anweisung liegt ohnehin in dem unscheinbaren Wort auch  auch: Werk der Literatur. Also: nicht nur. Doch erschöpft sich dies nicht in der rein literarischen Verschiebung echter Biographien, sondern verweist auf die Beschreibung des Zustandes. Leider – immerhin handelt es sich um den Zustand unserer Gesellschaft, wie ihn Goetz sieht. Man möchte ihm gern immer mal wieder widersprechen, lässt es nach längerem Nachdenken jedoch besser sein. Kurzum: Johann Holtrop ist ein Roman, der anders ist als der Protagonist, der ihm den Titel verleiht, nämlich: klug.     

 Rainald Goetz: Johann Holtrop. Abriss einer Gesellschaft. Berlin: Suhrkamp Verlag 2014.  

Siehe auch: http://bene-a-rebours.blogspot.de/2014/12/rainald-goetz-kontrolliert-ein-anderer.html
                          

 

Freitag, 31. Oktober 2014

Die Schnellschreibschule. Heute: Der Hyperlativ.

Der Hyperlativ – Journalismus und sprachliche Manipulation   

Sprachverfall? Nein, aber Sprachmissbrauch

Hierzu zwei einleitende Bemerkungen: Hier geht es keineswegs um die oft von fragwürdiger Seite vorgebrachte Klage um deutschen Sprachverfall. Superlativkonstruktionen im Deutschen sind weder schön noch hässlich, denn das sind in einer Sprache schwer überprüfbare Kategorien, sie liegen fast buchstäblich im Auge des Betrachters. Und ohne Superlativ wäre beispielsweise die literarische Bewegung der Romantik schwer vorstellbar. Sprache dient dem Verstehen untereinander und der Superlativ (auch der "Hyperlativ") erfüllt diesen Zweck problemlos. Deshalb ist er mitunter so populär.
Problematisch ist nur seine manipulative Kraft, eine Fähigkeit, die natürlich der Sprache (neben dem Bild) auf besonders unscheinbare Weise innewohnt. Und darum ist dies keine Klage, sondern eher eine Mahnung zur Vorsicht.

Dem Spiegel den Spiegel vorhalten

Die Auswahl des Spiegels ist nicht Zeichen von dessen außergewöhnlicher Perfidität, auch nicht der Abneigung, sondern eher der Neigung des Autors, jede andere Zeitschrift oder Zeitung könnte als Beispielgeber dienen, manche wären sicher noch nahe liegender. Doch ist der Spiegel deshalb gut geeignet, weil er über eine breite Leserschaft verfügt und hohes Ansehen genießt – mit anderen Worten: viel Einfluss besitzt. Die zitierten Sätze stammen alle aus Ausgaben des Jahres 2010.
 
"Es ist der 8. Mai 1985, und sie haben eben eine der bedeutendsten Reden der deutschen Geschichte gehört" (Spiegel 11/2010)
Und zwar von Bundespräsident Richard von Weizsäcker vor dem Bundestag zum Kriegsende vor vierzig Jahren. Die Rede war beachtlich und fand international viel Aufmerksamkeit, kein Zweifel, ein große Stunde des deutschen Parlamentarismus. Eine bedeutende Rede – sicher. Eine der bedeutendsten Reden – nun gut. Eine der bedeutendsten Reden der deutschen Geschichte – ja? Es wäre so einfach gewesen zu schreiben „der deutschen Nachkriegszeit“ oder „der Bundesrepublik“, man würde das nicht in Frage stellen. Aber gleich der gesamten deutschen Geschichte der letzten 1.100 Jahre? Die (welt)geschichtliche Auswirkung der Reden Ottos des Großen zu seinen Truppen vor der Schlacht auf dem Lechfeld, Luthers vor Karl V. oder – um ein völlig anderes, aber in seinen katastrophalen Folgen auf seine Weise eben 'bedeutendes' Beispiel zu nennen – Goebbels’ im Sportpalast 1943 waren sicher spürbarer als es Weizsäckers Rede jemals sein wird. Und daran wird sich auch nichts ändern.
 
"Simon Ammann ist der größte Skispringer aller Zeiten" (Siegel 9/2010)
Nicht vielleicht Jens Weißflog – oder gar Sven Hannawald, der als einziger bisher alle Springen der Vierschanzentournee gewonnen hat? Doch es geht nicht um die durchaus respektablen Leistungen des kleinen Schweizers Ammann, sondern um den schönen Hyperlativ aller Zeiten, sehr gern benutzt von der Werbebranche, aber da sind die Kunden dies gewohnt – und nehmen es auch nicht so ernst. Aller Zeiten heißt ja, dass es nie mehr einen solchen geben wird – alle gegenwärtigen Skispringer und auch alle der Zukunft sollten demnach den Beruf wechseln, es sei denn, sie geben sich (wie offenkundig Weißflog und Hannawald) mit dem Mittelmaß zufrieden. Zum Trost hatten wir Deutschen kurzzeitig wenigstens einmal "den größten Feldherrn aller Zeiten", woran aber inzwischen schon niemand mehr so richtig glauben mag – zum Glück.
 
"... als eine der besten TV-Serien aller Zeiten" (Spiegel 20/2010)
Gemeint ist "The Wire". Noch, denn vielleicht sieht es in ein paar Jahren anders aus. Doch hier war der Verfasser immerhin vorsichtiger, er benutzt den unbestimmten Artikel und schenkt damit anderen TV-Serien die Hoffnung, auch noch zu den besten aller Zeiten gehören zu können. Das nennt man generös.
 
"Auf den Rückfall in die fürchterlichste Vergangenheit folgte die gegenwärtigste Gegenwart aller Zeiten" (Spiegel 20/2010)
Hier hat man dann schließlich auch bald die Grenzen der Verständlichkeit erreicht – und Sprache damit endgültig zweckentfremdet. Was vermutlich besonders beeindruckend klingen soll, wirkt lediglich unfreiwillig komisch. Gemeint ist übrigens der Wiederaufbau deutscher Städte nach 1945. Was gegenwärtigste Gegenwart ist, weiß nur der Verfasser des Spiegel-Artikels, vielleicht noch Martin Heidegger, wie eine Gegenwart alle Zeiten repräsentieren soll, weiß ... der Teufel.
 
"Die Szene, in der eine Wärterin ein faustgroßes Stück Zucker auf den Tisch in der Gemeinschaftszelle der Ausgehungerten legt, gehört zum Entsetzlichsten, was jemals beschrieben worden ist" (Spiegel 25/2010)
Das mag sein – doch warum hatte dann bis zu ihrer Wiederentdeckung kaum jemand von der Autorin Angela Rohr, um die es in dem Artikel geht, etwas gehört (oder gelesen). Nun, das mag tatsächlich ein Fehler der Leserschaft sein, solche Fälle gibt es – leider – in der Literaturgeschichte. Trotzdem untermauert es nicht gerade die Behauptung der Verfasserin. Auch hier reicht der Superlativ nicht, er muss noch durch ein jemals erweitert werden, das gleich die gesamte Literatur der Welt mit einschließt.
 
"Im Augenblick ist Buenos Aires die wohl aufregendste Stadt der Welt" (Spiegel 40/2010)
Darum hat man bis zur Frankfurter Buchmesse, aus deren Anlass der Artikel damals gedruckt wurde, außer Meldungen über diverse argentinische Staatsbankrotte so gut wie nichts von ihr gehört. Doch die sind schließlich auch ziemlich aufregend, zugegeben. Der Autor lässt mit seinem wohl auch Zweifel zu, zurecht, denn morgen ist wieder Berlin die aufregendste Stadt aller Zeiten (und des Planeten selbstverständlich) und übermorgen Shanghai, dann vielleicht Istanbul. Und letzten Endes kann uns das egal sein, schade um die ganze Aufregung, weil London, New York und Paris wohl – gerade auf kulturellem Niveau – tonangebend bleiben werden wie nun schon seit Jahrzehnten.
 
Wie schon erwähnt, die Werbebranche liebt den Superlativ und ganz besonders als Hyperlativ, viele Politiker sind ihr darin gefolgt, auch sie wollen schließlich gewissermaßen etwas verkaufen. Man hat sich daran gewöhnt. Den Marketing-Experten wird der Gebrauch des Hyperlativs kaum, den Politikern schon viel eher schaden. Dem seriösen Journalismus schadet er in jedem Fall. Denn jeder Hyperlativ ist schon eine Art Falschmeldung. Nur vielleicht nicht die größte Falschmeldung aller Zeiten, die jemals gedruckt wurde – das kann sein.

Weitere Folgen der Schnellschreibschule:
http://bene-a-rebours.blogspot.de/2012/12/die-schnellschreibschule-heute.html
und
http://bene-a-rebours.blogspot.de/2013/01/die-schnellschreibschule-heute.html

Donnerstag, 21. August 2014

Lessing fährt in den Urlaub - Der Fuchs und der Storch.


Gotthold Ephraim Lessing:

Der Fuchs und der Storch.



„Erzähle mir doch etwas von den fremden Ländern, die du alle gesehen hast", sagte der Fuchs zu dem weit gereisten Storche.

Hierauf fing der Storch an, ihm jede Lache, und jede feuchte Wiese zu nennen, wo er die schmackhaftesten Würmer, und die fettesten Frösche geschmaust.

(c) BG
 
„Sie sind lange in Paris gewesen", mein Herr. „Wo speiset man da am besten? Was für Weine haben Sie da am meisten nach ihrem Geschmacke gefunden?"


Mehr über Lessings Fabeln unter
http://suite101.de/article/lessings-fabeln-und-seine-fabeltheorie-a104115#.U_R32CDwDIU

Montag, 28. Juli 2014

Stefan George - Komm in den totgesagten park

 
 
Komm in den totgesagten park




Komm in den totgesagten park und schau:
Der schimmer ferner lächelnder gestade
Der reinen wolken unverhofftes blau
Erhellt die weiher und die bunten pfade.


Dort nimm das tiefe gelb - das weiche grau
Von birken und von buchs - der wind ist lau
Die späten rosen welkten noch nicht ganz
Erlese küsse sie und flicht den kranz


Vergiss auch diese letzten astern nicht
Den purpur um die ranken wilder reben
Und auch was übrig blieb von grünem leben
Verwinde leicht im herbstlichen gesicht.


Stefan George, 1895

Sonntag, 9. Februar 2014

Schwedin des Tages: Karin Boye.


 Auch Karin Boye hat den Literaturnobelpreis nicht bekommen, obwohl sie zu den wichtigsten schwedischen Lyrikerinnen des 20.Jahrhunderts gezählt wird. Mit dem Anfang eben dieses Säkulums 1900 (am 26.Oktober) in Göteborg zur Welt gekommen, ging sie, könnte man sagen, auch an dessen Krankheiten vorzeitig zugrunde. Schon mit 25 eine radikale Pazifistin (sie hatte eine führende Position in der Clarté-Bewegung des französischen Schriftstellers Henri Barbusse), erkannte sie nach einer ernüchternden Reise in die Sowjetunion die Gefahren des Parteikommunismus, fürchtete und verachtete aber noch mehr die aufsteigende faschistische Bewegung im benachbarten Deutschland. Der Beginn eines Zweiten Weltkriegs gerade einmal gut zwanzig Jahre nach dem Ende des Ersten dürfte ihr Vertrauen in die Menschheit und deren Zukunft zusätzlich schwer enttäuscht haben. Für sich persönlich sah sie mit vierzig Jahren keine mehr, nach mehreren gescheiterten Versuchen beging sie 1941 endgültig Selbstmord. 


Die Lyrikern Karin Boye ist außerhalb ihres Landes nicht sehr bekannt, doch auch um ihr Prosawerk ist es nicht – mehr – allzu gut bestellt, was die Aufmerksamkeit angeht. Dabei ist Astarte, ihr erster kurzer Roman aus dem Jahr 1931, ein beunruhigendes Buch; seltsam mutet es an, wie unverbraucht und erschreckend zeitgenössisch ihre neusachliche Schilderung der jungen schwedischen Generation für den heutigen Leser daherkommt. Astarte, die einst mächtige dämonische Göttin, ist nur noch Vorlage für eine neue Schaufensterpuppe, deren Hüften auf Anordnung der Reklamefachleute allerdings den Models der Kleidungsfirma angepasst werden müssen. Verbreitet wird die Mode und das Frauenbild der Zeit durch Zeitschriften mit Namen à la „Die Welt des Heimes“ und „Der heimische Herd“, was nicht sehr viel anders klingt als „Schöner Wohnen“ oder der gesamte „Landhaus/-freund“-Blätterwald. Zuständig für die Anfertigung der Kleidung sind kleine Kinder in...China. Karin Boye beweist hier bereits einen ernüchterten Blick auf ihr Umfeld, mit ironischen Zügen, hinter denen aber auch eine gewisse Abscheu durchscheint. Keine elitäre Verachtung, sondern Verachtung für das vermeintlich Elitäre.   

Eine ganz andere als die modisch-oberflächliche Gesellschaft der Dreißiger Jahre schildert sie knapp zehn Jahre später (1940) in ihrem Roman aus dem 21.Jahrhundert (so der Untertitel): Kallocain. Das Buch gilt manchem als Klassiker der Dystopie neben Orwells 1984, Huxleys Brave New World oder Samjatins Wir. Es ist Karin Boyes berühmtestes Werk und es verdient, noch – oder wieder – viel berühmter zu werden. Schließlich sind wir ja inzwischen längst in diesem 21.Jahrhundert angekommen. 

Leo Kall, ein Chemiker in Diensten des Weltstaates, einem von zwei totalitären Gebilden, die die Erde unter sich aufgeteilt haben, erfindet eine Art Wahrheitsserum. Einmal verabreicht, ist der damit infizierte für einige Minuten ohne jegliche Hemmungen bereit, sich zu seinen tiefsten Gefühlen und innersten Gedanken zu bekennen. Das Kallocain muss in den Augen des Überwachungsstaates wie ein Heilmittel für alle Probleme wirken, naturgemäß hat die Polizei größtes Interesse an Kall und seinem Geniestreich. Dieser, linientreu wie er ist, hat hiermit keinerlei Problem, im Gegenteil, er setzt große Hoffnungen für seine Karriere in die Zusammenarbeit mit den Behörden. Gerade weil in ihm stets unterdrückte Zweifel auftauchen, gebärdet er sich umso eifriger, Experimente an Menschen durchzuführen, die auch gelingen, und sich hiermit weiter oben anzubiedern. Der Satz des örtlichen Polizeichefs Jeder könnte aufgrund von Kallocain verurteilt werden, der so und in anderer Form immer wieder auftaucht, zeichnet die Gefahr nur zu deutlich an die Wand. Als die Anwendung offiziell ausgeweitet und durch strengere Gesetze zum Mittel für Massenverhöre werden kann, geschieht, was geschehen muss. Keiner kann unschuldig bleiben – die Menschen aus Kalls Umgebung verschwinden als Verurteilte nach ihren Geständnissen.

Das Ende bleibt offen, der Weltstaat, oder zumindest die Stadt, in der Kall wohnte, werden vom Feind erobert, bevor die Wirkung des Kallocain die Gesellschaft gänzlich unterhöhlt. Welch unreife und sinnlose Forderung, einen Menschen für sich zu wollen, auf den man sich in jedem Falle, was auch immer er tun möge, verlassen kann! hat sich Kall einst empört, der am Ende von allen verlassen ist – und der durch das Kallocain erkennen musste, das seine engste Umgebung, seine Frau und sein Chef (den er der Hinrichtung ausgeliefert hat) viel weiter waren in ihren Sehnsüchten nach Freiheit.

Zwar ist ihm dies bewusst geworden, doch als ihm der Feind anbietet, in Gefangenschaft seine Erfindung nun für die andere Seite zu produzieren, greift er ohne längere Überlegung zu. Das Kallocain wird somit weiterexistieren. Kall, der Ich-Erzähler – das Buch ist ein fingiertes Manuskript – dient seinen neuen Herren noch Jahre nach seinem Tod (in einer abschließenden Notiz des Zensors) als abschreckendes Beispiel eines verkommenen Menschen aus dem korrupten Land des Feindes. Hinter diesen Worten verbirgt sich – ein weiteres Mal – die böse, aber auch schon resignierte Ironie der Karin Boye. Das feige Verhalten Kalls, der den Samen gesetzt hat zur Zerstörung tausender Menschen und letztlich seiner gesamten Gesellschaft, der aber auch erkannt hat, welche Möglichkeiten sich hinter der totalitären Fassade verbergen, der am Ende bereits befreit wirkt, ist zu schwach, ist tatsächlich korrupt und verkommen, und lebt in unwürdiger Existenz, nur um passiv weiter die Leben anderer zu zerstören.
 

Dieses Buch, das ich jetzt zu schreiben beginne, muss vielen sinnlos erscheinen, lautet der fulminante erste Satz von Kallocain. Möglicherweise kommentierte sich Karin Boye, wiederum ironisch gebrochen, indem sie diese Worte Leo Kall in den Mund legt, hier selbst – es steht zu hoffen, das sie damit nicht recht hat. Peter Weiss, selbst Emigrant in Schweden, hat die ihm bekannte Schriftstellerin in seinem eigenen Meisterwerk verewigt. Dessen Titel passt gut zu ihrem Leben und ihren Büchern: Die Ästhetik des Widerstands.                       

 

 

Samstag, 8. Februar 2014

Schwedin des Tages: Charlotta Jonsson.



Der Schwedenkrimi ist ein Mythos – und ein Mysterium. Seit den Romanen des Autorenduos Maj Slöwall und Per Wahlöö hat sich der sozialkritische Krimi aus dem Norden etabliert, mit den Büchern Henning Mankells und zahlreicher Nachfolger mit nicht minderem Erfolg (Hakan Nesser, Stieg Larsson, der Norweger Jo Nesbo und viele mehr) seit den Neunziger Jahren den gesamten Kontinent, aber insbesondere die deutschen Bücherregale zahlreich bevölkert. Zeitweilig musste man den Eindruck gewinnen, mancher Autor habe seinen Namen einfach kurzerhand skandinavisiert oder doch wenigstens die Handlung Richtung Norden verlegt, um mehr Leserinnen und Leser zu finden.

Stellt sich natürlich die Frage, warum gerade die Nachbarn aus der Bundesrepublik mit offensichtlich wohligem Grusel jedem schwedischen Krimi-Schreiber seine mehr oder minder spannenden Ergüsse regelrecht aus der Hand rissen? Vielleicht war man hierzulande ganz froh, lesen zu können, dass im landschaftlich so schönen und sozial so fürsorglichen Schweden auch nicht alles Gold war, was glänzt und sich unter der harmonischen Oberfläche blutig-brutale Abgründe auftaten. Dafür hätte man allerdings auch einfach nur in die Zeitung sehen können.  

Es konnte nicht ausbleiben, dass auch die Filmindustrie sich die Attraktivität der Schwedenkrimis zunutze macht, weshalb nun auch das Vorabend- und Nachtprogramm zahlreiche Einblicke in das Leben skandinavischer Kommissare und Kommissarinnen, aber natürlich auch bösartiger Verschwörerzirkel und skrupelloser Mörder gewährt – wobei der ursprüngliche Nebeneffekt, etwas über Land und Leute sowie politische Verhältnisse zu erfahren, manches Mal nur noch reichlich dürftig zu Tage tritt. Neben eigenständigen Filmen und Serien war es nur natürlich, dass auch Mankells Romane eine Bildschirmversion bekommen sollten (letztlich sogar drei, die gleich erwähnte, eine frühere Fernsehversion und eine spätere britische Reihe).

Dem verdanken wir es – aufgrund der Beliebtheit des Genres in Deutschland beteiligte sich die ARD an der Finanzierung –, dass in die heimischen Flimmerkisten erfreulicherweise schwedische Schauspielkunst zu besten Sendezeiten Einzug erhielt (also nicht nur ab und zu ein Ingmar-Bergman-Film kurz nach Mitternacht auf arte). Insbesondere erfeulich ist dies im Fall der Akteurin Charlotta Jonsson.

Charlotta Jonsson, geboren am 11.Mai 1973, übernahm nämlich die Rolle von Wallanders Tochter Linda während der Phase, in der der alternde Kommissar – eine ebenfalls sehr gekonnte schauspielerische Leistung des Hauptdarstellers Krister Henriksson – aufgrund seiner Alzheimer-Krankheit stark abbaut, ohne sich dies einzugestehen. Das verlangt, wenig überraschend, der mit ihm zusammenarbeitenden Tochter einiges ab. Charlotta Jonsson setzt dies in ihrer Rolle als das Dilemma zwischen Verpflichtung gegenüber dem Vater (nachdem er ihr seine Krankheit endlich eingestanden hat) und Überforderung mit der Situation in ihrer zurückhaltenden Art bewundernswert um.

Dies liegt mit Sicherheit auch daran, dass sie von der klassischen Bühne kommt, sie studierte erst in New York, später dann an der Theaterhochschule in Göteborg. Noch immer spielt sie regelmäßig auf den Bühnen der schwedischen Großstädte, und gelegentlich übernimmt sie auch die Regie. Dem heimischen Publikum in Schweden ist sie jedoch besonders aus zahlreichen Serien und TV-Filmen bekannt, dazu leiht sie ihre Stimme gern für Radioproduktionen, und hin und wieder auch -werbung. So gesehen (und gehört) sind die schwedischen Nachbarn mal wieder im Vorteil, denn nachdem Kurt Wallander in der deutsch-schwedischen Kooperation inzwischen seinen Dienst beendet hat, müssen wir wohl erstmal auf ihre Präsenz hier im Süden verzichten. Bleibt auf die Wiederholungen zu hoffen, auf neue schwedische TV-Filme kurz nach Mitternacht auf arte – oder die Besetzung Charlotta Jonssons als Kommissarin in irgendeinem neuen Schwedenkrimi.
 
 

 Homepage (schwedisch): http://charlottajonsson.com/

                

Freitag, 7. Februar 2014

Schwede des Tages: Olof Palme.



Olof Palme, Bruno Kreisky, Willy Brandt, das war Anfang der Siebziger Jahre das Dreigestirn der europäischen Sozialdemokratie und ein ersehnter Lichtblick für alle, die mit dieser sympathisierten. Der eine, Willy Brandt, seit 1969 Bundeskanzler Westdeutschlands, dass er aus dem Muff der klerikal-konservativen Adenauerjahre und zur Aussöhnung mit dem Ostblock führte. Der andere, Bruno Kreisky, machte sein kleines, fast vergessenes Land Österreich aufgrund von dessen geographischer Lage und Neutralität seit seinem Amtsantritt 1970 zu einem wichtigen Vermittler der Blöcke. Und der dritte im Bunde, Olof Palme, hatte seit 1969 das Glück, Schweden regieren zu dürfen, ein Land, das, wie schon erwähnt, ohnehin jeder in Europa zu beneiden schien um seine wirtschaftliche Stabilität, seine Neutralität und vor allem seinen fürsorglichen Sozialstaat plus hervorragender Bildung für den Nachwuchs. Ganz zu schweigen davon, dass alle drei die jeweilige Gesellschaft ihres Landes um einiges voranbrachten, indem sie demokratische und soziale Reformen anstrebten und durchsetzten. 

Mitte der Achtziger Jahre war von dieser Aufbruchstimmung nur wenig geblieben. Willy Brandt war schon 1974 als Bundeskanzler mehr oder weniger freiwillig abgetreten, Bruno Kreisky legte sein Amt nach Verlust der absoluten Mehrheit 1983 nieder, fädelte als eine Art Danaergeschenk für die österreichische Politik jedoch vorher noch eine Koalition mit der rechtslastigen FPÖ für seinen Nachfolger – Fred Sinowatz – ein.

Allein Olof Palme regierte noch immer – oder besser wieder: 1982 kam er nach einer mehrjährigen Unterbrechung noch einmal ins Amt des schwedischen Regierungschef zurück. 1969 hatte er dieses vom langjährigen und sehr populären Ministerpräsidenten Tage Erlander (1945-1969) übernommen, dem der am 30.Januar 1927 in Stockholm geborene Palme bereits als Verkehrs- und Bildungsminister gedient hatte. Die Sozialdemokraten standen in Schweden auf dem Höhepunkt ihrer Macht, die Wirtschaft brummte, mit den hohen Steuereinnahmen finanzierte man das berühmte aus der Vorkriegszeit übernommene und den modernen Verhältnissen angepasste Volksheim-Modell umfassender Fürsorge und Bildung. Man war Mitglied der UNO, trotzdem neutral mit einer gewissen Anbindung an den Westen, das Verhältnis zur nahen Sowjetunion war jedoch ebenfalls überwiegend freundlich.

Palme war, wie seine Zusammenarbeit mit Kreisky und Brandt und viele weitere von ihm ausgehende oder mitgetragene internationale Initiativen zeigten, auch ein versierter Außenpolitiker, innenpolitisch war seine Amtszeit besonders am Beginn geprägt von allgemeinem Wohlstand und ruhigen Verhältnissen, der Verwirklichung des Ideals der „starken“, aber vor allem „freien Gesellschaft“. Mit der Ölkrise und dem damit einerseits einhergehenden wirtschaftlichen Abschwung und andererseits einer stark polarisierenden Debatte über Atomkraft zeigten sich erstmals ernste Krisensymptome. Ersterem war nur mit immer weiteren Steuererhöhungen beizukommen, letzteres spaltete die schwedische Wählerschaft. Offiziell unterstützte die sozialdemokratische Partei den Ausbau der als umweltfreundlich und ölsparend erachteten AKWs, doch in der Bevölkerung stieß diese Sicht der Dinge bei weiten Teilen auf wenig Gegenliebe. Einen Kompromiss (Förderung des gegenwärtigen Ausbaues, aber langfristig Ausstieg) gab es erst 1979 – da war Olof Palme schon nicht mehr an der Regierung.

1976 war er abgewählt worden, es folgte eine Zeit bürgerlich-konservativer Regierungen, die erst 1982 nach einer weiteren verlorenen Wahl 1979 wieder besiegt werden konnten. Und zwar von Olof Palme, der somit seine zweite Amtszeit als Ministerpräsident antrat. Das maßgebliche Ziel, den Sozialstaat ohne Abstriche zu erhalten, war ohne drastische Belastungen durch Steuern nicht durchführbar, dazu kam eine unerwartete Krise mit der Sowjetunion, denn ein 1981 in schwedischen Gewässern aufgetauchtes U-Boot hatte für Befürchtungen unter den Schweden gesorgt, die eine erhebliche Aufrüstung zur Folge hatten.  

1986, am 28.Februar, wurde Olof Palme nach einem Kinobesuch in Stockholm Opfer eines Attentats, bei dem auch seine Frau verletzt wurde. Die Hintergründe wie auch die Suche nach den Tätern wurden bald zum Anlass zahlreicher Spekulationen – aufgeklärt wurde der Anschlag jedoch bis zum heutigen Tage nicht. Die prominenteste Theorie geht von einer Verwicklung rechtsradikaler Kreise und von Beteiligten auch innerhalb der schwedischen Polizei aus, doch bewiesen wurde all dies nie. Obwohl Land und Partei ohnehin längst in der Krise steckten, wirkte der Mord an Olof Palme wie ein Fanal, dass die Hoffnungen des gesellschaftlichen Aufbruchs der 70er Jahre mit einem ihrer berühmtesten Vertreter nun endgültig ihr Ende gefunden hatten.

 

           

    

 

 

Donnerstag, 6. Februar 2014

Schwedin des Tages: Lotta Schelin.



Der erste offizielle europäische Fußball-Europameister war – Schweden. Es war im Jahr 1984, als man das erste Mal einen kontinentalen Titel für Frauen austrug, zu dieser Zeit waren die Skandinavierinnen dem Rest Europas in dieser Disziplin noch um einiges voraus. Von den deutschen Damen vielleicht abgesehen, waren die Schwedinnen und Norwegerinnen eindeutig favorisiert und so trug man unter Trainer Ulf Lyfors den Sieg davon.

Die schwedische Nationalmannschaft konnte zwar seither keinen Titel mehr gewinnen, zählt aber noch immer zu den besten Europas (neben dem tonangebenden Deutschland und mit dem in etwa gleichwertigen Frankreich) – und damit auch der Welt, die im Frauenfußball weiterhin von der USA regiert wird; die Japanerinnen konnten aufschließen, während die guten Zeiten der Spielerinnen aus Brasilien, wie einst der nachbarlichen Konkurrenz aus Norwegen, vorüber oder zumindest derzeit in die Ferne gerückt scheinen. 

Einen Titel im Nationaltrikot konnte demnach auch die am 27.Fenruar 1984 in der Hauptstadt Stockholm geborene Lotta (eigentlich Charlotta Eva) Schelin noch nicht feiern, obwohl mancher Titel schon greifbar in die Nähe gerückt war. Während der WM in Deutschland erreichte sie immerhin Platz drei (hinter Weltmeister Japan und den USA), bei Olympia 2012 in London verlor man das Viertelfinale und bei der Europameisterschaft im heimischen Schweden reichte es – „nur“ aus Sicht der ambitionierten Equipe – für das Halbfinale, in dem die Mannschaft den späteren deutschen Europameisterinnen unterlag. Dabei hatte man mit der charismatischen Trainerin Pia Sundhage, die einst zur erfolgreichen schwedischen Mannschaft des Jahres 1984 gehörte, die Goldmedaillengarantin der USA verpflichtet, die ihre erfahrene Stürmerin Lotta Schelin zur Kapitänin ernannte. Ebenfalls ein Trost für die Spielerin mit der Nummer 8 auf dem Trikot: mit fünf Toren wurde sie Torschützenkönigin des Turniers. 

Lotta Schelin nach dem gewonnenen CL-Finale in München 2012
(c) B.Grimmler
 
Eine Titelsammlerin ist die Mittelstürmerin aber trotzdem, dank ihres Vereins, Olympique Lyon, für den sie seit 2008 aufläuft. Nacheinander gewann sie mit ihren Vereinskameradinnen jede französische Meisterschaft (insgesamt fünf seit 2009), zweimal den nationalen Pokal (2012 und 2013) und, international am bedeutendsten, zweimal die Champions League. Viermal hat sie mit Lyon das Finale des prestigeträchtigen Wettbewerbs erreicht, 2011 und 2012 errang man den Titel.

Obwohl die schwedische Liga neben der deutschen mit die professionellste in Europa ist, wandern viele Schwedinnen über die Ostsee aus, um bei den großen deutschen, britischen oder eben französischen Clubs zu spielen. So trifft Lotta Schelin, die diesen Weg vom Göteborger FC kommend selbst einst ging, inzwischen in der französischen Liga D1 auf ihre Stürmerkolleginnen aus der Nationalmannschaft Josefine Öqvist (Montpellier) und Kosovare Asllani (Paris Saint-Germain).

In Lyon ist Lotta Schelin für gewöhnlich unter dem gestrengen Regiment des Patrice Lair gesetzt – allein dies eine Auszeichnung. Noch dazu, wenn man das hohe Niveau des Starensembles mit seiner Konkurrenz betrachtet. Ihre Bilanzen sprechen allerdings für sich. Eher grazil und alles andere als bullig, bringt sie mit ihren 1,78m Gardemaß für eine Mittelstürmerin mit (zum Vergleich: die beiden weltbesten Torhüterinnen Nadine Angerer und Hope Solo sind jeweils nur 1,75m groß). Dass sie 2013 Torschützenkönigin der D1 wurde, überrascht kaum, wenn man ihre Quote betrachtet: in mittlerweile gut 150 Pflichtspielen für Lyon hat sie ebenso oft getroffen.   

Bei den Fans erfreut sich die freundliche und fröhliche Schwedin ohnehin großer Bewunderung und Beliebtheit, auf dem Platz naturgemäß aufgrund ihrer vielen Tore, neben dem Platz wegen ihres zuvorkommenden Auftretens. Den Preis als Fußballerin des Jahres ihres an guten Fußballerinen wie erwähnt nicht armen Landes hat sie ebenfalls des öfteren mit nach Hause nehmen dürfen. Er trägt den schönen Namen Diamantbollen 

Das nächste Spiel der Schwedinnen ist übrigens gegen – natürlich, Frankreich. Dann, am 8.Februar, trifft Lotta Schelin die meisten ihrer Vereinskameradinnen wieder: im Trikot der Équipe Tricolore in der gegnerischen Spielhälfte. 
P.S. Aktuell sieht es leider danach aus, als könnte Lotta Schelin das Spiel mit der Nationalmannschaft gegen ihre Vereinskolleginnen verletzungsbedingt nicht bestreiten - gute Besserung!

 

 

Mittwoch, 5. Februar 2014

Schweden des Tages: "The Cardigans".


The Cardigans 

Dass Schweden zu den führenden Nationen gehört, was den Export von Musik angeht (nach den USA und Großbritannien), wurde bereits erwähnt. Vermutlich ist es sogar führend in dieser Hinsicht unter den nicht-englischsprachigen Nationen. Fast jedes Jahrzehnt wurde auch von einer schwedischen Gruppe geprägt, die Siebziger natürlich von ABBA, die Achtziger von Roxette, die Neunziger von Ace of Base, die 2000er Jahre von Mando Diao oder The Hives – und da sind viele mehr, die zeitgleich erfolgreich waren und sind und manche, von denen kaum jemand ahnt, dass es sich um Schweden handelt. 
 

ABBA, an Bekanntheitsgrad und noch immer andauernder Popularität nur von wenigen übertroffen, zählen ganz sicher nicht zu den Vorbildern der Cardigans, im Gegenteil, deren Frontfrau Nina Persson äußerte sich gelegentlich vorsichtig formuliert eher wenig ehrerbietig gegenüber ihren Landsleuten. Kein Wunder, musikalisch ist man dann doch etwas weit auseinander, noch mehr aber, was die Texte angeht.
 

The Cardigans wurden einst recht berühmt durch einen Soundtrack zu einer Neuverfilmung von Romeo und Julia, ihr bereits vorher herausgebrachtes Lied „Lovefool“ ging – mit neuem Video – hinauf in Charthöhen, die für diese Band eher untypisch waren. Für ein für diese Band, wie das eben so oft ist, auch eher untypisches Lied. Recht brav und radiotauglich kam es daher, Nina Persson als personifiziertes blondes Schwedenmädchen kullerte schön die Augen auf den Bildschirmen von MTV und Co. Nur wer genau hinhörte, konnte das dann doch wieder sehr charakteristische an ironischen Brechungen im Text heraushören – und wer andere Videos und Auftritte von Nina Persson kennt, wird sie kaum für ein süßes Mädel aus dem Norden halten. 

Ein schönes Beispiel für die Selbstironie, welche die Band gerne zelebriert, sind die Videos zu Erase/Rewind und insbesondere My Favourite Game, beide gehören noch zu den bekannteren. Das eigentlich bewundernswerte der musikalisch schwer einzuordnenden Gruppe sind die teils sehr komplexen, sehr zeitgenössisch desillusionierten Texte, die trotzdem einen Verfall in die Verzweiflung ablehnen. Am besten ausgedrückt wird dies durch ein sehr kurzes Stück – quasi ein gesungener Aphorismus, der den Hintergrund für diese Philosophie des „fatalistischen Selbstbewusstseins“ prägnant zusammenfasst:
 
Do you really think/ that love is gonna save the world?
Well I don’t think so/ I just don’t think so
Do you really think/ that love is gonna save your soul?
Well I sure hope so/ I really really hope so
But I don’t think so
 
Was unter dem Begriff eines fatalistischen Selbstbewusstseins, eines Bewusstseins, das sich wider besseres Wissen nicht unterkriegen lässt (ein leicht zu erkennender Rückgriff auf einen übertragenen Existentialismus) – schlichter ausgedrückt, das Leben ist ohne Zweifel ziemlich beschissen, aber das ist noch lange kein Grund, zu resignieren und sich nicht zu wehren, so aussichtslos das ist. Was also darunter zu verstehen ist, wird des öfteren in den Texten nur zu deutlich – so in A Good Horse: 
 
These are the promises I can keep
To live like I must
And ride with the dust in my face
In grace
I found myself a good horse
Yeah, I found myself a good horse
But things remained no different than before... 
 
Oder in Live and Learn: 
 
Well you get what you give
And hell yes I lived
But if you live as you learn
I don’t think I'd be learned
Oh with the sun in my eyes
Surprise, I’m living a life
But I don’t seem to learn
No I don’t think I can learn

Und so reicht die Bandbreite der Cardigans von bitteren Anklagen, bösartig Abgründigem (die Texte von And Then You kissed Me I&II sollte man sich sehr, sehr genau anhören!) bis hin zu fröhlichen Absagen – und zahlreichen komödiantischen Elementen, um über die bösen Launen des Lebens hinwegzukommen (Parodien in Text und Musik von Klassikern gehören zum üblichen Repertoire, siehe u.a. Sabbath Bloody Sabbath). Vielleicht auch einer der Gründe, warum sich die Gruppe so schlecht einordnen lässt und somit stets unter „Indie-Irgendwas“ abgehandelt wird. Nicht-Klassifizierbarkeit ist schließlich oft ein Qualitätszeichen.
 
Nach der Gründung 1992 veröffentlichten die Cardigans ab 1994 Emmerdale, First Band on the Moon (1996), Gran Turismo (1998) und nach einiger Pause Long Gone Before Daylight (2003) sowie Super Extra Gravity (2005). Auf eine klug ausgesuchte Compilation mit den Singles, aber auch raren B-Sides im Jahr 2008 verfolgten die einzelnen Bandmitglieder oftmals Solo-Projekte. So veröffentlichte Nina Persson kürzlichst ihr Album Animal Heart. Auf weitere gemeinsame Alben wäre trotzdem zu hoffen. Dringend. 
 
Die Besetzung der Cardigans:
Nina Persson: Vocals
Peter Svensson: Guitar
Magnus Sveningsson: Bass
Lars Olof Johansson: Keyboards
Bengt Lagerberg: Drums

Homepage: http://www.cardigans.com/?sid=default&bfs=1

 
  
 
 

            
 
   
 
 

Dienstag, 4. Februar 2014

Schwede des Tages: August Strindberg.


 
Der, zumindest in der allgemeinen Wahrnehmung, bekannteste schwedische Exportartikel auf  dem Gebiet der Literatur ist sicherlich – der Nobelpreis. Die Frage, ob es dies für Autoren und Autorinnen des Landes einfacher oder schwieriger macht, ihn zu bekommen, wird gern diskutiert, ist jedoch recht müßig. In jedem Fall beeindruckt die lange Liste (acht Geehrte, siehe unten) an Gekürten, die das an Einwohnern nicht gerade große Land bislang hervorgebracht hat und die mit den großen europäischen Kulturnationen mithalten kann. Vielleicht daher der Verdacht allzu großer Nähe des Komitees, der allerdings ignoriert, wie produktiv das Land generell auf kulturellem Gebiet ist. So gesehen ist die große Repräsentanz mehr als gerechtfertigt (nebenbei haben durchaus auch andere kleinere Länder, wie etwa Irland, eine Vielzahl von Künstlern und insbesondere Dichtern – und  Literaturnobelpreisträgern – vorzuweisen). 

Gleichwohl – das gutbürgerliche Komitee mag zwar den ein oder anderen Außenseiter lieben, die exzentrischen Nonkonformisten dagegen finden eher wenig Anklang, weshalb so manch großer Kopf der Literatur nie seinen Weg in die engere Auswahl der Ausgezeichneten gefunden hat. Kurioserweise fehlt somit der unzweifelhaft größte Schriftsteller, den Schweden bislang hervorgebracht hat: August Strindberg. 

Müsste man einen kurzzeiligen Lexikonartikel in nüchtern-sachlichem Ton über Strindberg verfassen, klänge dies wohl ungefähr so:
Johann August Strindberg, geb. 22.Januar 1849 in Stockholm, gest. 14.Mai 1912 ebenda. Bedeutendster Dramatiker Schwedens (u.a. Fräulein Julie, Nach Damaskus, Totentanz, Gespenstersonate), dazu einflussreiche Prosawerke (Das Rote Zimmer, Am offenen Meer, Inferno), außerdem Lyrik, naturwissenschaftliche Werke, Versuche auf dem Gebiet der Malerei und der Photographie. Verursachte mehrere politische und literarische Skandale. Langjährige Auslandsaufenthalte (Frankreich, Schweiz, Deutschland, Dänemark). Strindberg war dreimal verheiratet, aus den Verbindungen gingen fünf Kinder hervor. Anfangs Vertreter des Naturalismus, wandelte sich Strindbergs Stil zunehmend zu einer eigenständigen Form, die Elemente des Realismus, Symbolismus und des frühen Expressionismus vermischte.  
 
Die Altstadtinsel Riddarholmen - Geburtsort Strindbergs
(c) Detlef Menzel - Pixelio.de
 

Soweit, so gut. Verkehrt sind diese puren Fakten nicht, doch verbergen sie das Wesen Strindbergs, des letzten Universalgenies Europas, wie er – zurecht – genannt wurde und für das er sich sicher selbst hielt. Er war sowenig einzuordnen wie seine Literatur nach der Abkehr vom Naturalismus. Er liebte seine Heimat Schweden und insbesondere die Schären, und verfasste Werke, darunter zahlreiche journalistische Artikel, die Land und Bevölkerung beschimpften, so dass er ins Ausland floh, um der Häme und dem Hass zu entgehen. Er verfasste zahlreiche Dramen über die schwedische Geschichte, doch verachtete das Königshaus – was auf Gegenseitigkeit beruhte. Er inszenierte sich stets als Mann der unteren Klassen, kämpfte auf Seiten der Bauern und Industriearbeiter, beschrieb das Leben der französischen Landleute und des einfachen schwedischen Lebens in zukunftsweisenden kulturgeschichtlichen Werken – und vertrat eine Philosophie des Geistesaristokratismus, zeitweise der rassischen Überlegenheit, hatte Sehnsucht nach einem elitären Intellektuellen-Adel und der Uniform. Er ging als einer der großen Frauenhasser schon zu Lebzeiten in die Geschichte ein, heiratete dreimal, um sich mit seinen Frauen, oft schon nach kürzester Zeit (die erste Ehe hielt etwas länger), aufs Böseste zu überwerfen – da er diese privaten Streitig- und Schwierigkeiten stets überhöhte und verallgemeinerte, wurde er dem Ruf des misogynen Frauenverächters, den er stets nach außenhin noch befeuerte, nur zu gerecht, obwohl er von den Frauen nie ließ und etwa seinen Kindern durchaus ein guter Vater war. Wer noch heute als sein Freund, von ihm verehrt oder als Lehrmeister betrachtet worden war, den konnte er schon morgen aufs Tiefste verdammen und in aller Öffentlichkeit beschimpfen – und sich auch wieder mit ihm versöhnen. Religiös im pietistischen Protestantismus erzogen, verfolgte er die Religion später mit Hohn und Spott, wandte sich dem Okkulten und, sehr beliebt in jenen Tagen, dem Satanismus zu, nur um später eine eigene Form der katholisierenden Religiosität zu entwickeln, in der er so etwas wie sein eigener Gott wurde. Er schrieb erstaunlich moderne Texte etwa über die Photographie und war ein reichlich unterschätzter Maler, aber er glaubte, er müsse gleichzeitig die Naturwissenschaften revolutionieren und entwickelte bizarrste Theorien, die ihn in der Wissenschaft der Lächerlichkeit preisgaben. 

Dies könnte man noch weiter ausführen, doch man ahnt das Schema: Hier liegt das Genie fast in seiner populärsten Form vor. Seiner Zeit weit voraus, unglaublich produktiv, „menschlich schwierig“, um es sehr nett auszudrücken, und doch seine Umgebung und erst recht die Nachwelt faszinierend. 
Hätte man gerne ein Bierchen am Abend mit ihm trinken wollen? Nun, vorausgesetzt er hätte nicht gerade eine seiner abstinenten Phasen gehabt – denen, natürlich!, Phasen exzessiven Alkoholkonsums gegenüberstanden –, hat er gerade bayerisches Bier sehr zu schätzen gewusst und unzweifelhaft war er jemand, der unterhaltsam und spannend einiges zu erzählen gehabt hätte. Dabei macht es dann wohl nicht einmal einen Unterschied, ob man nun männlichen oder weiblichen Geschlechtes wäre, damit rechnen, dass er es einem später heimzahlen würde, wen man irgendwie sein Misstrauen erregt hätte, müsste man so oder so. Es ginge einem wohl so wie seinen Landsleuten mit ihm als er noch lebte: man hätte es nicht allzu leicht. Am Ende seines Lebens aber liebten ihn viele Schweden und vor allem die Sozialdemokraten, sie ehrten ihn zu seinen Geburtstagen mit riesigen Aufmärschen und machten seine Trauerfeier zu einem rotem Flaggenmeer.  

Sein Leben war stilisierte Kunst und er stilisierte in seiner Kunst sein Leben, auf eine radikale Art und in so bahnbrechender Form, das nichts von ihrer Kraft und Ausstrahlung verloren ging – es ist ein großes Kompliment, wenn sein Biograph Rüdiger Bernhardt über sein Werk schreibt: „Strindberg eignet sich bis auf den heutigen Tag nicht für Schul- und Lesebücher.“ 
 

Die schwedischen Literaturnobelpreisträger und –Trägerinnen: 

Selma Lagerlöf 1909
Verner von Heidenstam 1916
Erik Axel Karlfeldt 1931
Pär Lagerkvist 1951
Nelly Sachs (die gebürtige Deutsche war nach Schweden emigriert) 1966
Eyvind Johnson und Harry Martinson 1974
Tomas Tranströmer 2011